Günther Zechberger
Original, Kopie und Interpretation.



Das lästige Ziehen der Notenlinien überflüssig machen. Als Rosseau auf die Idee kam, die Tonleiter durch ein Zahlensystem zu bezeichnen, dachte er sicher daran, war er doch viele Jahre gezwungen, seinen Lebensunterhalt durch das Kopieren von Noten zu verdienen: "Man sieht, ich hatte für einen Notenabschreiber, der von morgens bis abends hätte über seiner Arbeit sitzen müssen, gar vielerlei Ablenkungen, die meinen Tag nicht sehr ertragreich machten und mich außerdem noch daran hinderten, so aufmerksam zu sein, wie es zur guten Erledigung meines Geschäfts nötig gewesen wäre; außerdem verlor ich mit dem Verbessern und Ausradieren meiner Fehler oder gar mit dem Vonvornanfangen mehr als die Hälfte der Zeit, die man mir ließ." Den entscheidenden Vorteil einer Zahlennotation sah Rousseau allerdings in der Möglichkeit, jedes Musikstück mit größter Genauigkeit aufzuzeichnen. Mit Sicherheit hätte sich die Musikgeschichte anders entwickelt, hätte sich seine Zahlennotation behauptet. Kopieren wird verächtlich als "abschreiben" bezeichnet. Kopieren setzt nicht nur Konzentration voraus. Es gilt zu deuten, jenem Schnörkel Sinn zugestehen, jenen dagegen als bedeutungslos erkennen. Man denke an die Mühen des Studenten Anselmus im Gewächshaus des Archivarius Lindhorst. Und an das Original in arabischer Schrift und folgenschwere Tintenkleckse.

"Wie die Hahnenfüße in meine schöne englische Kursivschrift gekommen, mag Gott und der Archivarius Lindhorst wissen", sprach Anselmus, "aber daß sie nicht von meiner Hand sind, darauf will ich sterben." - Mit jedem Worte, das nun wohlgelungen auf dem Pergamente stand, wuchs sein Mut und mit ihm seine Geschicklichkeit. In der Tat schrieb es sich mit den Federn auch ganz herrlich, und die geheimnisvolle Tinte floß rabenschwarz und gefügig auf das blendend weiße Pergament. Als er nun so emsig und mit angestrengter Aufmerksamkeit arbeitete, wurde es ihm immer heimlicher in dem einsamen Zimmer, und er hatte sich schon ganz in das Geschäft, welches er glücklich zu vollenden hoffte, geschickt, als auf den Schlag drei Uhr ihn der Archivarius in das Nebenzimmer zu dem wohlbereiteten Mittagsmahl rief.
E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf




Kopieren ist auch immer Interpretation, ein Dazwischentreten, ein Akt der Vermittlung. Wer kopiert, der muss letztlich auch Interpret sein, die Zeichen zu deuten wissen, nicht viel anders als jene, die Bratsche, Klavier oder Stimme zum Ausdruck bringen. Zweifellos hätte die Zahlennotation das Kopieren erleichtert; aber der Kopierende wäre wie jeder Musiker zu einem Automaten herabgwürdigt worden, der trotz aller Fingerfertigkeit und Übung exakt das zu reproduzieren hätte, was die Notenschrift vorgibt. Der begnadete Dilettant Rousseau übersah ganz einfach, dass die traditionelle Notation, die sich innerhalb von tausend Jahren herausgebildet hat, die perfekteste Notation darstellt. Rameau erkannte zwar an, dass sich ein Musikstück mit einer Zahlennotation exakter aufzeichnen ließe, verwies aber gleichzeitig auf deren entscheidende Schwäche. Beim Lesen von Zahlen könne man nicht vorausschauen, man müsse eine nach der anderen mühsam ablesen, bei der herkömmlichen Notenschrift habe der Musiker dagegen längere Sequenzen im Auge. Rameau plädierte also für eine graphische Notation, ohne jedoch die geringste Vorstellung zu haben, was man zweihundert Jahre später unter einer "graphischen Notation" verstehen sollte. Schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gab es Ansätze zu einer modernen graphischen Notation, die sich deshalb entwickeln sollte, weil die herkömmliche Notenschrift zu präzise war, um Unschärfen und Zwischenräume abzubilden.

Endlich trat Ottilien herein, glänzend von Liebenswürdigkeit. Das Gefühl, etwas für den Freund getan zu haben, hatte ihr ganzes Wesen über sich selbst gehoben. Sie legte das Original und die Abschrift vor Eduard auf den Tisch. "Wollen wir kollationieren?" sagte sie lächelnd. Eduard wußte nicht, was er erwidern sollte. Er sah sie an, er besah die Abschrift. Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben, dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden; aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen überlief! "Um Gottes willen!" rief er aus, "was ist das? Das ist meine Hand!" Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter, besonders der Schluß war ganz, als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: "Du liebst mich!" rief er aus, "Ottilie, du liebst mich!" und sie hielten einander umfaßt.
Goethe, Wahlverwandtschaften




"Die neuere Musikgeschichte kennt viele Beispiele von Notationen, die sich weit von der herkömmlichen Notenschrift entfernt haben. Man denke etwa an John Cage, Earle Brown oder Dick Higgins, der Notenpapier besprühte oder auch mit Schrotkugeln beschoss. Viele der so entstandenen Notenblätter lassen sich verständlicherweise nur schwer spielen." "Wenn man Zeichen erfindet oder entwirft, die für ein ganz bestimmtes musikalisches Verhalten möglichst klare Anweisungen geben oder bestimmte Klangfarben exakt bezeichnen, dann gibt es das Problem, dass man mehrere Seiten für Zeichenerklärungen braucht. Musiker müssen sich diese mühsam erarbeiten."
"In die graphische Notation schleichen sich auch individuelle Zeichen des Komponisten ein."
"Das ist die Tücke an der ganzen Geschichte. Man ist oft sehr selbstverliebt, wenn man ein wunderschönes graphisches Zeichen erfunden hat. Das ist oft für einen anderen nicht lesbar; d.h. man benötigt wieder die Interpretation des Komponisten."

War Anselmus schon vor dem Essen das Kopieren der arabischen Zeichen geglückt, so ging die Arbeit jetzt noch viel besser vonstatten, ja er konnte selbst die Schnelle und Leichtigkeit nicht begreifen, womit er die krausen Züge der fremden Schrift nachzumalen vermochte. - Aber es war, als flüstre aus dem innersten Gemüte eine Stimme in vernehmlichen Worten: "Ach! könntest du denn das vollbringen, wenn du sie nicht in Sinn und Gedanken trügest, wenn du nicht an sie, an ihre Liebe glaubtest?" - Da wehte es wie in leisen, leisen, lispelnden Kristallklängen durch das Zimmer: "Ich bin dir nahe - nahe - nahe! - ich helfe dir - sei mutig - sei standhaft, lieber Anselmus! - ich mühe mich mit dir, damit du mein werdest!" Und sowie er voll innern Entzückens die Töne vernahm, wurden ihm immer verständlicher die unbekannten Zeichen - er durfte kaum mehr hineinblicken in das Original ja es war, als stünden schon wie in blasser Schrift die Zeichen auf dem Pergament, und er dürfe sie nur mit geübter Hand schwarz überziehen.
E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf


"Wir wissen aus der Aufführung historischer Musik, dass sich selbst in der präzisen herkömmlichen Notenschrift, mit der sich Tonhöhe und die Verhältnisse von Zeitelementen exakt angeben lassen, das Tempo nicht genau bestimmen lässt. Die relative Dauer ist klar definiert, die absolute dagegen nicht, weil sie vom Tempo abhängig ist. Eine halbe Note hat keine Dauer, sie kann erst eine Dauer haben, wenn das Tempo festgelegt ist. Da beginnt die Bandbreite der Interpretation, und ich denke mir, hoffentlich auch die der Abweichung von den Vorgaben. Phrasierungstechnik, Dynamik, Klangfarbe. Ich denke bei jeder Komposition an eine Kopie. Mit einem Original hätten wir es dann zu tun, wenn man sagen könnte, das Werk sei die einzig mögliche Art, das so zu machen. Ich lebe mit der Vorstellung, dass ich mir sage, auch das Original könnte anders sein. Also lebe ich dummerweise von der Idee, dass ich ohnehin nur Kopien produziere, eine von mehreren Möglichkeiten des Niederschreibens. Aber dies zwingt mich auch nicht länger, Musiker zu einer rigiden Präzision anzuhalten. Im Gegenteil, ich freue mich sehr darauf zu sehen wie Musiker eine bestimmte Komposition erarbeiten. Es wird eine von vielen möglichen Wahrheiten sein. Da beginnen sich Original und Kopie zu verwischen. Im Ideal sind sehr unterschiedliche Aufführungen ein und desselben Werkes denkbar, ohne dass man sagen könnte, diese Aufführung wäre besser oder schlechter als eine andere."
"Die ideale Kopie findet sich heute in der CD. Die Maschine interpretiert nicht, die Daten nützen sich nicht ab, kein Rauschen kommt hinzu, welches auf die Benützungsgeschichte verwiese. Original und Kopie sind austauschbar. Hier wird die Kopie zu einer Konserve. Ironischerweise hat sich hier Rousseaus Zahlennotation in geradezu perfekter Weise behauptet."
"Das Abspielen einer CD ist genaugenommen auch kein musikalisches Ereignis, weil sie auf eine Zeit verweist, die bereits Vergangenheit ist. Und es gehen ganz wesentliche Elemente der Musik verloren. Musik war nie auf bloßes Hören beschränkt. Wer eine Aufführung besucht, achtet auch darauf, was körpersprachlich, durch feinmotorische Virtuosität oder ähnliches vermittelt wird."
"Wo findet sich nun das Original? Wo findet es sich, wenn Ottilien Eduards Handschrift so gut nachzuahmen weiß, dass er ihre Handschrift als seine erkennt? Mehr noch, Goethe führt das Spiel so weit, dass er die Kopie über das Original stellt. Lucianes Zöpfe, die Form ihres Kopfes, ihre Taille, der Faltenwurf."
"Solange ich an einer Partitur arbeite, gehört das Werk mir allein. Das heißt, ich kann es mir erlauben, es so zu hören wie ich es will. Es gibt aus der Sicht des Komponisten zwei große Unsicherheitsfaktoren, die man nicht kontrollieren kann und auch nicht kontrollieren sollte. Der erste ist der Musiker. Auch wenn er es so spielt, dass es einem gefällt, fließt eigenes von Seiten des Musikers ein. Es ist Interpretation. Der größte Unsicherheitsfaktor ist der Hörer selbst. Auch wenn es ein Musikstück von mir ist, so gehört es doch dem Hörer in dem Augenblick, in dem er es hört. Ich habe keine Kontrolle darüber, ob das, was ein Zuhörer hört, überhaupt noch deckungsgleich mit dem ist, was ich mir gedacht habe. Was Original und Kopie anlangt, könnte man sagen, die Aufführung ist ein gemeinsames Produkt und folglich - wenn auch ein temporäres Ereignis - als das Orginal zu sehen. Dann habe ich ein wirkliches Wechselspiel, nicht andere, die von mir Ideen umzusetzen haben, präzise, folgsam, gehorsam, untertänig."

Bei dieser Gelegenheit nun sollte Luciane in ihrem höchsten Glanze erscheinen. Ihre Zöpfe, die Form ihres Kopfes, Hals und Nacken waren über alle Begriffe schön, und die Taille, von der bei den modernen antikisierenden Bekleidungen der Frauenzimmer wenig sichtbar wird, höchst zierlich, schlank und leicht, zeigte sich an ihr in dem älteren Kostüm äußerst vorteilhaft; und der Architekt hatte gesorgt, die reichen Falten des weißen Atlasses mit der künstlichsten Natur zu legen, sodaß ganz ohne Frage diese lebendige Nachbildung weit über jenes Originalbildnis hinausreichte und ein allgemeines Entzücken erregte.
Goethe, Wahlverwandtschaften




Speisefolge:
- Regionale Käsesorten, Weißwein, Weißbrot
- Lammhoden in Butter mit Petersilie, Weißwein
- Rindsschulter in Tomatensauce
- Jahreszeitliche Salate
- Rhabarberkompott mit gebackenen Holunderblüten

Duftnoten:
Heckenrosen, Pfingstrosen, Holunder, Zitronenmelisse

Angelika Hensler: Kontrabassblockflöte
Christine Roner / Christian Kuen: Dokumentation
Ruth und Bernhard Kathan: Küche

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