Johann Tschalleners Krankenbettstatt Nro. II




Im Jahr 1842 beschrieb der Arzt und Direktor der "k.k. Provinzial-Irren-Heilanstalt zu Hall in Tirol" Johann Tschallener (1783-1855), er war u.a. auch Mitglied des Ferdinandeums in Innsbruck, Zellen zur Absonderung tobsüchtiger Irrer. Dabei ging er von folgenden Überlegungen aus: "Der Irre soll jeden Augenblick in der Gewalt seines Wärters seyn, ohne daß dieser genöthiget ist, mit jenem, wie es bei den gewöhnlichen Irrenzimmern leider nur zu oft mit wechselseitiger Erbitterung und selbst Gefahr der Fall ist, handgemein werden zu müssen. Die Verfinsterung ist bei tobenden Kranken ein um so sicheres Mittel, ihre Wuthanfälle abzukürzen, je schneller und je vollständiger sie ohne alle dem Kranken angethanene Gewalt zu Stande gebracht wird. Je weniger bewegliche oder zerstörbare oder hell tönende Gegenstände der Tobende zu seiner Disposition hat, desto weniger Stoff findet er, seine Wuth anzufachen; jedes krumme Hölzchen reicht oft hin, einen Irren in Wuth zu bringen, und wochenlange darin zu erhalten. Je schneller und unvermutheter sich der Irre, besonders der Onanist, was der Tobende und Blöde meistens ist, in seiner ganzen Gestalt vor seinem Wärter bloß gestellt weiß, desto mehr nimmt er sich in Acht. Je mehr der Tobende in den Hintergrund gesetzet, und in Zeit und Raum beschränkt ist, desto mehr fühlt er seine Ohnmacht, und diese totale Ohnmacht recht lebhaft zu fühlen, ist vorzüglich bei Tobenden eine Conditio sine qua non."

Um jeden nicht unbedingt nötigen Kontakt, möglichst jede Berührung mit dem Kranken zu vermeiden, dachte sich Tschallener eine entsprechende Raumanordnung aus, eine Zelle, einen "Verschlag", in dem sich abgesehen von einem fest verankerten und an der oberen Kante abgerundeten Holzblock, der dem Kranken zum Sitzen dient, nichts befindet. Licht fällt einzig durch eine Oberlichte wie eine auf den Gang weisende Öffnung. Die beiden mit Läden versehenen Öffnungen lassen sich vom Wärterzimmer aus dank einer mechanischen Vorrichtung jederzeit öffnen oder schließen, "ohne daß es der Kranke bemerkte oder zu verhindern im Stande wäre". Sollte der Kranke schreien, dann werden sie, damit kein Laut nach außen dringe, geschlossen, womit er sich von einem Augenblick auf den anderen in eine totale Finsternis versetzt sieht. Wird der auf den Gang weisende Laden unvermutet wieder geöffnet, dann sieht sich der "Kranke in seiner ganzen Gestalt vor Augen" gestellt, da es keinen Winkel gibt, wo er sich verbergen könnte, "was in Betreff der Onanisten sehr wesentlich" sei. Jederzeit muss sich der Kranke beobachtet wissen, wozu auch ein Quereinschnitt in der Tür, der sich durch einen Schieber öffnen und verschließen lässt, dient. Im Inneren der Zelle, etwa einen Meter von der Flügeltür entfernt, ist eine Trennwand aus eng nebeneinander stehenden, im Boden und der Decke fest verankerten Stangen eingefügt, die an einen Käfig in einem Zoo denken lässt. Um es dem Kranken zu verunmöglichen, auch nur irgend etwas daran zu befestigen, verjüngen sich die Stangen von oben nach unten. Er kann sich also daran nicht erhängen. Nahrung und Getränke werden dem Kranken durch die Gitterstäbe gereicht. Ein in die Stangen eingefügter Leibstuhl lässt sich ohne jeden Kontakt mit dem Kranken leeren. Nur wenn es besondere Umstände erfordern, hat der Wärter durch die Staketentür den Käfig zu betreten.

Tschalleners Trachten war ganz auf Kontrolle und Beherrschung gerichtet. All den Nöten der Kranken, all ihren beredten Äußerungen brachte er wenig Verständnis entgegen. Bedauerlicherweise sind keine Berichte von Kranken über ihre Erfahrungen in Tschalleners Tobsuchtzellen erhalten geblieben. Klagen gab es gewiss viele, sei es dem Personal, Beichtvätern, Besuchern oder Angehörigen gegenüber, aber Äußerungen von Kranken über ihre Behandlung waren nicht ernst zu nehmen, woran sich übrigens bis heute nur wenig geändert hat. Eine Vorstellung können uns Daniel Paul Schrebers Beschreibungen geben, wurde er doch über lange Zeit nachts in eine recht ähnliche Tobsuchtzelle gesperrt, hat er doch Verdunkelung wie anderes unmittelbar erfahren. Schreber (1842-1911) gelang es gegen alle Widerstände, seine in diversen Nervenheilanstalten gemachten Erfahrungen als "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" zu veröffentlichen. Tschalleners Tobsuchtzellen lassen mehr an ein Gefängnis als an ein Krankenhaus denken. Zwar waren in der Haller Irrenanstalt auch Kranke untergebracht, die als gefährlich galten, doch dienten die Isolierzellen in erster Linie der Disziplinierung. Auffallenderweise vermochte Tschallener nicht zu sehen, dass sich die vielen Tobsuchtanfälle, das viele Onanieren, das Zerreißen und Zerbeißen von Kleidern oder Bettzeug, das Kotschmieren und Kotessen wie viele Formen von Selbstverletzung und andere Auffälligkeiten vor allem der Unterbringung und den angewandten Behandlungsmethoden verdankten - man stelle sich nur vor, tagelang ohne Möglichkeit einer Beschäftigung, abgeschirmt von anderen Menschen, in einer Zelle eingesperrt zu sein. Nicht unerwähnt sei, dass Zellen für Tobsüchtige allemal besser waren als Zwangsstühle und Zwangsjacken, hatten diese doch noch verheerendere Folgen, angefangen von Brandwunden, verursacht durch ständiges Zerren und Reiben, bis hin zu verkürzten Sehnen und Verkrüppelungen, die die Betroffenen ein Leben lang zeichneten.

Tschalleners Leidenschaft galt den von ihm entwickelten Apparaturen, nicht den Kranken. Er konnte sich mit dem optimalen Nachtgeschirr beschäftigen oder mit größter Hingabe kleinste technische Details einer ausbruchsicheren Verriegelung (E.A. Poe lässt grüßen) beschreiben. Unter anderem erfand er eine Schwebematte. Das Modell schenkte er dem Ferdinandeum. Zu seinen Erfindungen zählt nicht zuletzt die von ihm 1845 entworfene "Krankenbettstatt Nro. II". Man mag sich diese als eine aus Stangen, Gurten, Seilen, Schnappfedern, Haken, Eisenschienen, Schrauben, Schraubenmuttern, Bolzen, Walzen, Rollen und Kurbeln bestehende Apparatur vorstellen, die es erlaubt, selbst "eine ganz blöde, in höchstem Grade unreinliche und über 2 Zentner schwere Kranke" in die gewünschte Position zu bringen, ohne die Wärterinnen dem Risiko auszusetzen, "sich zum Krippel zu heben". Tschallener war davon beseelt, jeden unmittelbaren Kontakt mit dem Kranken auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Das gilt für seine Tobsuchtzelle ebenso wie für die "Krankenbettstatt Nro. II". Nichts könnte dies deutlicher machen als all die Kurbeln, mit denen an anderen Stellen diese oder jene Wirkung erzielt werden sollte. Das den Isolierzellen zugeordnete Wärterzimmer lässt an ein Bahnwärterhäuschen denken, von dem aus mit Hilfe von Hebeln und Kurbeln Weichen und Signale gestellt, Bahnschranken geöffnet oder geschlossen werden. Da wie dort haben wir es mit Fernbedienung zu tun.

Tschalleners detailreiche Beschreibung seiner Bettstatt liest sich so verwirrend, dass kein Mensch diese nach seinen Anleitungen und Plänen anzufertigen vermöchte. Man verliert sich geradezu in den von ihm genannten Bolzen, Stiften, Schnürlöchern und Gurten. Konstruktion und Schreibweise ließen, wüsste man nicht um seine Stellung als Direktor, eher die Produktion eines Insassen vermuten wie denn seine Apparaturen an manche von Insassen entwickelten Maschinen denken lassen. Seine "Krankenbettstatt Nro. II" scheint auch nicht weit von jener Apparatur entfernt, die Franz Kafka in seiner Erzählung "In der Strafkolonie" beschreibt. Hätte Kafka Tschalleners Beschreibungen gekannt, gewiss hätte er sie mit größtem Interesse gelesen.

Mag Tschalleners "Krankenbettstatt Nro. II." auch nie praktisch zur Anwendung gekommen sein, so nahm sie doch vielfältigste Apparaturen der modernen Medizin vorweg, Apparaturen, die den Kranken zu einem stummen Geschöpf machen, das von Maschinen bewegt und in die jeweils gewünschte Position gebracht wird. Maschinen werden lebendig, während der Kranke möglichst passiv bleiben soll und seiner Ausdrucksfähigkeit beraubt wird. Lagerungsmaschinen haben unzweifelhaft ihren Nutzen. Sollte es etwa nicht nützlich sein, wird ein Bettlägriger sanft einmal in diese, dann in jene Richtung bewegt? Ein Zahnarzt kann einen Zahn des Oberkiefers besser behandeln, wenn der Patient mit dem Kopf nach unten liegt. Dass so eine Verständigung nahezu unmöglich wird, ist nicht einfach eine Begleiterscheinung, sondern durchaus intendiert, mag dies den behandelnden Ärzten auch nicht bewusst sein.

Tschalleners Nachfolger Josef Stolz (1811-1877) beschrieb ihn als herrschsüchtigen Charakter. Tschallener habe in den Geisteskranken "weniger körperlich Kranke, als geistig Verirrte" gesehen, die "er nach Umständen bald mit verschwenderischer Milde, bald mit der härtesten Strenge zu beherrschen und zu bessern suchte. Directer Zwang zur Umkehr zur Vernünftigkeit und mechanische Beschränkung, bis zur absichtlichen Peinlichkeit gesteigert, bildeten die practische Verirrung seiner fehlerhaften Ansichten. [...] Die Bosheit des Irren war es vorzugsweise, welche er in ihm aufspürte, und welche er um jeden Preis bekämpfte. Mechanischer Zwang und Strafe erschienen ihm als unentbehrliche Heilmittel. Er wendete sie in humaner Ansicht an, und nannte deren Beseitigung folgerichtig die falsche Humanität. In der sogenannten Verbesserung der Zwangsmittel war er unerschöpflich erfinderisch, und steigerte ihre Wirkung für den Kranken bis zur Höhe der Tortur."

Im zeitlichen Abstand verdient nicht Johann Tschallener, sondern Josef Stolz, der diesem 1854 nachfolgte, unsere Aufmerksamkeit. Stolz war ein entschiedener Gegner der Anwendung von Zwangsmitteln in der Behandlung Geisteskranker. Wer unter Tschallener die "peinliche Procedur des Kopfbrechens" mitansehen habe müssen, der sei "von Mitleid gegen den armen Kranken ergriffen" worden. Mit der erwähnten "Procedur" ist wohl die gewaltsame und oft mehrmals wiederholte Verabreichung von Brechmitteln gemeint, wodurch Kranke wieder zur Vernunft gebracht werden sollten. Penibel hat Stolz während seiner Amtszeit all die ihm dennoch nötig scheinenden Fixierungen dokumentiert. Seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass es ihm trotz interner und externer Widerstände schließlich gelungen ist, weitgehend auf Gewaltmaßnahmen zu verzichten: "Die Verteidiger des mechanischen Zwanges behaupten, dass nur der Zwangsspenser und der Zwangsstuhl allein im Stande seien, die übermässig vermehrte Muskelthätigkeit erfolgreich zu beschränken und vor Krafterschöpfung den Patienten zu schützen. Ich habe mir die Mühe gegeben, tobende Geisteskranke, theils in ihrer Beschränkung mit der Jacke, theils im Zwangsstuhl genau zu beobachten. Ich sah ihre unausgesetzten Versuche, sich des Zwangsmittels zu entledigen, ich sah ihre rastlosen Bewegungen im engen Raume; ich sah diese Beschränkten grösstentheils mit Schweiss überronnen, und fand, dass ihre Beruhigung erst mit der Erschöpfung der Kräfte eintrat."

Stolz erkannte, dass das "Wartepersonal" - zum Teil hatten solche Dienste auch jene zu übernehmen, die in der Anstalt als Tischler, Gärtner oder Schuster beschäftigt waren - entsprechend entlohnt werden muss und des Unterrichts wie der Kontrolle bedarf. Schließlich konnte er festhalten: "Die Verminderung der Straf-, Zwangs- und Beschränkungsmittel macht das Wartepersonal nicht roher, sondern vielmehr sanfter; es wird vorsichtiger und lernt sich ohne Beschränkung geeignet zu helfen." Auch habe die Ruhe in der Anstalt während der Verminderung der Zwangs- und Beschränkungsmittel nicht ab-, sondern zugenommen. Rohe, heftige und störende Ausbrüche seien seltener geworden. Im Jahr 1847 (damals war er noch Hauswundarzt in der Haller Irrenanstalt) wendete Stolz als erster Arzt in Tirol bei einem chirurgischen Eingriff eine Narkose mit Schwefeläther an. Interessant wäre es zu wissen, um welchen Eingriff und welchen Patienten es sich gehandelt hat. 1856 führte er die jährliche Fastnachts-Unterhaltung ein, die nicht nur aufmunternd auf die Kranken wirken, sondern auch dazu dienen sollte, das Interesse der Bevölkerung für die Anstalt und die darin Untergebrachten zu wecken und Vorurteilen entgegenzuwirken. Wäre doch schön, würde die Stadt Hall eine Straße oder einen Platz nach Josef Stolz benennen.

© Bernhard Kathan, 2023