„anständig, gnadelos“

Texturen totalitärer Herrschaft IV






„Meine liebe, liebe, kleine Frau“, „Meine gute, kleine Frau“, „Meine liebe, gute, kleine Frau“, „Mein geliebtes, gutes Frauchen“, „Meine geliebte, kleine Frau“, „Meine liebe, süße, kleine Frau“, „Mein liebes Liebchen“, „Meine allerliebste, goldige, kleine Frau“, „Mein liebes Liebchen“, „Mein liebes, gutes Liebchen“, „Liebste, goldige, kleine Frau“, „Mein gutes, liebes Liebchen“, „Liebstes, bestes Liebi“, „Mein gutes, gutes Bengele“, „Gutes Bengelein“, „Mein geliebtes Engele“, „Mein süßes, geliebtes, Gutes“, „Mein liebes, gutes Liebi“, „Liebes, dummes, kleines Liebi“, „Liebchen“, „gute Engelefrau“, „Liebi“, „Liebichen“, „Liebchen“, „Engele“, „Bengerle“, „Bengele, liebstes Kind“, „geliebtes Bengele“, „gutes, liebes, dummes Bengele“, „Bengelein“, „Bengeleinchen“, „gutes Kind“, „liebes Seelchen“, „Margalein“.

Anreden Himmlers in seinen Briefen an Marga Himmler in den ersten Ehejahren, und das in zahllosen Abwandlungen und Wiederholungen. In seinen letzten Ehejahren, Himmler hatte inzwischen ein Verhältnis mit seiner zwölf Jahre jüngeren Sekretärin Hedwig Potthast, sprach er Marga durchwegs mit „Mami“ an: „Liebe Mami“, „Meine gute Mami“, „Meine liebe Mami“, „Mein gutes, geliebtes Mami“, „Meine geliebte, gute Mami“. Seiner Geliebten gegenüber gebrauchte er nun Koseworte wie „Häschen“ oder „Schelmchen“.

Am 25. Juli 1942 notierte Victor Klemperer in seinem Tagebuch: „Verhaftetwerden ist jetzt identisch mit Getötetwerden, gleich hier an Ort und Stelle, die Konzentrationslager werden erst gar nicht mehr in Anspruch genommen. [...] Ich bin all diesen Ereignissen und Szenen gegenüber in altruistischer Hinsicht eiskalt; gemein kalt. Ich bemühe mich nur immer, um den Schauer der Todesangst herumzukommen. Immer wieder schüttelt es mich: Sie werden auch mich holen. Es geht nicht mehr nach Besitz – jeder ist dem Mord ausgesetzt. [...] Ich möchte so unendlich gern noch ein paar Jahre leben, ich habe vor gerade diesem Tod, dem vielleicht tagelangen Warten mit der Gewißheit des Sterbens, dem vielleicht Gefoltertwerden, dem Auslöschen in absoluter Einsamkeit ein solches Grauen.“

Wenige Tage vor Klemperers Eintrag, am 15. Juli 42, schrieb Himmler an Marga: „Meine gute Mami! Vor ich hier wegfahre, sollst du nochmal ein paar Zeilen u. zugleich ein paar Blümchen kriegen. Wenn ich das nächste Mal schreibe, geschieht es von Rußland aus. Recht schönen Dank für deine lb. Briefe vom 6.,11. u. 12.7. – die Sache mit Werner Födisch ist, wie ich dir schon am Telefon sagte, schön in Ordnung. Ich denke, ich werde ihn nächstens einmal bei mir oder auf der Kolchose in seiner Tätigkeit sehen. Püpping konnte ich doch keine Krebse schicken, hätte ich ja gern getan für unser Leckermäuli. Sie ist glücklich, daß sie jetzt Ferien hat u. freut sich so, wenn du kommst. Aber, Mami, Du mußt wirklich einmal 2-3 Monate in Gmund bleiben, damit du dich wirklich richtig erholst, du hast das doch schon vor deiner Ostfahrt notwendig gehabt u. jetzt nachdem du doch richtig Pocken hattest, erst recht. – Also sei zu dir selber einmal ganz lieb u. tue es. Ich werde in den nächsten Tagen in Lublin, Zamosch, Auschwitz, Lemberg sein u. dann im neuen Quartier. Bin neugierig, ob u. wie es dann mit dem Telephonieren geht, werden wohl bis Gmund rund 2000km sein. Nun alles Liebe, gute Reise u. recht schöne Tage in Gmund bei unserm Töchting. Viele herzliche Grüße u. Küsse Dein Pappi.“

Am 17. Juli 1942 flog Himmler nach Kattowitz und fuhr weiter nach Auschwitz. Zwei Tage hielt er sich dort auf, sah sich laut den Schilderungen des Lagerkommandanten Rudolf Höß „den gesamten Vorgang der Vernichtung eines gerade eingetroffenen Juden-Transportes an. Auch bei der Aussonderung der Arbeitsfähigen sah er eine Weile zu, ohne etwas zu beanstanden. Zu dem Vernichtungsvorgang äußerte er sich in keiner Weise.“ Zwei Tage später ordnete Himmler an, dass es bis zum Jahresende keine Juden mehr im Generalgouvernement geben dürfe. Allein zwischen Juli und November 1942 fielen weit über zwei Millionen Menschen der von Himmler forcierten systematischen Vernichtung zum Opfer.

In den Briefen findet sich dazu nicht die geringste Erwähnung. Kein Wort darüber, wohnte er wie im August 1941 einer Massenerschießung bei, für die er vor den Mitgliedern des Exekutionskommandos die persönliche Verantwortung übernahm. Die Vehemenz, mit der er die „Ausrottung des jüdischen Volkes“ betrieb, findet nicht den geringsten Niederschlag in den Briefen. Erstaunlich, war doch Marga eine stramme Nationalsozialistin. Zweifellos betrachtete er dies als „Selbstverständlichkeit des Taktes.“

Vieles an Himmlers Briefen lässt an einen Buchhalter denken, etwa, notiert er die Ankunftszeiten von Zügen auf die Minute genau: „Hebe die Beilagen bitte auf. — Das Rednermaterial bitte einordnen.“ Eine gewisse Zwanghaftigkeit war Himmler sicher eigen. In den ersten Jahren ihrer Beziehung wird Marga in den Briefen von Himmler stets im Diminutiv angesprochen: „Was freue ich mich wenn ich dein liebes, süßes Gesichtchen sehe.“ / „Bengeleinchen wie geht es nun dir, tust du deine Pillchen nehmen? Tust du nach dem Essen schlafen?“ / „Bengele, du liebstes Kind, paß gut auf auf dich, Sonne, Holzhacken, nicht zu viel bücken. Kalzium, schlafen, langsam essen, gar nicht ärgern!“ / „Aber Bengele jetzt müssen die ganzen Dummerlegedanken die du gehabt hast u. die traurigen Guckerchen verschwunden sein. Du weißt schon sonst gibt es Kloppe.“ / „Den Brief sollst du bekommen, wenn du noch im Bettchen liegst.“ Dabei war Marga sieben Jahre älter als Himmler, in ihrem Wesen herrisch.

Bereits 1921 formulierte Himmler in seinem Tagebuch sein „ideales Frauenbild“ entsprechend: „Ich bin dagegen dass die weibliche Eitelkeit auch in den Gebieten herrschen will, in denen sie keine Fähigkeit hat. Eine Frau wird von einem rechten Mann auf 3 Arten geliebt. — als liebes Kind, das man zanken auch vielleicht strafen muß in seiner Unvernunft, das man schützt u. hegt, weil es eben zart u. schwach ist u. weil man es eben so lieb hat. — Dann als Gattin u. als treuer, verständnisvoller Kamerad der das Leben mit einem durchkämpft, einem überall treu zur Seite steht ohne den Mann in seinem Geist zu hemmen u. in Fesseln zu schlagen. Und als Göttin, der man die Füße küssen muß, die einem Kraft gibt durch ihre weibliche Weisheit u. kindlich reine Heiligkeit in den härtesten Kämpfen nicht zu erlahmen u. einem in idealen Stunden der Seele Göttlichstes gibt.“

In den letzten Ehejahren ist zwar von „Liebi“ oder ähnlichem nur noch selten die Rede, aber oft genug beschenkt er Marga, nun die „liebe, gute Mami“, wie man Kinder beschenkt, immer wieder mit Süßigkeiten: „Lasse dir die süßen Sachen gut schmecken!“ / „Lasse dir die Krebschen gut schmecken!“ / „Anbei ein Paketchen mit Bommis u. kandierten Früchten u. Kognacbohnen u. einer Dose Kondensmilch. Dann noch so ein paar Traubenzuckertabletten u. Marzipan, damit du in den scheußlichen Nächten was zum Schlecken u. zum besser Einschlafen hast.“ / „Das Führer-Kaffeepaket (Brief liegt bei), Lebkuchen, Keks aus Nürnberg u. Leberpastete.“

Es sind inhaltsleere Briefe: „Erst jetzt Nachm. 5 h nach meiner Ankunft in Zittau komm ich dazu dir zu schreiben. Heute morgen schlief ich bis ˝ 10 h ganz wunderbar u. wie ich aufwachte habe ich gleich an das geliebte Bengele gedacht, was das wohl tun wird u. wie es ihm geht. Dann habe ich mich schön rasiert u. gewaschen, eingepackt u. gefrühstückt. Dann kaufte ich mir eine Zigarre u. ging auf die Brühlsche Terasse in das Restaurant Belvedere wo ich mit Reinhardt - Herrsching zusammentraf. - Liebi, was habe ich da an dich gedacht; es war herrliches Wetter, die Bäume sind schon etwas grün, unten fuhren die Elbedampfer, dann das herrliche Dresden; nur das gute Liebi war nicht da.“ Gebetsmühlenartig wiederholen sich Floskeln, Worthülsen. Und es erstaunt nicht, dass sich in den Briefen an Hedwig Potthast gleichlautende Sätze finden: „Ich küsse Deine lieben, guten Hände und Deinen süßen Mund!“

Oft genug schreibt er, was dem Brief selbst zu entnehmen ist, etwa, dass er sich jetzt Zeit nehme, um einen Brief zu schreiben. Ein „Eilbrief“ erklärt sich von selbst. Es muss nicht erwähnt werden. Auch das einem Päckchen Beigelegte: „Ich habe Euch alle Arten von Papier geschickt Taschentücher, Butterbrotpapier, Closettpapier; zwei Lämpchen für dich u. Püppi, zwei Waschbeutel für dich u. Püppi. Außerdem ein Holztablett u. ein Holzschälchen, dann den Wäschebehälter für die Reise für Mami. – Zwei finnische Puppen, das Holznäpfchen für den Racker. – Ein wenig Scheuermittel, eine alte Zahnbürste von mir (vielleicht könnt ihr sie zum Schuhschmieren oder so ähnlich brauchen), sonst noch ein paar finnische Münzen u. zwei Säckchen zum Naschen für Mami u. Töchting.“ (10.8.42) Etwas anderes wäre es, hätte er geschrieben, warum er an die beiden Lämpchen gedacht hat oder wie er sich „alle Arten von Papier“ beschafft hat, „Silbertablette u. Schale u. die Seidenstoffe (schwarz u. blau mit Weiß) u. blaue Handtasche u. ein bißchen Wäsche u. Strümpfe“, einen großen Bernstein, einen Pelzmantel („Kaftan“), ein Goralenpelz, einen Zirkelkasten, blauer Wollstoff und so fort, dann noch für Püppi, „unser gutes Töchting“, ein goldenes Armband und ein Sportkleidchen: „Ein altes Botanikbuch habe ich für sie beigelegt.“ Vermutlich besorgte er sich diese Geschenke im Wirtschaftsverwaltungshauptamt, das für die Verwertung der Habseligkeiten der Ermordeten zuständig war. Bezahlt dürfte er haben, allerdings nicht ohne dabei einen Rabatt von 30 – 40 Prozent in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig konnte er ein Familienidyll beschwören: „Wenn die Blumen u. das Paketchen u. mein Brief kommen, dann hole dir unseren Berliner Julleuchter u. zünde ihn an, ich werde es hier heraußen auch mit meinem tun u. Püppchen mit unserem in Gmund u. dann denken wir an einander.“

Nirgends schreibt Himmler über konkrete Erfahrungen, schon gar nicht in einem reflexiven Sinn. Nirgends findet sich ein Gedanke genauer ausgeführt. „2h – 3h die Gemäldegalerie im Zwinger angesehen. Gott ist das alles herrlich.“ Himmler erwähnt nicht ein einziges Gemälde, beschreibt keinen Raumeindruck. Was er als „herrlich empfand“, das schreibt er nicht. Er hätte es wohl auch nicht können. Es ist der Blick eines Kleinbürgers. In Meißen habe er sich den „herrlichen Dom“ angesehen, in Nördlingen den „herrlichen gotischen Dom“. Nicht zufällig bedient er sich eines exzessiven Gebrauchs des Rufezeichens.

II

Nachdem ich mich in den letzten Jahren wiederholt mit Menschen beschäftigt habe, die unter Himmler zu leiden hatten, war es an der Zeit, Himmler selbst eine Graphik zu widmen. Und es lag nahe, mit den Briefen zu arbeiten, die er Marga geschrieben hat. Natürlich war es eine ziemliche Qual, über Tage und Wochen hinweg diese inhaltsleeren Briefe Buchstaben für Buchstaben abzuschreiben, immer wieder nahezu gleichlautende Formulierungen zu wiederholen: „Viele, viele Grüße u. Küsse dein Pappi!“ Übrigens wäre dieses Abschreiben auch dann eine Qual gewesen, hätte ich über Himmler nicht das geringste gewusst. Allerdings entwickelten sich durch mein Wissen über Himmler Widerstände aller Art. Ich musste mich immer wieder zwingen, daran weiterzuarbeiten.

Ein solches Abschreiben mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, zumal das von mir Geschriebene nun als graue Fläche erscheint und vom Betrachter nicht mehr entziffert werden kann. Ich musste sehr klein schreiben, galt es doch, 127 Briefe und die Posener Rede vom 4. Oktober 1943, die ich einarbeiten wollte, auf der verfügbaren Fläche unterzubringen. Aber es fällt einem bei solchem Tun sehr viel ein, auf jeden Fall wesentlich mehr, als würde man die Briefe nur lesen. Mit all den Kommentaren ist das innerhalb weniger Stunden möglich. Die Beschäftigung mit der Sprache ist auch dem Umstand geschuldet, dass dem Morden eine Verrohung der Sprache voranging. Abschreiben, das kommt einer Dehnung der Wahrnehmung gleich. Eine solche Dehnung zwingt zur intensiven Auseinandersetzung. Beschäftigt man sich mit einer so monströsen Figur wie Himmler, dann muss man sich Zeit nehmen, und das im Wissen, dass man nur scheitern kann.

Zu Himmler wären mir abseits von Parteisymbolen, Massengräbern, Krematorien oder Stacheldrahtzäunen viele Bilder eingefallen. Vermessen wäre der Versuch, das Leid und den Tod von Abermillionen von Menschen zu illustrieren. Allein die wahnwitzige Kleiderordnung der SS gäbe einiges an Material für eine Graphik her. Das musste ich mir ebenso verbieten wie das Zitieren von Judensternen oder Nazisymbolen. Indifferent soll der Gesamteindruck sein, die Graphik sich nicht auf den ersten Blick erschließen. Deshalb ließ ich pralle Flugobjekte, die gleichermaßen als Herzen, Brüste, Wasserschläuche oder auch Schmetterlinge wahrgenommen werden können, über eine Landschaft, die mit Granitsteinen bespickt ist, fliegen. An Margas Brüste dachte ich nicht. Marga, blauäugig und blond, war keine Schönheit.

Ich werde immer wieder nach der Bedeutung der Zeichnungen gefragt. Um es einfach zu beantworten: Ich arbeite mich in ein bestimmtes Textmaterial ein. Dabei entstehen beiläufig irgendwelche Skizzen. Das meiste verwerfe ich. An einem gewissen Punkt entscheide ich mich für eine formale Lösung, die einer Funktion gleichkommt und mich schließlich zwingt, sie durchzuhalten, und dies auch dann, sollten mir während der Arbeit andere, vielleicht bessere Lösungen einfallen.

III

Wie fügen sich Himmlers auf den ersten Blick fürsorgliche Briefe an Marga, die so harmlos daher kommen, zum Massenmord, den er mit Eiseskälte betrieben hat, wie zur Posener Rede? Bei genauerer Betrachtung löst sich der Gegensatz auf. Wir haben es nur mit zwei Kehrseiten ein und derselben Medaille zu tun. Sie fügen sich zusammen wie die Konzentrationslager und Kräutergärten, die er anlegen ließ, wie die beiden von ihm häufig verwendeten Worte „anständig“ und „gnadelos“. Wie in den Briefen gibt sich Himmler auch in seiner Rede als Gefühlsmensch. Zärtliches Vokabular bedeutet noch lange nicht Empfindungsfähigkeit, auch nicht die behauptete Tierliebe. Und so kann denn Himmler mühelos sagen: „Diese Masse muss eben zertreten und abgestochen, abgeschlachtet werden. Es ist, um einmal ein ganz brutales Beispiel zu gebrauchen, wie bei einem Schwein, das abgestochen wird und allmählich ausbluten muss.“ Zu Empathie war Himmler, der Züge eines Automaten besaß, nicht in der Lage.

Es ist eine ordinäre Sprache, über lange Jahre als Propagandaredner der NSDAP vor trunkenem Publikum eingeübt. Als wesentliches Merkmal der Sprache des Dritten Reiches betrachtete Klemperer deren Armut. Sie sei bettelarm. Ihre Armut sei eine grundsätzliche; es sei, als habe sie ein Armutsgelübde abgelegt. Das gilt für Himmlers Briefe an Marga ebenso wie für seine berüchtigte Rede. Klemperer schreibt, jede Sprache, die sich frei betätigen dürfe, diene allen menschlichen Bedürfnissen, sie diene der Vernunft wie dem Gefühl, sie sei Mitteilung und Gespräch, Selbstgespräch und Gebet, Bitte, Befehl und Beschwörung: „Die LTI dient einzig der Beschwörung.“ Auch das trifft auf die Briefe wie auf die Rede zu.

In seiner Rede wechselt Himmler von einem Thema zum andern, postuliert, führt keinen Gedanken wirklich aus. Alle Einwände sind stets rhetorischer Natur, die letztlich nur bestätigen, was er eben behauptet hat. Er schwadroniert. Die Rede zeugt von einem absoluten Wirklichkeitsverlust. Während abzusehen ist, dass der Krieg nur in einer Niederlage enden kann, faselt er von Garnisonen im Ural, die die SS in absehbarer Zeit dort haben werde. 290 Mal, so ich richtig gezählt habe, sagt Himmler in seiner Rede „Ich“. Aber was sagt er über sich? Dass er keinen Widerstand dulde, dass sich ihm alle unterzuordnen hätten. Zwar betont er das „Wir“, aber tatsächlich droht er ständig, gerade auch jenen, die ihm ergeben zuhören. Sagt er etwas über sich, so bleibt dies anekdotisch. Gleichzeitig ist dieses Ich höchst beredt, brodelt es doch geradezu aus einem „Winkel seiner schwarzen Seele“, eine Formulierung, die sich in einem der früheren Briefe an Marga findet.

Als Gegenlektüre zu Himmlers Briefen und Reden empfehlen sich Klemperers Tagebücher aus den Jahren 1933 – 1945, und zwar nicht nur deshalb, weil der eine Täter, der andere sein Opfer war. Klemperers Ich ist das eines reifen und empfindsamen Menschen, der fähig ist, über sich selbst nachzudenken, auch in der Lage, die Komplexität der Wirklichkeit in all ihren Widersprüchen zu sehen. Während Himmler einzig in Kategorien dachte (Herrenmenschen, Untermenschen, Bestien, slawische, mongolische Menschenmassen, menschliche Minderware, Menschentiere), sieht Klemperer immer Menschen, und zwar in ihrer ganzen Verschiedenheit. Schreibt er, er sei „in altruistischer Hinsicht eiskalt; gemein kalt“, dann ist dies angesichts der akuten Bedrohung, in der er schwebte, nicht als Mangel an Empathie zu betrachten, im Gegenteil. Klemperer stellt es mit Schrecken fest. Himmler war dazu nicht fähig.

Himmler pflegte seine Reden seiner Frau zu schicken. Vermutlich hat sie auch die Posener Rede erhalten und gelesen. Wenn, dann hatte sie damit wohl keine Mühe. Sie betrachtete Himmler, Klemperer nennt ihn den „berüchtigsten Bluthund der Partei, Exponent der eigentlichen Blutrichtung“, als jemand, der ganz in der Pflichterfüllung aufgeht, schwer an seiner Verantwortung trägt, als Ausgeburt von Anständigkeit, als jemand, der die Tugenden Treue, Gehorsam, Tapferkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Kameradschaft hoch hält. So ein Mensch kann doch nicht böse sein. Im März 1940 unternahm sie für das gleichgeschaltete Deutsche Rote Kreuz eine Dienstreise nach Polen. Sie notierte: „Nun war ich in Posen, Lodsch und Warschau. Dieses Judenpack, die Pollaken, die meisten sehen gar nicht wie Menschen aus, u. der unbeschreibliche Dreck. Es ist eine unerhörte Aufgabe, dort Ordnung zu schaffen.“ Sie war unfähig zu sehen, dass das Elend und der „unbeschreibliche Dreck“ Ausdruck und Folge der Vernichtungspolitik war, als deren entschiedenster Vertreter Heinrich Himmler betrachtet werden muss.

© Bernhard Kathan, 2016

ABB.: Bernhard Kathan, „Anständig gnadelos – Himmler“, 2016.
144,5 x 91cm
Preis: 800,00
[ zur Startseite ]