Tabak-Disput: "Es ist verboten, während der Besamung zu rauchen oder
den Bullen durch Gelächter abzulenken!"






1959, ich war gerade einmal 6 Jahre alt, legte ein Onkel meines Vaters einem Brief an meine Mutter silberne Zigarren-Etuis bei, "für den Fall, dass deine hoffnungsvollen Sprösslinge vom Rauchen nicht abgehalten werden können." Heute wäre das vollkommen undenkbar. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Einstellung gegenüber dem Rauchen grundlegend geändert. Noch in den 1970er Jahren wurde in vielen Seminaren, selbst in manchen Vorlesungen geraucht. Universitäten sind heute rauchfreie Zonen. Ob öffentlicher Verkehr, Krankenhäuser oder Restaurants, in all diesen wie vielen anderen Bereichen ist Rauchen nicht mehr oder nur noch schwer möglich. Mein Großonkel, ein bemerkenswerter Mann, hatte sich bereits Jahre zuvor das Rauchen abgewöhnt, dieses sich freilich nicht verboten, sei es doch etwas Gutes, sich eine Zigarre für eine trübe Stunde aufzusparen, was einem über den toten Punkt hinweghelfen könne. Meine Mutter beruhigte er mit der Bemerkung, das gewohnheitsmäßige Rauchen sei ihm zuwider: "Du wirst deine Buben leicht vor dem Rauchen abhalten, wenn du ihnen ausrechnest, was sie sich dadurch ersparen und für ein schönes Buch oder einen Ausflug dann zur Hand ist." Diesbezüglich sollte er sich irren.

Mein Großonkel hätte sich all die Argumente gegen das Rauchen, mit denen wir es heute zu tun haben, nicht vorstellen können. Der Kampf gegen das Rauchen ist, das verschweigen Rauchgegner und Gesundheitspolitiker, eine wahre, aber auch erklärungsbedürftige Erfolgsgeschichte. Und diese verdankt sich nicht zuletzt einer zunehmenden Kontrolle der Lebensäußerungen. In meiner Kindheit gab es in der Kirche unter den hinteren Bänken hölzerne Tröge, die mit Sägemehl gefüllt waren. Diese dienten dem Ausspucken des Kautabaks. Da wurde noch gerotzt und gespuckt, zumindest in den letzten Reihen. Die Spucktröge verschwanden zu Beginn der 1960er Jahre. Ihre Reinigung verstand man plötzlich als Zumutung für jene Frauen, deren Aufgabe es war, die Kirche zu putzen. All das beginnt in der frühen Neuzeit mit den ersten Vorstellungen des modernen Subjekts. Im 16. Jahrhundert wurde zumeist noch aus einer gemeinsamen Schüssel gegessen. Aber die zunehmende Betonung von Sauberkeit und Selbstkontrolle zeigt, dass bereits damals der Abstand zwischen den Menschen größer wurde. Überall wurden drohende Vermischungen wahrgenommen, angefangen bei der Atemluft, die man in den Brei bläst, bis hin zur fettigen Hand, die nach einem Stück Fleisch greift. Fortan gilt alles als unrein, was mit dem Körper eines der Essenden in Berührung gekommen ist, besonders aber all das, was an ihm haften bleibt oder was aus dem Körper wieder an die Oberfläche gelangt. Im neunzehnten Jahrhundert, das Rauchen wurde noch nicht als Problem betrachtet, viele Menschen lebten ja noch buchstäblich in Rauchküchen, dehnte sich die Kontrolle der Lebensäußerungen zunehmend auf den öffentlichen Raum aus. In damals erschienenen Anstandsbüchern wird ausdrücklich auf eine Vielzahl von Angewohnheiten hingewiesen, die es auf jeden Fall zu vermeiden gilt: "Auffallende Verzerrungen des Gesichts oder seltsame Bewegungen des Körpers beim Sprechen; Singen oder Brummen oder Pfeifen etc. in Gesellschaften; Schaukeln und Kippen mit den Stühlen; Baumeln mit den Beinen; Trommeln an den Fenstern und auf den Tischen; Gähnen, besonders lautes. Unschicklich ist es auch, diejenigen, mit welchen wir sprechen, bei den Knöpfen oder bei dem Rockkragen zu ergreifen, an den Möbeln derer, bei denen wir zum Besuch sind, zu kritzeln, unsere Füße an oder auf Gegenstände zu stellen, die dadurch verletzt oder beschmutzt werden können." Die Diskreditierung des Rauchens ist in dieser Tradition zu sehen. Kulturhistorisch betrachtet lassen sich diesbezügliche Schnittstellen, und deren wären viele zu nennen, gut benennen. In einer in den 1950er Jahren errichteten, heute leerstehenden Besamungshalle für Rinder sah ich folgende Tafel: "Es ist verboten, während der Besamung zu rauchen oder den Bullen durch Gelächter abzulenken!"

Man muss die Forderung nach einem generellen Rauchverbot breiter betrachten, nach den latenten Inhalten diesbezüglicher Diskurse fragen. Gesetze, die zum Schutz der Bevölkerung erlassen werden, geben vor, Menschen vor anderen Menschen zu schützen: "Rauchen fügt Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu." Auf den Jugendschutz folgte mit unverminderter Vehemenz die Forderung nach dem Schutz der Passivraucher, die zunächst im Kleid des Arbeitnehmerschutzes auftrat. Wir haben es, wie Jens Jessen richtig bemerkt, mit Nachbarschaftsgesetzgebung zu tun: "Der eine Nachbar möchte nicht, dass sich ein anderer erlaubt, was er sich selbst verbietet." Nicht zufällig finden sich unter den vehementesten Rauchgegnern ehemalige Kettenraucher. Der Kampf gegen das Rauchen lässt sich mühelos in ein Feld anderer Diskurse fügen, die auf den ersten Blick nicht das Geringste mit dem Rauchen zu tun haben. Man denke an Plagiatsvorwürfe, an Mobbing oder an Vorwürfe sexueller Belästigung.

Plagiatsvorwürfe erinnern an nervenaufreibende Auseinandersetzungen mit Nachbarn. Da wie dort geht es nicht um die vordergründigen Inhalte, nicht um Mülltonnen, die am falschen Platz stehen, nicht um die Brombeerhecke, die zu üppig über den Zaun wächst, nicht um die Musik, welche die Mittagsruhe stört, nicht um die paar Sätze, die möglicherweise ähnliche Argumentationen beinhalten oder tatsächlich wortwörtlich abgeschrieben wurden. Der Nachbar fühlt sich durch Aktivitäten seiner Nachbarn buchstäblich bedroht. Sie scheinen in sein Feld einzudringen, ihm seinen Platz, sein Existenzrecht streitig zu machen. Erst wenn die Brombeerhecke geschnitten ist, fühlt er sich wieder beruhigt. Dabei ist es völlig nebensächlich, ob jener Platz, den die wuchernde Brombeerhecke beansprucht, tatsächlich benötigt wird oder nicht. Vergleichbar mit der zunehmenden Wohndichte wird es auch auf dem Feld wissenschaftlicher Arbeiten immer enger. Es gibt kaum ein Thema, mit dem sich nicht eine ganze Reihe von Wissenschaftlern zur selben Zeit, oft vollkommen unabhängig voneinander, beschäftigen. Es ließen sich zahllose Themenbereiche anführen, die das zunehmend schwierigere Verhältnis wechselseitigen Austausches belegen. Während sich in Lokalen das an den Nebentischen Gesprochene mittels Dauerbeschallung weitgehend neutralisieren lässt, schwebt der Rauch, ausgeatmete Luft, frei herum, bleibt an Kleidungsstücken haften und dringt in Nasen und Lungen anderer ein. Das ist nicht nur obszön, sondern letztlich bedrohlich, allerdings erst in dem Augenblick, in dem Menschen mit ihren Nachbarn nichts mehr zu tun haben, nichts mehr zu tun haben wollen, in dem sich alle als Konsumenten und somit als Konkurrenten begegnen. Wer heute ein Lokal besucht, begreift sich nicht als Gast, sondern als Konsument. Während sich früher einmal Gäste über den Umgang miteinander zu einigen hatten, wird heute der Betreiber eines Lokals dafür verantwortlich gemacht, Konsumenten vor dritten zu schützen. Nicht zufällig wird der inzwischen inflationär gebrauchte Begriff "Opfer" auch auf Konsumenten angewandt.

Moderne Kommunikationstechnologien erlauben es, mit entferntesten Menschen zu kommunizieren. Nachbarschaftliche Verhältnisse sind dagegen schwieriger geworden. Der Erfolg ganzer Industrien verdankt sich heute der Vermeidung unerwünschter Nachbarschaften. Einhegungen, gleichgültig, ob es sich um Zäune, Mauern oder beschnittene Hecken handelt, belegen deutlich, dass wir uns in Abgrenzung zur Nachbarschaft denken. Etwas ähnliches gilt auch für Gesetze, die vorgeben, Nichtraucher vor Rauchern zu schützen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Rauchen mit dem Erleben von Gemeinschaftlichem konnotiert. Eine junge Mutter entschuldigte sich unlängst bei mir. Ihr Kind habe während der Nacht laut geweint. Es habe sich nicht beruhigen lassen. Heute entschuldigen sich Menschen bereits für völlig normale Lebensäußerungen. Dass es längst nicht mehr allein um die schädlichen Folgen des Rauchens geht, machen mir Zigarettenstummel deutlich, die ich im Stiegenhaus an der Anschlagtafel mit einer Stecknadel aufgespießt sehe. Darunter der Satz: "Wer raucht diese Marke?" Offensichtlich eine Kippe, die jemand im Innenhof oder auf dem Rasen weggeworfen hat. Heute wird man selbst an Orten, an denen man gar nicht auf die Idee käme, sich eine Zigarette anzuzünden, auf Rauchverbote hingewiesen: "Wir bitten Sie im Friedhof nicht zu rauchen. Die Friedhofsverwaltung." Darunter ein Schild: "Hunde müssen draußen bleiben." Der öffentliche Raum wird neu definiert, und zwar nicht nur auf das Rauchen bezogen.

Dass Rauchverbote so rasch Eingang in die Gesetzgebung gefunden haben, verdankt sich einem weiteren Unbehagen. Zygmunt Bauman schreibt, da wir das schwindelerregende Tempo der Veränderungen nicht verlangsamen, geschweige denn ihre Richtung vorhersagen oder steuern könnten, konzentrierten wir uns auf das, was wir tatsächlich oder vermeintlich beeinflussen können, beziehungsweise wovon man uns einreden würde, dass wir es beeinflussen könnten: "Um die überschüssige Existenzangst abladen zu können, die ihrer natürlichen Ventile beraubt ist, suchen wir uns Ersatzziele. Fündig werden wir, indem wir umfangreiche Vorkehrungen dagegen treffen, den Zigarettenrauch anderer einzuatmen, fettreiche Nahrung oder ‚schlechte' Bakterien zu uns zu nehmen (während wir gierig die Flüssigkeiten schlürfen, die ‚gute' zu enthalten versprechen) und uns vor zu viel Sonne und ungeschütztem Sex hüten."

Die Politik steht heute vor großen Herausforderungen. Man denke an die Klimaerwärmung, an neue Formen des Krieges, an eine Wirtschaft, die sich in den letzten Jahren als sehr krisenanfällig erwiesen hat, an die technische Durchdringung unseres Alltags mit Folgen, die sich nur bedingt absehen lassen, an die Erodierung von Bürgerrechten oder auch an die zunehmende Schere zwischen Arm und Reich, was auch demokratiepolitisch besorgniserregend ist. Die heutige Politik, und das gilt nicht nur für Österreich, hat zu all diesen Fragen weder glaubhafte Vorstellungen, noch wirkliche Lösungen anzubieten. Tatsächliche Entscheidungen werden längst nicht mehr in nationalen Parlamenten, ja nicht einmal auf EU-Ebene getroffen. In Österreich ist es nicht einmal möglich, ein längst überholtes Schulsystem an die Erfordernisse der heutigen Zeit anzupassen. Da bieten sich Gesetze zum Schutz von Menschen an, etwa ein generelles Rauchverbot in Lokalen. Man kann auch den Strafrahmen für Tierquälerei drastisch erhöhen. Das wird unsere Welt nicht besser machen, kommt aber den Befindlichkeiten der Wähler entgegen. Immerhin wird der Eindruck geweckt, etwas getan zu haben.

Während das Gemeinschaftliche zunehmend ausgehöhlt wird, appellieren Rauchgegner an die Solidargemeinschaft. Wer rauche, also ungesund lebe, untergrabe die Solidargemeinschaft, falle anderen zur Last. Was die vielbemühte Solidargemeinschaft betrifft, fällt auf, dass nur anfallende Kosten in Rechnung gestellt werden, jene Beträge aber verschwiegen werden, die Raucher seit vielen Jahren als vorsorgliche Strafsteuer zu entrichten haben, auch nicht der Umstand, dass die deutlich niedrigere Lebenserwartung von Rauchern kostendämpfend auf unser kaum noch finanzierbares Pensionssystem wirkt. Ich sehne mich nicht in Zeiten zurück, in denen selbst Kinder rauchten, weil ihnen andere Vergnügungen versagt blieben. Es ist zu begrüßen, dass sich Zigarettenautomaten nicht mehr wie Kaugummiautomaten bedienen lassen. Ich finde Restaurants angenehm, in denen nicht geraucht wird. Ich habe mir das Rauchen in der Wohnung oder an anderen Orten schon lange abgewöhnt.

Ich hätte weniger Mühe mit einem allgemeinen Rauchverbot in Lokalen, gäbe es eine breite Diskussion bezüglich krankmachender Faktoren und Verhaltensweisen. Die Lebenserwartung von Menschen, die etwa über lange Zeit in prekären Verhältnissen, in ständiger Unsicherheit leben, ist auch auffallend niedrig. Bei Schriftstellern liegt sie bei 63,69 Jahren hier auf Daten der Grazer Autoren Autorinnen Versammlung bezogen), also weit unter der durchschnittlichen Lebenserwartung. Mit Alkohol- oder Nikotinkonsum allein lässt sich das nicht erklären. Entscheidend ist, dass viele Mitglieder über Jahre hinweg in prekären Verhältnissen leben. Unter literarisch tätigen Menschen finden sich freilich auch solche, die ein hohes Alter erreichen. Schaut man sich deren Biographien an, dann lässt sich sagen, dass diese zumeist in gesicherten Verhältnissen leben. Ganz allgemein lässt sich sagen: Armut macht krank. Armut oder drohende Verarmung hat im Gegensatz zum Rauchen noch keinen Gesundheitsminister beschäftigt. Dabei hat die Zahl jener Menschen, die in andauernden Prekariaten leben, von der Verarmung bedroht sind, in den letzten Jahren deutlich zugenommen und es steht zu befürchten, dass sie noch mehr zunehmen wird. Zweifellos stellt das Passivrauchen insbesondere für Personen, die im Gastgewerbe beschäftigt sind, ein nicht unerhebliches Gesundheitsrisiko dar. Zu anderen Gesundheitsrisiken und Belastungen, denen Kellner und Kellnerinnen ausgesetzt sind, habe ich von Rauchgegnern noch nie etwas gehört.

Die Vermeidung von Stress zählt zwar wie die Empfehlung, nicht zu rauchen, möglichst wenig Alkohol zu trinken, tierische Fette oder Zucker nur in Maßen zu sich zu nehmen oder sich sportlich zu betätigen, zum gebetsmühlenartig wiederholten Vokabular von Ärzten. Aber welcher Arzt würde schon sagen, dass der von vielen Menschen erlebte Dauerstress nicht nur in persönlichem Verhalten begründet liegt. Ein Arzt meinte, so wie ich leben würde, da könne man nur krank sein. Das sei ja so wie ein ständiger Hochseilakt. Bekanntlich kann man auf einem Seil nicht schlafen. Das Bild hat mir gefallen. Er empfahl mir in geradezu rührender Weise, ich hatte mein fünfzigstes Lebensjahr schon lange überschritten, doch einen anderen Beruf zu erlernen oder wie es andere machten, in Vergessenheit geratene Kartoffelsorten anzubauen. Eine Akupunkturärztin wiederum empfahl mir, doch endlich einen Harry Potter zu schreiben, nicht ohne hinzuzufügen, sie fliege jetzt für sechs Wochen in die Karibik und beim nächsten Termin würde sie mir dann erzählen wie schön das Leben doch sein könne.

Nachdem uns alle Vorstellungen eines jenseitigen Lebens abhanden gekommen sind, ist eine hohe Lebenserwartung zu einem neuen Wert geworden. Wir haben es mit einem diesseitigen Kultus zu tun, in dem es weder an Heilsversprechungen, noch an Priestern oder Bußübungen mangelt, mehr noch, mit einem Kult, der unser ganzes Leben durchdringt. Sehe ich von wenigen Menschen ab, dann scheint mir ein allzu langes Leben nicht eben verlockend. Dabei denke ich nicht nur an die vielen Gesichter des Siechtums, sondern auch daran, dass ich nicht zu einem bewirtschafteten Objekt werden möchte. Ich möchte nicht von Menschen betreut werden, die von der Würde des Alters und ähnlichem schwafeln, aber kein Interesse an mir haben. Alt werden muss man sich heute - ähnlich wie das Kinderkriegen - leisten können. Zählt man zu jenen, die finanziell stets nur knapp über die Runden kommen, dann ist man gut beraten, das Leben nicht zu sehr in die Länge zu dehnen. Statt auf ein langes Leben zu hoffen, möchte ich die Zeit, die ich lebe, und sie ist so oder so kurz, leben, das heißt, neugierig die Welt betrachten und im Austausch mit anderen erfahren, was zugegebenermaßen oft mühsam sein kann. Eine hohe Lebenserwartung ist kein Wert an sich. Dieselbe Gesellschaft, die eine hohe Lebenserwartung zu einem neuen Fetisch gemacht hat, hat nicht die geringste Mühe, verkümmern Begabungen, verbringen viele Menschen nahezu ihr ganzes Arbeitsleben mit Tätigkeiten, die sie nicht machen wollen, sondern machen müssen. Hier lohnen sich Gespräche mit Menschen, die in die Frühpension drängen.

Immer wieder denke ich an Schriftsteller, die in jungen Jahren gestorben sind. Mochte ihr Tod auch tragisch sein, mochten sie sich auch verzehrt haben, sie lebten wirklich. Georg Büchner wurde gerade einmal 24, Novalis 28, Franz Michael Felder 29. Heinrich von Kleist starb im Alter von 34. Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Wilhelm Hauff starb kurz bevor er sein 25. Lebensjahr erreicht hatte. Er hinterließ einige tausend Seiten, darunter Vieles, was sich heute noch zu lesen lohnte. Seine Almanache erweisen sich jedem, der sich genauer mit ihnen beschäftigt, mehr als eine Sammlung von Märchen, nämlich als eine Gesellschaftstheorie, die in einer globalisierten Ökonomie, die wechselseitige Abhängigkeiten nur zu deutlich macht, mehr Aufmerksamkeit verdienten.

Die Voraussetzung für ein halbwegs geglücktes Leben verdankt sich nicht zuletzt dem Bewusstsein um die Endlichkeit unseres Lebens. Fernando Pessoa hat dies in seinem Gedicht "Der Tabakladen" sehr schön formuliert: "Der Besitzer des Tabakladens tritt nun an die Tür und bleibt an der Tür. / Ich betrachte ihn mit dem Unbehagen des schräg gedrehten Kopfes. / Er wird sterben, und ich werde sterben. / Er wird das Ladenschild hinterlassen, und ich hinterlasse Verse. / Irgendwann verrotten dann das Ladenschild und auch die Verse. / Nach einiger Zeit stirbt die Straße, in der das Ladenschild hing, / Und die Sprache, in der die Verse geschrieben wurden. / Später stirbt dann der kreisende Planet, auf dem sich dies alles zutrug."

Mein Vater hat während seines ganzen Erwachsenenlebens geraucht, allerdings nur sporadisch. Zumeist Zigaretten anderer. Nur selten kaufte er sich selbst eine Packung. An manchen Tagen konnte er aber innerhalb weniger Stunden ein ganzes Päckchen rauchen. Kein oberflächliches Rauchen. Er atmete den Rauch sehr tief ein, selbst kurz vor seinem Tod noch, als er nicht mehr in der Lage war, ohne fremde Hilfe vom Bett zum Tisch daneben zu wechseln. Als junger Mann war er Zeuge einer Sektion, die der Amtsarzt des besseren Lichtes wegen in einem Obstgarten vornahm. Warum er während dieser Sektion anwesend war, warum diese durchgeführt wurde, immerhin musste der Amtsarzt eine Tagesreise machen, darüber erwähnte er nichts. Wiederholt kam er dagegen auf die rußgeschwärzte Lunge des Toten, der ein starker Raucher war, zu sprechen. Als Vergleich dienten ihm wohl die Lungen von Schweinen. Mit Hausschlachtungen war er vertraut. Schon bald werden Abbildungen von abgestorbenen Zehen, Herzoperationen und so fort die Zigarettenschachteln zieren. Auch daran werde ich mich gewöhnen. Als Erziehungsmaßnahme möchte ich deshalb die Einführung öffentlicher Sektionen empfehlen.

Behauptet wird, die Gesellschaft würde gesund, also heil, gäbe es keine Raucher mehr. Ich glaube nicht an die Versprechungen einer sauberen, gesunden, heilen Welt, ich glaube nicht an die Vorstellung eines irdischen Paradieses, würde nur richtig aufgeräumt. Unlängst besuchte ich ein Dorfgasthaus. Zu meiner Überraschung durfte ich plötzlich nicht mehr rauchen. Als ich den Wirt darauf ansprach, erzählte er von Klagsdrohungen eines Mannes, der in seinem Lokal noch nie etwas konsumiert habe. Man muss sich das einmal vorstellen. Da fährt jemand in der Gegend herum, klappert Lokale ab, um die Einhaltung von Verboten zu kontrollieren. Und dieser Mann kann selbst dann einen Erfolg verbuchen, sitzt nur ein einziger Gast rauchend im Lokal, stehen während der sommerlichen Hitze Türen und Fenster offen.

Vor einer Gesellschaft, die nach den Maßgaben der Hygiene organisiert ist, muss man sich fürchten. Der Islamische Staat soll das Rauchen in der Öffentlichkeit verboten haben. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denke ich hierzulande an ähnliche Verbote oder Bemühungen. Ginge es nur um die letzten Enklaven, an denen man heute noch rauchen kann, dann könnte man darüber hinwegsehen. Zweifellos wird es nicht beim einem generellen Rauchverbot in Lokalen bleiben. Als nächstes werden Rauchverbote auf den öffentlichen Raum ausgedehnt, gilt es doch, Kinder und Jugendliche vor schlechtem Beispiel zu schützen. An einem generellen Rauchverbot wird die Welt nicht zugrunde gehen. Aber die hier geführte Debatte, die ja genaugenommen gar keine Debatte ist, lässt sich beliebig übertragen, auf Menschen, die durch ihr Verhalten auf diese oder jene Weise abweichen, auf Fettleibige, Arme, Menschen, die aus dem Arbeitsmarkt gefallen sind. Letztlich haben wir es mit einer umfassenden Zurichtung zu tun, die auf Selbstzurichtung hinausläuft.

Bernhard Kathan, 2015



Nachbemerkung

Ein nicht realisiertes Projekt. Gemeinsam mit Richard Frankenberger sollte im HIDDEN MUSEUM eine temporäre Trocknungsanlage für Tabakblätter eingerichtet werden, um sich ausgehend von Rauchdiskursen allgemein mit Fragen nachbarschaftlicher Verhältnisse zu beschäftigen. Unter Tabakblättern sitzend hätten wir uns einen Monat lang alle nur denkbaren Nachbarschaftskonflikte erzählen lassen oder aus Akten diesbezüglicher Prozesse vorgelesen. Richard Frankenberger, es ist übrigens Nichtraucher, erlebte seine Kindheit in einem oststeirischen Tabakanbaugebiet, wozu er auch einige Projekte realisiert hat. Der von uns angedachte Tabakdisput ließ sich leider nicht finanzieren. Zwar wird die Bedeutung guter nachbarschaftlicher Verhältnisse immer wieder behauptet, aber für die diesbezüglichen Voraussetzungen, über die man heute mehr denn je diskutieren sollte, scheinen sich nur wenige zu interessieren. Und macht man ein Tabakprojekt, steht man ohnehin im Verdacht, Auftragnehmer von Tabakkonzernen zu sein.

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