See des Schlafs
Sie sind jetzt ganz ruhig
Sie haben Ihre Augenlider geschlossen
Sie liegen in einem Boot
Sie liegen auf einer weichen Decke
Ihr Körper ist jetzt ganz leicht
Das Boot trägt Sie in den See des Schlafs
Sie sind ganz aufgehoben in Raum und Zeit
Nicht länger spüren Sie die Schwerkraft
All Ihre Sorgen haben Sie abgestreift
Ihr rechtes Knie ist ganz warm
Ruhig liegt es auf
Ihr linkes Knie ist ganz warm
Sie sind sehr müde ...
Sie haben alle Anstrengung hinter sich gelassen...
Sie werden in einen tiefen Schlaf fallen
... in einen sehr tiefen Schlaf
Ihr linkes Knie ....
Sie haben Ihre Augen geschlossen
Ihr rechtes Knie ...
Ihr rechtes Augenlid ...
Ihr Nacken ist jetzt ganz entspannt
Ihr Kopf liegt schwer auf
... und ist doch leicht wie eine Feder
Es ist, als wiegte Sie ihre Mutter in den Schlaf
Als lägen Sie schlaftrunken in den Armen ihrer Geliebten
Ihr rechtes Handgelenk ist ganz warm
Der See des Schlafs wird Sie tragen
... wie Ihre Mutter Sie getragen hat
keine störenden Gedanken
... ... ... nur Schlaf
ein tiefer Schlaf
... ein ganz riefer Schlaf
ein ganz tiefer Schlaf, der Sie alles vergessen lassen wird
... ... ein gabelförmiges Rohr voller pulverisierter Diamanten
... Ihr rechter Arm ist ganz schwer
.... ein kleiner Spiegel, der allem, was sich zeigt, das Bild raubt und
wieder zurückgibt
... Ihr linkes Knie ist ganz schwer ...
.... im Königreich der Luchse
Sie ruhen in der Mitte Ihres Leibes
Es ist, als wiegte Sie Ihre Mutter in den Schlaf
... ... aus der Tiefe des Sees
... ist nur noch ... ... ... ein fernes Echo
... ihrer Gedanken ... zu hören
Sie werden getragen ... vom tiefen Blau ... des Sees ... des Schlafes
.... nur noch aus weiter Ferne ... ist das Gekrächze von Hähern, ...
Papageien, ... Elstern, ... Staren, ... Hänflingen und Finken zu hören ...
... sanft schweben Sie dahin
... Sie tauchen ein in den See des Schlafs
.... Sie tauchen ein ... in den See, ... der keine Wiederkehr kennt
.... sein schimmerndes Wasser glitzert nach allen Seiten
.... in seinem Schlamm wächst der Nieswurz, dessen Wurzeln sich in langen
Fäden ausbreiten und das Wasser reinigen
Ihr rechtes Knie ....
.......... Knie ............
................ Fuß ..............
.................... Ihr rechter ..................
.........................Ihr .........................
.... auf dem weichen Gras, das seine Ufer säumt, wiegen eine Million
Elefanten ihre Köpfe .....
......... Ihr Kopf
................. leicht wie eine Feder ..................... Feder
...................... Feder ...............
.............leicht ..................... ganz leicht
............................Schlaf
Zärtlich ... tasten die Elefanten ... mit den Spitzen ... ihrer Rüssel ...
die Gesichter ab
.................. ein ganz tiefer Schlaf
............................. tiefer Schlaaaf
................................... tiefer und tiefer
.... Knie ................... Haus .................. Hund
.................... Garten .................. Blume
...... Schlaf .................... Hund ............................. Knie
....................
.......................tiefer .....................tiefer
.........................tiefer ................
... dorthin, wo der Strom des Lebens in sich selbst zurückfließt
........... tiefer ................. tiefer ...........
........... Knie .....
.... tiefer ..........
.... ... ...
... ...
...
"Du kannst aufhören. Das Herz schlägt nicht mehr. Keine Gehirnaktivitäten.
Für heute ist Schluss. Das war der Letzte. Für den Rest sind andere
zuständig. Oder Maschinen. Den Menschen braucht es nur noch um den
Totenbegleiter zu spielen. Wir Sterberedner! Wir, die in den Tod sprechen.
Unsere menschliche Stimme. Sanfte Stimmen sollen es sein. Dem langsamer
werdenden Herzschlag entsprechend. Eine technische Stimme könnte das nie.
Ich habe Hunger. Hast auch Du Lust auf ein Bier?"
"Du bist sehr müde. Deine Knie sind ganz warm ..."
"Willst Du mich verarschen? Ich mache hier nur meinen Job. Andere fälschen
Bilanzen, um Geld zu verdienen oder unterrichten Kinder. Ich rede Menschen,
die ihres Lebens müde sind, in den Tod, in einen tiefen, tiefen, sanften
Schlaf. Ist doch alles zum Kotzen. Wir haben nicht das letzte Wort
gesprochen. Schon steht die Sortier- und Gefrierabteilung bereit. Dann die
Verwertungsabteilung."
"Was geht mich das an? Wir sitzen in unserem Wächterhäuschen über dem See.
Beste Aussicht. Beeindruckende Naturlandschaft. Ein friedlicher Ort. Auch
die Architektur des Wächterhäuschens ist bestechend. Willst Du Dein Leben in
einem Büro verbringen?"
"Du bist wohl stolz auf deine Priesterwürde. Früher hättest du vermutlich
Staubsauger verkauft. Den Leuten etwas vorgeschwatzt, etwas versprochen, was
ihnen niemand geben kann. Ich kann da keinen großen Unterschied sehen ..."
"Ich glaube an den See des Schlafs. Besser kann man sein Leben nicht
beenden. Du würdest doch auch mich in den Tod sprechen? Darin bist du ja
viel besser als ich. Dies hat sogar die Kontrollabteilung bestätigt.
Herzstillstand. Im Durchschnitt siebzehn Sekunden rascher. Hast du die
diesbezügliche Prämie etwa abgelehnt? Also ich ..."
"Vergiss doch diesen ganzen Quatsch. Ich würde lieber Staubsauger verkaufen
als in diesem beschissenen Gebäude, welches sich ein beschissener Architekt
ausgedacht hat, andere in den Tod zu sprechen. Ein Architekt, der wohl
gemeint hat, der Tod brauche so etwas wie ein symbolisches Gebäude. Und dann
der Blick auf diesen beschissenen See, den man nicht einmal sieht, von dem
wir nur wissen. Da gibt es kein Blau. Darin spiegeln sich keine Berge, keine
Bäume. Nicht einmal Wasser kennt dieser See. Nur eine Art Nebel, von dem ich
nicht weiß, ob ich mir diesen Nebel bloß einbilde. Hinunter starren auf
einen See, den es gar nicht gibt. Ein giftiges Gas, schwerer als Luft, ein
Gas, welches Sauerstoff verdrängt. Alles banal."
"Du entsprichst den Erwartungen nicht, die an dich gestellt werden.
Eigentlich müsste ich dein Verhalten unseren Vorgesetzten melden. Du bist
ein Sicherheitsrisiko. Vielleicht solltest du eine Auszeit nehmen."
"Ruf doch an. Man wird dich mit einer Prämie belohnen!"
"Kannst du denn nicht sehen wie perfekt, wie großartig hier alles
organisiert ist? Während des Versuchsstadiums, ja, damals hätte ich deine
Bemerkungen verstanden. Da lief nicht alles so glatt. Es gab Störfälle.
Schnappatmung. Motorische Unruhe. Heute kein Problem mehr. Der See, also das
Gasgemisch, kennt inzwischen feinste Duftnoten, ätherische Öle, die
beruhigend auf das Zentralnervensystem wirken. Man wird es auch noch
schaffen, den See des Schlafs sichtbar zu machen ..."
"Hör doch auf mit deinem Gefasel. Sprichst ja wie jemand aus der
Marketingabteilung. Als wolltest du dich selbst in das Boot legen. Das hat
sich wohl auch unser Architekt ausgedacht ... das Boot trägt Sie in den See
des Schlafs ... Ist doch lächerlich. Ja, es sieht aus wie ein Boot. Aber es
ist schwimmuntauglich. Als hätte man es leckgeschlagen. Taucht es in den
See, so trägt es nicht. Keinen einzigen. Alle saufen ab. Schwimmuntauglich.
Bewegt sich auf Schienen. Ein Eisenbahngefährt. Hinunter in den Tod. Dann
hinauf in die Verwertungsabteilung. Was sich nicht verwerten lässt, landet
in der Verbrennungsanlage, wo die Abwärme genutzt wird, um das Ganze in Gang
zu halten. Wie oft wünsche ich mir hier einen Störfall, eine Schnappatmung,
die eines Passagiers, die des ganzen Unternehmens. Möge doch die gewonnene
Energie eines Menschen, dem wir Totenredner waren, sinnlos verpuffen, die
Abwärme verloren gehen, das Unternehmen zum Stillstand kommen, die Kollegen
in der Kontrollabteilung frieren, das Licht ausgehen. Du mit deinem See des
Schlafs. Längst bist du selbst eingeschlafen. Wir brauchen Störungen. Das
macht den Menschen aus ... Ihr Knie ist jetzt ganz schwer. Sie haben Ihre
Augenlider geschlossen ... Ficken Sie sich doch selbst. Es gibt kein Zurück.
In wenigen Augenblicken werden Sie tot sein! Aber nehmen Sie den Gedanken
mit, dass wir Sie nur bewirtschaftet haben, dass es mir gar nicht gefällt,
Sie mit meiner Stimme in den Schlaf zu wiegen. Wachen sie auf, wenigstens
einen Augenblick. Denken Sie an die Sortier- und Gefrierabteilung ..."
Bernhard Kathan, 2012