Schutzflehende: Gegen den Gesichterraub



Der Krieg in der Ukraine dauert nun schon länger als ein Jahr. Abgesehen von wenigen Wochen habe ich mir jeden Tag Zeit genommen, all das zu dokumentieren, was eben anfiel, angefangen von aktuellen Ereignissen über Auftritte von Putin oder Peskow, dummen Postings in (un)sozialen Medien bis hin zu klugen und bedrückenden Texten. Natürlich empfand ich meine Schreiberei oft genug als sinnloses Tun wie mir denn auch klar wurde, dass sich Gewalt in einer Welt, in der jede Abbildung entwertet wird, jeder graphischen Darstellung entzieht. So lässt sich kein Krieg stoppen. Andererseits hat ein solches Schreiben eine Verzögerung zur Folge. Verzögerungen sind in unserer beschleunigten Welt unabdingbare Voraussetzung, dass einem anderes in den Sinn kommt, sich andere Überlegungen aufdrängen. Etwas verstehen, etwas begreifen, ein Innehalten, all das ist nur möglich, bedient man sich verlangsamender Rezeptionsweisen. Ein Satz kann nur hängenbleiben, hat man ihn Buchstabe um Buchstabe genau gelesen oder geschrieben. Nur wenn man das macht, kann man an eben diesem Satz hängen bleiben, über diesen Satz stolpern, sich fragen wie er zustande kam und was er eigentlich meine. Lässt man eine Abbildung auf dem Schreibtisch liegen, um sie wieder und wieder zu betrachten, erst dann entzieht sie sich einer reflexhaften Einordnung, erst dann wird sie lektüretauglich und zu einem Deutungsfeld. Mag ein Krieg auch ein noch so komplexes Geschehen sein, dass kein Mensch in der Lage ist, ihn wirklich zu verstehen, so ist doch eines gewiss: manches lässt sich klar benennen und muss benannt werden. Menschenrechtsverletzungen sind und bleiben Menschenrechtsverletzungen.

Stets dachte ich dabei im weitesten Sinn an Schutzflehende, an die damit verbundenen Konflikte, denen wir uns stellen müssten. Und da es sich empfahl, auch zeitliche Distanz zu gewinnen, schob sich neben anderen Texten Aischylos‘ Tragödie „Die Schutzflehenden“ in die Schreiberei, ein Stück, in dem entscheidende Konflikte der Hikesie durchgespielt werden, die sich nicht zuletzt aus dem Spannungsfeld von moralischer Verpflichtung und politischem Kalkül ergeben. Die fünfzig Töchter des Danaos fliehen aus Ägypten, um nicht eine Zwangsehe mit ihren eigenen Vettern, den Söhnen des Aigyptos, eingehen zu müssen. Von diesen verfolgt, gelangen sie nach Argos und flehen bei König Pelasgos um Aufnahme und Schutz. Dieser gerät in einen moralisch-politischen Konflikt. Hält er sich an sittliche Übereinkünfte, dann muss er den Schutzflehenden Unterschlupf gewähren, haben sie doch an den Altären der Götter Zuflucht gesucht. Kommt Pelasgos dem Gebot nach, dann droht er in einen Krieg mit den Söhnen des Aigyptos verwickelt zu werden. Auf der Seite der Mädchen steht das Recht, auf der Seite des Königs die von ihm geforderte Verantwortung für das Gemeinwohl jener, deren König er ist. Um nicht in einen Konflikt Fremder hineingezogen zu werden, fallen Pelasgos zahlreiche Argumente ein. Er könne nicht gegen das Volk entscheiden, der Konflikt solle nach den Rechtsgrundsätzen des Herkunftslandes gelöst werden, der Altar, an dem sich die Schutzflehenden drängen, das sei nicht der Altar seines Palastes, also nicht sein Herd. Schließlich lässt sich Pelasgos umstimmen, nicht zuletzt durch die Drohung der Chorführerin, sich am Altar des Zeus zu erhängen: "So werd der Tod eh mein Teil, / Hoch aufgeknüpft im bittern Seil."

Dass von Verfolgung Bedrohte an heiligen Orten Schutz suchten, dafür lassen sich auffallend viele Beispiele für das antike Griechenland nennen. Als besonders schändlich galt es, Schutzflehende von Altären zu zerren oder gar an Altären zu ermorden. Man denke etwa an Theramenes, der, von Kritias mit dem Tod bedroht, Zuflucht an einem Altar suchte, wohl wissend, „dass dieser Altar hier mich nicht schützen wird, aber ich will damit auch dies beweisen, dass diese Leute nicht allein gegenüber Menschen höchst ungerecht verfahren, sondern dass sie auch vor keiner Pietätlosigkeit gegenüber den Göttern zurückschrecken.“ Ähnliches gilt auch für das Ende des Pausanias, der sich, des Verrats bezichtigt, in einen Tempel der Athene flüchtete, was die Spartaner nicht davon abhielt, den Eingang zuzumauern und den Asylsuchenden dem Hungertod zu überantworteten. Die Rache der Göttin fürchtend schreckten sie vor einer offensichtlichen Bluttat zurück wie es auch eines entsprechenden Zeichens bedurfte, das sich als göttliches deuten ließ. Pausanias‘ Mutter soll wortlos einen Ziegelstein in den Eingang gelegt haben. Da es sich dennoch um einen Frevel handelte, musste das Orakel in Delphi befragt werden, welches forderte, den Schutzflehenden wieder zu schaffen: „Nun waren die Spartaner, welche die Erfüllung des Orakels für unmöglich hielten, geraume Zeit in Verlegenheit, weil sie nicht leisten konnten, was von dem Gott befohlen war. Endlich entschlossen sie sich, zu tun, was sie konnten, und ließen zwei eherne Bildsäulen des Pausanias machen, die sie im Tempel der Athene aufstellten.“ (D 504) Es bedurfte also einer zumindest symbolischen Wiedergutmachung.

Selbst wenn Herren ihnen entflohene Sklaven gewaltsam aus dem Altarraum zerrten oder gar im Tempel töteten, verstießen sie gegen Gesetze der Götter. Sie brachen somit den als heilig geltenden Schutz und hatten in der Folge den Zorn jenes Gottes zu fürchten, unter dessen Schutz sich der Schutzflehende begeben hatte. Die Bandbreite der überlieferten Beispiele ist groß. Sie konnten von der Auslieferung bis hin zur dauerhaften Aufnahme reichen, was gegebenenfalls auch hieß, Fremde fortan als Metöken mit eingeschränktem Bürgerrecht unter den Schutz der Asyl gewährenden Stadt zu stellen. Dass es von Staat zu Staat zahllose Regelungen und Bemühungen gab, die Hikesie einzuschränken, tut ihrer eigentlichen Funktion keinen Abbruch.

Als Duketios, der sich 450 v. Chr. als Feldherr der Sikeler nach verlorener Schlacht Syrakus auslieferte, sich dort neben die Altäre setzte, den Schutz der Stadt anflehend, beriefen die Vorsteher eine Volksversammlung und ließen die Frage beraten, was zu tun sei: „Von den gewohnten Rednern rieten einige, ihn als Feind zu bestrafen und wegen seiner Verbrechen die verdiente Rache an ihm zu nehmen. Aber die Rechtlichsten unter den Ältesten erklärten, man müsse sich des Schutzflehenden annehmen und das Schicksal und die Rache der Götter scheuen. Denn nicht darauf müsse man sehen, welche Behandlung Duketios verdient habe, sondern welche den Syrakusern zieme. Einen Mann zu töten, dessen Glück untergegangen sei, das gebühre sich nicht; aber die Ehrfurcht vor den Göttern bewahren und ebendarum dem Flehenden Schutz gewähren, das sei dem Edelmut des Volkes angemessen.“ In der Folge wird Duketios zwar nach Korinth verwiesen, aber mit hinreichenden Mitteln versehen, um seinen Unterhalt bestreiten zu können. (D 543)

Nach der verheerenden Niederlage der Athener und ihrer Verbündeten vor Syrakus, soll – so liest es sich zumindest bei Diodor – in einer Volksversammlung entschieden worden sein, was mit den beiden Feldherren Nikias und Demosthenes, die sich selbst ausgeliefert hatten, geschehen sollte. Nikolaus, einer der Redner, mahnte zur Mäßigung, obwohl er im Krieg zwei seiner Söhne verloren habe: „Habt ihr denn aber nicht an dem Volk vielfache Rache genommen und die Gefangenen genug büßen lassen? Sie haben sich ja mit ihren Waffen ausgeliefert, auf die Milde der Sieger vertrauend; also ist es nicht recht, wenn ihre Hoffnung auf unsere Menschlichkeit getäuscht wird. Die in der Feindschaft unversöhnlich beharrten, sind im Kampf umgekommen; die sich aber uns ergeben haben, sind aus Feinden Schutzflehende geworden.“ Auch wenn diese Volksversammlung so wie beschrieben nie stattgefunden hat, so wird doch in Rede und Gegenrede ganz allgemein der Umgang mit Schutzflehenden durchgespielt. Nikolaus argumentiert nicht nur mit den Geboten der Menschlichkeit. Da sich das Schicksal jederzeit wenden könne, hätten die Sieger die Rache der einst Besiegten zu fürchten. Zwar bleibt es unerwähnt, aber zweifellos dachte Diodor noch an die Rache der Götter, die sich in verheerenden Niederlagen, in durch Dürre bedingten Hungerkatastrophen, Seuchen, Erdbeben und dergleichen äußern konnte. Hätte die von Diodor erwähnte Volksversammlung mit den langen Reden tatsächlich stattgefunden, und wären Nikias und Demosthenes dabei zugegen gewesen, die beiden Feldherren wären wohl kaum niedergemacht worden.

Geradezu idealtypisch liest sich das Beispiel des Themistokles, der sich auf seiner Flucht als Bittflehender an den Molosserkönig Admetos, „der nicht sein Freund war“, wandte, dessen Kind aufnahm und sich an den Herd setzte und ihn beschwor, „wenn er ihm in Athen wirklich einmal ein Gesuch durchkreuzt habe, nicht dafür Rache zu nehmen an dem Verbannten. Er würde sonst seine Macht im Augenblick an einem viel Schwächern auslassen, aber edel sei, sich an einem ebenbürtigen Gegner zu rächen von gleich zu gleich. Auch habe er ihm irgendein Anliegen abgeschlagen, nicht die Erhaltung seines Leibes, während Admetos, wenn er ihn ausliefere (und er sagte ihm, von wem und wieso er verfolgt werde), ihm verwehre, sein Leben zu retten. Auf diese Worte hin hieß Admetos ihn aufstehn mit seinem Sohn (denn den hielt er im Arm, als er dasaß, und das war die mächtigste Schutzbitte).“ (T 105) In der Folge lieferte Admetos den Schutzbefohlenen seinen Verfolgern nicht aus, obwohl er diesen weit näher stand. Statt dessen brachte er ihn in Sicherheit.

Nicht zufällig setzte sich Themistokles an den Herd des Admetos. Der Herd bildete nicht nur das Zentrum einer häuslichen Gemeinschaft, sondern meinte gleichzeitig auch Altar. Wie in allen anderen überlieferten Beispielen haben wir es auch hier mit einem völlig ungleichen Verhältnis zu tun. Im Gegensatz zur Gastfreundschaft, einem reziproken Verhältnis, das unabdingbar auf Gegenseitigkeit, Austausch und Gleichwertigkeit beruht, ist der Bittflehende bloß, wenn nicht nackt. Auf Gedeih und Verderb hat er sich ausgeliefert. Wie hätte sich Admetos verhalten, wäre ihm nur berichtet worden, dass sich Themistokles bittflehend an seinen Herd gesetzt habe? Vermutlich hätte er ihn ausliefern lassen, zumal dieser ihm nichts, seine Verfolger ihm dagegen viel bieten hätten können. Nur der unmittelbare Kontakt, in dem sich der Bittflehende von Angesicht zu Angesicht erklären konnte, dürfte Admetos davon abgehalten haben, das göttliche Gesetz zu missachten. Überblickt man die zahllosen Beispiele, die sich in der antiken Literatur zu Bittflehenden finden, dann zeigt sich, dass es – lässt man kriegsbedingte Exzesse außer acht – zu Verletzungen des Sakrilegs zumeist dann kam, fand kein unmittelbarer Kontakt statt. Was hilft es, nähern sich Menschen mit den Zeichen der Bittflehenden (zumeist mit Wollfäden umwickelten Zweigen des Ölbaums), trifft ein in seinem Zelt sitzender Feldherr die Entscheidung über Menschen, über die ihm nur berichtet wurde.

Da Verhandlungen Zeit in Anspruch nahmen, trugen sie zur Abkühlung von Affektspitzen bei. Zorn und Wut sollten sich nicht unmittelbar entladen. Öffnet sich ein durch Verhandlungen bedingtes Zeitfenster, dann relativieren sich Zuschreibungen wie auch erst dann der Schutzflehende als Person Kontur annimmt. Und wurde am Ende zu Ungunsten des Schutzflehenden entschieden, so konnten sich jene, die die Entscheidung trafen, mit Schuld beladen. In der griechischen Hikesie sind zweifellos die Anfänge dessen zu sehen, was wir heute unter Menschenrechten verstehen. Wurden Schutzflehende preisgegeben, dann gab es bekanntlich kein Halten mehr.

Werden heute Asylsuchende an den Grenzen zurückgewiesen, dann werden sie ihrer Erfahrungen, der Rede wie ihres Gesichts beraubt, was in letzter Konsequenz heißt, dass sie nicht länger als Schutzflehende wahrgenommen werden können. Das kommt einer „Ver-Sachung“ gleich, einer Versachlichung von Menschen mittels bürokratischer wie technischer Mittel, und zwar „‘ohne Ansehen der Person’ nach berechenbaren Regeln.“ Max Weber wies darauf hin, dass dies um so vollkommener geschehe, je mehr sich die Bürokratie ‘entmenschliche’, je mehr „die Ausschaltung von Liebe, Hass und allen rein persönlichen, überhaupt allen irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtsgeschäfte“ gelinge. Denkt man an neue Technologien, dann ist anzunehmen, dass zunehmend Programme darüber entscheiden werden, wer als schutzbedürftig gilt, wer nicht. Schutzflehende werden umfassend dokumentiert sein, aber keine Gesichter mehr haben. Ein zu Verwaltungs- oder Überwachungszwecken von automatischen Kameras dokumentiertes Gesicht kann all das nicht sein, was das Gesicht eines Menschen ausmacht. Gesichter können nur Menschen haben, die angeblickt werden und den Blick erwidern können. Werden Schutzflehende einfach abgewiesen, abgedrängt oder ausgelagert, in „Camps“ diesseits oder jenseits der Grenzen, dann kann sich niemand mehr schuldig machen. Der Umgang mit Schutzflehenden ist alles andere als konfliktfrei. Bereits Aischylos hat diesbezügliche Fragen durchgespielt. Aber Menschenrechte, Demokratie, ja das menschliche Leben selbst und das Miteinander sind ohne Konflikte nicht denkbar. Und vermutlich ist es tatsächlich so, dass eine gewisse Konflikttoleranz im kleinen nicht nur ein Gebot der Menschlichkeit ist, sondern uns vor großen Konflikten bewahrt.

PS.: Künstlerische Eingriffe in Kirchenräumen sind zumeist problematisch. Was lässt sich aufgreifen, was fortsetzen, was entgegensetzen? Da ist es ein Glück, hat man es mit einem unbesetzten Raum zu tun wie dies bei dem längeren und von schräg gestellten Betonelementen begrenzten Gang der Fall ist, der in die Krypta der Innsbrucker Jesuitenkirche führt. Da Darstellungen fehlen, ist der Raum in einem gewissen Sinn unbesetzt, wenngleich mit Bedeutungen überladen. Eine Krypta dient als letzte Ruhestätte. Dann muss sie im architektonischen und theologischen Gesamtgefüge mit all den horizontalen und vertikalen Achsen, die auf Leben und Tod, Diesseits und Jenseits bzw. Auferstehung verweisen, gedacht werden.
Um eine Ausstellung handelt es sich nicht. Für Ausstellungen sind Galerien zuständig. Man kann von einem Eingriff sprechen, in dem es weniger um das Gezeigte geht, sondern dem Gezeigten die Funktion zukommt, einen gewissen Raum zu öffnen, sei es in Form von Irritationen, Gesprächen etc. Und ergibt sich nur eine Frage, dann öffnet sich, mag sie sich auch nicht beantworten lassen, ein großer Raum.

© Bernhard Kathan 2023

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