Daniel Paul Schreber in Wilten. Wenn Fridoline das geahnt hätte!



Daniel Paul Schreber galt nicht zuletzt deshalb als verrückt, weil er sich in einem weiblichen Körper wähnte und davon beseelt war, von Gott begattet und so zu einer Art Urmutter eines neuen Geschlechts zu werden. Inzwischen wissen wir, dass Geschlechtsidentitäten nicht so starr festgeschrieben sind wie lange geglaubt, auch dass es weniger auf Geschlechtsidentität ankommt, sondern auf Beziehungsfähigkeit.

Schrebers Beziehung zu seiner in Wilten geborenen Adoptivtochter Fridoline ist diesbezüglich ein gutes Beispiel, mochte die Adoption auch nicht von ihm, sondern von seiner kinderlosen Frau Sabine betrieben worden sein, die 1900 dem Heldentenor Franz Petter anbot, seine zehnjährige Tochter zu adoptieren, nachdem deren Mutter gestorben war. Fridoline lebte damals noch in Wilten. Schreber selbst war nach wie vor in der Anstalt Sonnenstein untergebracht und wurde von den Adoptionsabsichten wohl nur deshalb in Kenntnis gesetzt, weil eine Adoption ohne seine Zustimmung nicht möglich war. Sabine, selbst Tochter eines Heldentenors und in der Opernwelt bestens vernetzt, war mit Petter befreundet. Es ist zwar nicht dokumentiert, aber ein Liebesverhältnis zwischen den beiden ist denkbar. Immerhin suchte Sabine Schrebers Entlassung aus der Anstalt möglichst zu verhindern. Schreber stimmte der Adoption zwar zu, formalisierte diese allerdings erst, nachdem Petter, der an der Dresdner Oper ein festes Engagement hatte, Dresden verließ. Er wollte Sabine nicht verlieren, den Konkurrenten aber aus dem Feld gerückt wissen. Gewiss hoffte er, durch die Adoption des Kindes die Beziehung zu seiner Frau neu zu beleben, wenn nicht zu retten.

Für Petter wiederum konnte Fridoline nur eine Belastung sein. Warum sollte er, ein erfolgreicher Heldentenor, sich mit einem Mädchen abgeben, das so ganz und gar nicht der Glitzerwelt entsprach, in der er sich bewegte, mehr noch, das ihn ständig an seine Herkunft erinnert hätte. Wie Fridoline entstammte auch er einfachen Verhältnissen. Der 1869 in Innsbruck geborene Franz Petter wäre wohl wie sein Vater Tischler geworden, hätten nicht andere seine Gesangsbegabung erkannt. Er nahm Musikunterricht beim Regens chori von St. Nikolaus in Innsbruck, sang im Vogelweider-Quintett, studierte ab 1890 Gesang in Berlin, gab Konzerte und debütierte 1895 an der Berliner Hofoper. Es folgten Engagements in Prag (1896), Frankfurt am Main (1897–99) und Dresden, wo er besonders erfolgreich war. 1901 sang er in der Richard Strauss-Oper „Feuersnot“ und im selben Jahr in Bayreuth in Wagners „Rheingold“ und „Der Fliegende Holländer“. 1904–11 gastierte er in Köln, wo er noch 1921 auftrat. Eine erstaunliche Karriere, die ohne prominente Gönner und Förderer nicht möglich gewesen wäre. Ein Angebot Baron Nathaniel Rothschilds, sich in Wien zum Operntenor ausbilden zu lassen, schlug er aus, da er dank einer großzügigen Zuwendung einer namentlich nicht bekannten Dame nach Berlin gehen konnte, um beim damals bekannten Sänger Schultze-Strelitz Gesangsunterricht zu nehmen. Nein, in diese Welt passte Fridoline gewiss nicht.

Nach seiner Entlassung scheint sich Schreber, der allgemein als schwieriger Mensch galt und nach wie vor davon überzeugt war, eine Frau mit Brüsten und anderen weiblichen Körpermerkmalen zu sein, intensiv um das Mädchen gekümmert zu haben. Die beiden, sie unternahmen mehrere Reisen, scheinen sich verstanden zu haben. Das ist gut nachzuvollziehen, passten doch beide nicht in das geltende soziale Gefüge, Fridoline ihrer dörflichen Herkunft, ihres Dialektes oder ihrer mangelnden Bildung wegen, weshalb sie ziemlich aus der Rolle fiel, Schreber nicht zuletzt aufgrund seiner geschlechtlichen Selbstwahrnehmung. Durch die Publikation seiner „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ war er zudem zu einem öffentlichen Fall geworden, was es ihm unmöglich machte, obwohl ein brillanter Jurist, eine Stelle anzunehmen. Selbst ein Ausgestoßener nahm er seine Adoptivtochter seiner Frau Sabine gegenüber immer wieder in Schutz, etwa als diese einen Konfessionswechsel forderte und damit drohte, Fridoline wieder in das provinzielle Innsbruck zurückzuschicken, sollte sie nicht zur evangelisch-lutherischen Kirche konvertieren. Rückblickend meinte Fridoline, in seiner Geduld ihr gegenüber sei Schreber mehr Mutter als ihre Mutter gewesen. Mochte sich Schreber auch in einem weiblichen Körper wähnen, ein guter Vater beziehungsweise eine gute Mutter vermochte er dennoch zu sein.

Das Glück der beiden sollte nur von kurzer Dauer sein. 1907, nach einem Schlaganfall Sabines, ließ sich Schreber in eine Heilanstalt einweisen, wo er vier Jahre später starb. Allgemein ist von geistiger Umnachtung die Rede, zutreffender dürfte Verbitterung sein, sein Tod Endpunkt des sozialen Todes, den er in langen Jahren zuvor starb. Heute hätte Schreber wohl wenig Mühe, Menschen zu begegnen, die ähnlich wie er unter einer abverlangten Geschlechtsidentität litten. Heute könnte Schreber in Beziehung treten, sich austauschen, müsste nicht länger gegen die ganze Welt anschreiben oder sein „Ha-ha-ha“ herausbrüllen. Fridoline gegenüber scheint er solches nicht nötig gehabt zu haben. Um es kurz zu sagen: Nicht Ärzte und Psychiater, also nicht die, die Heilung versprachen, tatsächlich aber vor allem bemüht waren, ihn mit oft gewaltsamen Mitteln zuzurichten, sondern Fridoline, das ungebildete Wiltener Mädchen erwies sich für ihn als heilsam, und sei es nur deshalb, weil sie ihren Adoptivvater nahm wie er war, unbekümmert um all das, was über ihn gemunkelt oder geredet wurde. Angesichts einer solchen Leistung wäre es doch an der Zeit, eine der Straßen in Wilten in Fridoline Schreberstraße umzubenennen.

© Bernhard Kathan 2023

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