SCHLUSS JETZT




"Du hast, grüner Heinrich, mit diesem bedeutenden Werke eine neue Phase angetreten und begonnen, ein Problem zu lösen, welches von größtem Einfluss auf die deutsche Kunstentwicklung sein kann. Es war in der Tat längst nicht mehr auszuhalten, immer von der freien und für sich bestehenden Welt des Schönen, welche durch keine Realität, durch keine Tendenz getrübt werden dürfe, sprechen und räsonieren zu hören, während man mit der gröbsten Inkonsequenz doch immer Menschen, Tiere, Himmel, Sterne, Wald, Feld und Flur und lauter solche trivial wirkliche Dinge zum Ausdrucke gebrauchte. Du hast hier einen gewaltigen Schritt vorwärts getan von noch nicht zu bestimmender Tragweite. Denn was ist das Schöne? Eine reine Idee, dargestellt mit Zweckmäßigkeit, Klarheit, gelungener Absicht. Die Million Striche und Strichelchen, zart und geistreich oder fest und markig, wie sie sind, in einer Landschaft auf materielle Weise platziert, würden allerdings ein sogenanntes Bild im alten Sinne ausmachen und so der hergebrachten gröblichsten Tendenz frönen! Wohlan! Du hast dich kurz entschlossen und alles Gegenständliche, schnöd Inhaltliche hinausgeworfen! Diese fleißigen Schraffierungen sind Schraffierungen an sich, in der vollkommenen Freiheit des Schönen schwebend; dies ist der Fleiß, die Zweckmäßigkeit, die Klarheit an sich, in der reizendsten Abstraktion! Und diese Verknotungen, aus denen du dich auf so treffliche Weise gezogen hast, sind sie nicht der triumphierende Beweis ..."
Gottfried Keller, Der grüne Heinrich

Vor acht Jahren dachte ich mir, nachdem ich mich in langen Jahren zuvor, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, mit allerlei Kinkerlitzchen abgegeben hatte, den Rest meines Lebens dringenderen Fragen zu widmen, mich mit Totalitarismen aller Art zu beschäftigen, stand doch zu befürchten, dass sich die Welt in diese Richtung entwickeln würde. Die letzten acht Jahre, ganz zu schweigen von jüngsten Ereignissen, haben diese meine Befürchtungen bestätigt.

Ich habe mich, um das eine oder andere besser zu verstehen, durch Berge von Texten geackert und diese wie an anderer Stelle beschrieben zu graphischen Texturen verarbeitet. Fleißig war ich auf jeden Fall. Da der Zeilenabstand durchwegs 3 mm betrug und ich stets das ganze Blatt beschrieben habe, lässt sich, insgesamt handelt es sich um genau 837 Blätter, die zurückgelegte Distanz ziemlich genau benennen. Als einzige Linie gedacht ergeben sich etwa 18,46 Kilometer, was in etwa der Entfernung von Innsbruck bis Flaurling entspricht. Beachtlich auch die Menge an verbrauchten Stiften.

Natürlich hätte ich an solchen Graphiken bis zum Ende meines Lebens weiterarbeiten können. Aber irgendwann erschien mir es zunehmend sinnloser, und zwar nicht, weil es sich nicht lohnte, sondern weil diese ganze Beschäftigung letztlich nicht kommunizierbar ist. Ich möchte all die Monate, in denen ich mich etwa an Hermann Brochs Massenwahntheorie abgearbeitet habe, nicht missen. Aber bewegt man sich in einem Umfeld, in dem man sich über die dabei gesammelten Erfahrungen nicht unterhalten kann, diese bestenfalls zur kurzweiligen Unterhaltung dienen, dann wird man zwangsläufig von Zweifeln befallen. Schreibt man sich Zeile um Zeile durch Janusz Korczaks Tagebuch aus dem Warschauer Ghetto, konsumiert man dieses nicht in vorgesetzter Pillenform, dann fällt man ziemlich rasch aus allen Alltagskonversationen, die bekanntlich sehr hilfreich sind, gilt es, Konflikte und Brüche zu umschiffen. Dessen wurde ich mir insbesondere dann bewusst, schrieb ich wie so oft in einem Lokal, was mir die Erfahrung einer gewissen Alltäglichkeit erlaubte, den Abgrund zwischen meiner Beschäftigung und all den zumeist höchst belanglosen Gesprächen um mich herum dagegen nur umso deutlicher zu Bewusstsein brachte. In so einem Kontext über Janusz Korczak zu sprechen, das käme zudem einer absoluten Trivialisierung gleich. Freilich machte ich manchmal andere Erfahrungen. Aber es läuft einem nicht jeden Tag eine Psychoanalytikerin über den Weg, mit der man sich darüber unterhalten könnte, warum Korczak bis zur Deportation bemüht war, den Kindern im Alltag so etwas wie Normalität zu vermitteln, obwohl dieser Alltag längst alles andere als normal war. Es gibt zwar Unmengen an Literatur zu unterschiedlichsten Formen totaler Herrschaft, aber im konkreten Leben der Menschen scheint all das unter der Wahrnehmungsschwelle zu liegen, aus dem Gesichtskreis zu fallen, was an die Fidschi-Insulaner denken lässt, die das ausgesetzte Boot, nicht aber die mächtige Fregatte zu sehen vermochten. Es war also eine recht einsame Tätigkeit.
Oft wurde meine "schöne Schrift" bewundert und gelobt. Auch meine Disziplin, mein Fleiß. An einer schönen Schrift liegt mir nichts, wie auch Fleiß und Disziplin nur dann einen Sinn ergeben, verdanken sie sich einer Absicht, einem Ziel.
Ich habe in all den Jahren viel gelernt. Zum einen gilt das für formale Fragen. Was lässt sich überhaupt abbilden? Welche Illustration ist angemessen? Das Endprodukt mühevoller Arbeit entsprach manchmal so gar nicht dem, was ich ursprünglich in meinem Kopf hatte. Die beiden Eva Klemperer gewidmeten Katzen habe ich zwar gut auf das Blatt gebracht, sie schienen mir aber, kaum hatte ich den Ausdruck in seiner ganzen Größe vor mir liegen, ganz unangemessen und so gar nicht zu den von Victor und Eva Klemperer erlittenen Drangsalen zu passen. Und als mich die beiden Katzen dann auch noch an Heinrich Hoffmanns "Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug" denken ließen, in der Paulinchen die Warnungen von Minz und Maunz missachtend zu einem Häufchen Asche verbrennt und von den beiden beweint wird, hätte ich das Blatt nur zu gerne in tausend Fetzen zerrissen. Was nützt es schon, dass ich weiß, warum die beiden Katzen ins Bild geraten sind, wenn Betrachter darin doch etwas ganz anderes sehen! Und nun liegt der Ausdruck neben anderen in einer Mappe, die inzwischen so schwer ist, dass ich allein gar nicht mehr in der Lage bin, sie aufzuheben. Dennoch: "Fehler", gleichgültig, ob es sich um formale Lösungen oder inhaltliche Gewichtungen handelt, sind höchst kostbar, so man sie zur Kenntnis nimmt, reflektiert und sich darauf aufbauen lässt.
Sicher hat sich mein Blick auf das geschärft, was sich heute unter totalitärer Herrschaft verstehen lässt. Zwangsläufig habe ich manche Krise erlebt, habe ich mich doch, um das eine oder andere besser zu verstehen, durch nicht wenige Abgründe bewegt. Viele der Texte, an denen ich mich abgearbeitet habe, drückten schwer auf mein Gemüt. Es ist alles andere als ein Vergnügen, mehrere Wochen mit Briefen und Reden Himmlers beschäftigt zu sein. Mein Traumgeschehen war auf jeden Fall höchst aktiv. Und wenn ich es glauben will, dann soll ich im Schlaf nicht selten geseufzt, einmal sogar geweint haben.
Oft musste ich an den grünen Heinrich denken, der ständig scheiternd durch sein Leben torkelt, vor allem an das 15. Kapitel des dritten Teils der zweiten Fassung, in dem Heinrich von Selbstzweifeln geplagt ein großes Blatt mit "begonnenem Vordergrund mit je einem verwitterten Fichtenbaume" in ein sinnloses Strichelwerk aufzulösen beginnt: "Aber kaum hatte ich eine halbe Stunde gezeichnet und ein paar Äste mit dem einförmigen Nadelwerke bekleidet, so versank ich in eine tiefe Zerstreuung und strichelte gedankenlos daneben, wie wenn man die Feder probiert. An diese Kritzelei setzte sich nach und nach ein unendliches Gewebe von Federstrichen, welches ich jeden Tag in verlorenem Hinbrüten weiterspann, sooft ich zur Arbeit anheben wollte, bis das Unwesen wie ein ungeheures graues Spinnennetz den größten Teil der Fläche bedeckte. Betrachtete man jedoch das Wirrsal genauer, so entdeckte man den löblichsten Zusammenhang und Fleiß darin, indem es in einem fortgesetzten Zuge von Federstrichen und Krümmungen, welche vielleicht Tausende von Ellen ausmachten, ein Labyrinth bildete, das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war."

An einem Tiefpunkt angelangt, hoffte ich im Sinne einer Neujustierung auf eine äußere Betrachtung meines Tuns. Mehrfach habe ich in Sachen Kunst- und Kulturkritik Erfahrene, die ich kannte und deren Arbeit ich schätzte, gebeten, gegen das übliche Honorar eine Kritik zu schreiben, und zwar ganz frei, ohne jede Rücksicht auf meine Befindlichkeiten, zumal fremde Sichtweisen der Klärung einiger grundlegender Fragen dienen sollten. Ich hatte Gauguin im Hinterkopf, der Strindberg bat, einen Text zu seinen Arbeiten zu schreiben. Strindberg schrieb eine vernichtende Kritik. Gauguin ließ den Text dennoch drucken. Das hat mir gefallen. Wenn ich jemanden bitte, einen Blick auf meine Arbeit zu werfen, dann ist mir dieser Blick kostbar und muss auch gültig sein. Alles andere wäre erbärmlich. Meine diesbezüglichen Bemühungen liefen mehrfach ziemlich ähnlich ab. Ich bat, stellte Material zusammen, erklärte dies und das. Wir einigten uns. Nur lösten sich die von mir Gebetenen, aus welchen Gründen auch immer, wie Kondensstreifen am Himmel in nichts auf. Dass eine distanziertere Betrachtung meiner Arbeit nicht einmal gegen Bezahlung möglich war, hat mir deren Sinnlosigkeit endgültig vor Augen geführt, wie mir auch klar wurde, dass es Kunstkritiker:innen schwer fällt, von der Person des Künstlers, der Künstlerin abzusehen und die Betonung auf das Allgemeine zu legen. Es ging ja nicht um mich, sondern um die generelle Frage, mit welchen künstlerischen Mitteln eine Auseinandersetzung mit totalitären Bedrohungen gelingen oder nicht gelingen kann. Selbst eine vernichtende Kritik hätte mich gefreut. Dazu kam noch, dass die bei Wettbewerben oder Ankäufen eingereichten Arbeiten durchwegs abgelehnt, wohl irgendeiner Art Hobbykunst zugeordnet wurden, ihnen also ein ernsthaftes Tun abgesprochen wurde. Kunst wird nach ihrem Marktwert bemessen. Ist man auf dem Markt nicht präsent, so existiert man nicht, mag man sich noch so sehr mühen und plagen. Verweigert man zudem noch entlastende Narrative, hat man weder Moral noch Lösungen zu bieten, tut dies ein übriges. Über die entstandenen Graphiken kann man durchaus geteilter Meinung sein, wie es mir übrigens auch immer egal war, ob das nun Kunst sei oder nicht. Ginge es um Graphiken, die sich in jedes Wohnzimmer oder jede Arztpraxis hängen lassen, dann hätte ich ohnehin anders arbeiten müssen. Es braucht nicht sehr viel Kunstfertigkeit, um Bilder herzustellen, die einem breiteren Publikum gefallen, und wenn man nicht ganz dumm ist, dann lassen sich solche auch noch "philosophisch" mit Bedeutung aufladen, mögen sie noch so bedeutungslos sein.
Also: Schluss damit. Es ist sinnlos, sich mit drohendem Ungemach zu befassen. Auch gibt es Beschäftigungen, die der eigenen Stimmung zuträglicher sind. Selbst ein zufällig auf ein Blatt geratener Fleck kann mir gefallen, worüber sich lange schreiben ließe.

© Bernhard Kathan, 2023