Zeichnung: Bernhard Kathan Zeichnung: Bernhard Kathan Zeichnung: Bernhard Kathan

Zu Gast bei Polyphem
Bernhard Kathan


Zeichnung: Bernhard Kathan Zeichnung: Bernhard Kathan
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Die hundertsechs Augen Gottes. Ein blaues Auge. Das Auge eines Zyklopen. Noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Als erstes gilt es, das Auge aus dem endlosen Raum zu holen. Als Ort sei ihm der Winkel zugewiesen, ein Winkel in einem Haus, eine Ecke in einem Zimmer, in dem man sich gern verkriecht, sich in sich selbst zusammenzieht. Der Winkel ist eine Art Kastenhälfte, halb Wand, halb Tür. Hier soll das Auge sicher sein, vor allem sehen. Der Winkel als letzter Fluchtpunkt, um sich vor Schlägen zu schützen. Sich in einem Winkel verbergen, sich unsichtbar machen. Und dann das Kind, zur Strafe in einen Winkel gestellt, mit dem Gesicht zur Wand. Beginnt das Kind die Mauer zu lesen, die Spuren, die kleine Fingernägel in der Wand hinterlassen haben, wirkt der Winkel wie ein Vergrößerungsglas. Der Winkel hat seine Sogkraft wie das Auge eines Zyklopen, das Gottesauge. Wein gegen Essen tauschen. Die Höhle des Polyphem, gefüllt mit Lämmern und Käse. Das Auge des Zyklopen, ein zweiter Mund, eine verschlingende gefräßige Höhle. Auge und Mund sind nicht voneinander geschieden. Mit offenem Auge schlafen. Eine mächtige Keule aus grünem Olivenholz. Tief in das Auge bohrt sich der brennende Pfahl. Es prasselt, das erlöschende Auge zischt wie heißes Eisen im Wasser. Tränen rollen an den Wangen herab und mit beiden Händen drückt er sich den Purpurmantel fest vor die Augen. Augen machen wie ein gestochenes Kalb. Die schwarzen samtenen Augen des Kälbchens sind plötzlich sehr groß, stehen still, sind weiß umrandet, jetzt drehen sie sich zur Seite. Ja, so blicken die Tiere, aber wir haben heute noch so viel zu tun. Der Kopf zittert am Fell. Der Körper auf der Bank wirft sich. Die Beine zucken, stoßen, kindlich dünne, knotige Beine. Aber die Augen sind ganz starr, blind. Es sind tote Augen. Das ist ein gestorbenes Tier. Betrübt dich mein ausgebranntes Auge? Dann leih mir dein Auge, sage mir, in welchem Winkel sich der Frevler verbirgt. Spritzt sein Gehirn von der Höhlenwand, so wird mein Herz wieder froh. Namen sind gleichgültig. Der Herr von Pappe. Eines Tages verliert er sein eines Auge, und es ist blau, weil er blaue Augen hat. Und wie er es auch überall sucht, er findet es nicht wieder. Könnte man doch die Augen, um sie zu schonen, wie Glasaugen herausnehmen. Wer wieder sehen will, braucht sich die aufbewahrten Augen einfach nur wieder einzusetzen. Verliert jemand seine Augen, so bedient er sich geliehener. Das blaue Auge aber hat ein bildschönes Mädchen gefunden. Sie betrachtet es heimlich, und da es blau ist, gefällt es ihr zu gut. Darum nimmt sie ihr eigenes, ein braunes Auge, heraus und setzt dafür das gefundene blaue ein. Und Sie glauben es gar nicht, was sie da plötzlich alles sieht mit dem blauen Auge: dass zum Beispiel die jungen Mädchen Kleider anhaben, aber sie möchte mehr sehen, denn es ist ein Männerauge. Darum ärgert sie sich mit ihrem einen blauen Auge, dass die Mädchen Kleider anhaben; aber mit dem anderen braunen Auge schämt sie sich, solch ein Mädchen zu sein. Das ist zu komisch. Endlich hat sie sich sattgesehen und sich sattgewundert und will das blaue Augen wieder herausnehmen, um ihr eigenes braunes wieder einzusetzen; aber es geht nicht, denn das blaue Auge ist zu groß und hat sich festgeklemmt. Das ist ins Auge gegangen. Die Welt mit den Augen eines Stieres sehen. Das Grün der Wiese rot wie Blut. Was gelb war, hat sich zu einem Violett gewandelt, mit einem Stich wie ins Zinnoberische. Die Kühe auf der Weide sind lieblich anzusehen. Das machen die Stieraugen. Wer versucht, den Verlust seines Auges durch ein auf Pappe gemaltes Auge zu kaschieren, sollte nicht vergessen, ein Glanzlicht darauf zu setzen. Sonst kommt der Betrug ans Tageslicht. Herr von Pappe ist im Besitz des braunen Mädchenauges. Kaum hat er es eingesetzt, schwärmt er für Schauspieler, Tenöre und Zahnärzte, und weil es ein Mädchenauge ist, blickt er schamhaft an jedem Mädchenkleid herunter, wird mit seinem braunen Auge alle Augenblicke rot. Mit seinem blauen empfindet er gänzlich anders. Und da möchte Herr Pappe sein blaues Auge gar nicht gern zurück tauschen, sondern lieber das braune zu Studienzwecken behalten. (Runde Kugeln innen glatten Schleim sprangen aus die Augen sanfte Hände ...) Und werden die beiden zum Paar, so sieht der eine immer mit dem Auge des anderen. Augen in fremden Körpern, Augen am falschen Ort. Ein drittes Auge im Nacken, zwischen zerbrechlichen Wirbeln, ein weit geöffnetes wahnsinniges Auge mit einer sich weitenden Pupille und einem rosa Geäder auf dem glänzenden Apfel. Auge nennt man auch den Triebansatz beim Propfen: Oculieren. Seine Augen aus den Augenhöhlen herausnehmen und einige Zentimeter vom Kopf entfernen. Da gehöre nur eine gewisse Willenskraft dazu, Überwindung des unangenehmen Gefühls beim Berühren des Augapfels. Doch drücke man nicht zu stark, könnte doch das Auge mit dem Fingernagel verletzt werden. Man umwickle den Zeigefinger mit einem weichen Tuchlappen und setzte ihn an der Nasenecke an, den ebenfalls umwickelten Daumen von der Schläfe aus, drücke energisch, und "kllltsch" ... Der Sehnerv und die verschiedenen Muskeln geben wie Gummi nach. Mag sich zu Beginn auch ein unbehagliches Kältegefühl bemerkbar machen, so ist die Operation doch völlig schmerzlos. Das Auge um den Kopf herum führen, Nacken und Ohr betrachten, sich aus der Vogelperspektive beschauen, die Mundhöhle ein wenig inspizieren, das Auge in den weit geöffneten Mund stecken, da wird das Zäpfchen sichtbar, Gott, wie nett!, etwas weiter vorgeschoben, da ist der Kehlkopf zu sehen: "flitsch" ... Die Augen werden auf einem Teller mit Messer und Gabel serviert. Die Speiseröhre, ein trautes, rötliches Halbdunkel. Das Auge, weitergeschoben von leichten, wiegenden Bewegungen. Das stampfende Ding links muss das Herz sein, die große rasselnde und pustende Sache, die fast den ganzen Brustkorb anfüllt, wohl die Lunge. Ein gewaltiges Toben und Arbeiten hier drinnen, wie in der Halle eines modernen Fabrikbetriebes. Da gibt es viel zu staunen. Aber dann ein heftiges Sauggefühl und eine stechende Schärfe. Glatt schleimen Austern Augen senken Magen ... Und schließlich hat das Auge eine neue Wohnstatt gefunden. Gerahmt von Hämorrhoiden hängt es am After. Das prädestiniert zum Schausteller. So lässt sich gute Münze machen. Augen, die sich flüchtig gemacht haben, die in den Kronen hoher Bäume sitzen, herausgeschnittene Augen, nicht nur von Tieren, auch von Menschen. (Kurt Schwitters / Gaston Bachelard / Alfred Döblin / Hermann Harry Schmitz / Georges Bataille / Maurice Renard / Laurence Manning / Wladimir Odojewski / ... und andere.) Stich der Katze doch die Augen aus, ich habe meine verloren. Eine Schale mit kleinen runden Früchten gefüllt, mit Kugeln, Menschenaugen, abgetrennt vom Sehnerv. - Siehst du das Auge? - Ja, und? - Es ist ein Ei. - Worauf willst du hinaus? - Ich will mich damit amüsieren. Das Auge eines toten Priesters. Man hat doch in seiner Brieftasche eine kleine Schere. Die kleine weiße Kugel in ihrer Hand. Das Auge in der Spalte ihrer Hinterbacken, dann tief hineingeschoben in den Hintern. Das blassblaue Auge starrt aus der behaarten Vulva, Tränen von Urin vergießend. Machtlos blickt es aus jenen Körperstellen, die zu betrachten Gott verbot. Eine radikalere Verwerfung des alles sehenden göttlichen Auges ist nicht zu denken. Eine Schachtel öffnen, ein Auge sorgfältig herausnehmen, um zu sehen, ob es noch ganz sei. Ein Auge aus Wachs und Glas, das sich zerlegen lässt, um den Bau des menschlichen Auges zu erklären: "Das ist das wahre Auge Gottes!" Das Auge als Schatulle. Eine goldene Busennadel, ein paar Ringe, eine Haarlocke, Liebesbriefe. Sehen als eine Abfolge von Fotografien. Das Auge als Dunkelkammer, die Netzhaut als lichtempfindliche Platte. Und die Sehnerven eine Schicht von Salzen, die das Licht zersetzen. Begeht man die Unvorsichtigkeit, einen leuchtenden Punkt allzu lange anzuschauen, so ist's geschehen: Das Sehnetz stellt sich nur langsam wieder um und manchmal bleibt das Bild unzerstörbar eingebrannt. Nach dem Bild des Mörders in der Netzhaut des Opfers suchen. Dann das Auge als Röntgenapparat. Durch das Zellgewebe sehen, als wäre es nur ein Schleier. Das zuckende Herz im Körper der Geliebten. Die Gallenblase, die Bewegungen der Därme. So wird die lebende Geliebte zum anatomischen Präparat. Ihre einst bewunderten Augen, nichts als ein optischer Apparat, einer camera obscura. Ihr anmutiger Gang, nun nichts weiter als ein Mechanismus von Hebeln. Vor solchem Auge zerlegt sich alles in der Natur, nichts mag sich in der Seele zu vereinigen: er sieht alles, begreift alles, doch zwischen ihm und den Menschen, zwischen ihm und der Natur ist ein ewiger Abgrund; nichts in der Welt fühlt mit ihm. Die Augen haben ihren Glanz vollkommen und auch etwas von ihrer Wölbung verloren, sind matt und trübe; die Pupille ist gegen alle Reize unempfindlich. "Wo bleiben meine Augen?" - "Hier bringe ich sie: Sie sehen aus wie Mottenkugeln." - "Das sind meine Augen." Wüsste man nur, welches auf die eine und welches auf die andere Seite gehört. Mit einem sanften Ruck werden zuerst die Augen in ihre Höhlen gedrückt. Ziehen und Zerren, bis sie wieder richtig an ihrer Stelle liegen. Dabei kommt einem die Kenntnis des inneren Menschen sehr zu gute. Ein Auge zudrücken. Meine verpflanzten Augen, was stürzt auf euch ein? Hitchcock: Vertigo. In der Spirale des Vorspanns sieht er die Zeit, die, je mehr sie sich entfernt, ein umso breiteres Feld bedeckt, ein Zyklon, der in diesem Augenblick das regungslose Auge ist ... Madeleine vor dem Porträt einer Verstorbenen, die sie nicht hätte kennen dürfen. Und auf dem Porträt wie im Haar Madeleines: die Spirale der Zeit. All seine Versuche, Faustine seine Liebe zu gestehen, scheitern. Kein Blinzeln, nicht einmal ein leichtes Zucken der Augen. Ihm scheint, als posierte sie für einen unsichtbaren Fotografen, als dienten ihre Augen nicht zum Sehen, ihre Ohren nicht zum Hören, als gehorchte sie einer vorgegebenen, sinnlosen Choreographie. (Valencia.) (Tea for Two.) Menschen, eingesponnen in einen Kokon aus silbrigen Drähten, so fein gesponnen, dass sie fast unsichtbar sind. Die Drähte entsprießen den Gesichtern wie Barthaare. Eine hellfarbige, deckelartige Blende bedeckt die Augen. Endlos maschinell erzeugte Traumgesichte. Mögen die Träume noch so lustvoll sein, so zehren sie doch an der Substanz. Die Schläfer, nach Jahren nur noch Haut und Knochen. Die Rippen stehen hervor wie bei einem halb verhungerten Hund. Zu nähren vermag nur, gibt auch der Empfangende, das Kind sein Lächeln, der Fremde, zum Gast geworden, seine Erzählung. Polyphem weiß um das Gastrecht nicht, sieht er die Welt doch nur mit einem Auge. Polyphem hat nur ein Auge. Deshalb ist ihm jede andere Sicht fremd. Gott dagegen ist ein einziges Auge. Er ist nur Auge. Gott hat weder Hände, noch Beine. Vor allem verfügt er über keinen Magen. Er bedarf keiner Nase, um die Welt zu riechen, keiner Zunge, um sie zu schmecken, keines Mundes, um sie zu verschlingen. Wenn man sich jemand beim Defäzieren vorstellen kann, dann Polyphem. Entlädt er sich, dann ist es, als ginge ein Gewitter nieder. Und der Gestank, der sich breit macht, ist nicht auf eine schlechte Verdauung zurückzuführen. Mag ich auch in einer Höhle schlafen, so verberge ich mich doch nicht. Hört meine laute Stimme. Wer kleiner ist als ich, zwei Augen hat, sei mir ein willkommenes Mahl. Der Menschenfresser: "Guten Morgen!" - Der andere: "Guten Morgen!" - "Wo gehst du hin?" "Ich bin auf dem Weg, meine Verwandten zu besuchen." Ein Mann ohne Augen. Vielleicht hat er die Augen unter dem Schulterblatt, vielleicht am Hinterkopf. "Lass das Beil! Ich sehe genau, du willst mich totschlagen!" Wo es kein Gastrecht gibt, kann der Fremde keinen Namen haben. So nennt sich denn Odysseus O?t??, also "Niemand". Polyphem, von diesem geblendet, ruft in seinem Schmerz die anderen Zyklopen herbei. "Niemand" habe ihn geblendet. So kommt ihm keiner zu Hilfe. Polyphem, allein gelassen, erblindet. Endgültig erblindet auch, das Gottesauge. An die Stelle des alles sehenden Auges sind technische Augen getreten. Diesen Augen ist alles Wohlwollen fremd. Es sind kalte Augen. Sie sind blind, was den Menschen, seine Ängste, Hoffnungen, Nöte, Obsessionen oder Schwächen betrifft. Diese kalten Augen wollen keine leibliche Gemeinschaft - im Gegenteil, sie verabscheuen sie, als fürchteten sie Ansteckung, Trübung ihrer kalten Klarheit. Kalte Augen schlagen dann Alarm, zeigen sich Abweichungen im vorgegebenen Verhalten, fährt jemand zu schnell, gegen die Einbahn, befindet sich jemand zur falschen Zeit am falschen Ort, trägt jemand in Menschenansammlungen einen Rucksack, zeigt ein Kleidungsstück verdächtige Ausbuchtungen, ist ein Mensch aufgrund seiner äußeren Erscheinung einer Gruppe zuzuordnen, die mit Risiko assoziiert wird. Auch all diesen Augen ist das Gastrecht fremd. Nur hilft es nicht länger, sich Outiz zu nennen. Vielgescholtener Polyphem, lass uns auftragen vom Besten.


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