Der Peloponnesische Krieg: mit digitalen Mitteln geführt






Die letzte Schlacht im Hafen von Syrakus endete für die Athener mit einer so fürchterlichen Niederlage, dass sie nicht einmal an die Bergung ihrer vielen Toten dachten, sondern nur noch daran, so schnell wie möglich abzuziehen. Eindringlich beschreibt der sonst so zurückhaltende Thukydides die Verzweiflung und Apathie, die sich im Heer der Athener und ihrer Verbündeten breitmachte:
"Furchtbar war das nun, nicht nur das eine Ganze des Geschehenen, dass sie sämtliche Schiffe verloren hatten und abziehn mussten, statt mit großen Hoffnungen nun mit Gefahren für sich selbst und die ganze Stadt, sondern beim Verlassen des Lagers boten sich jedem für Auge und Herz qualvolle Bilder dar: die Toten lagen unbegraben, sooft einer einen der Seinigen liegen sah, erregte es ihm Kummer und Angst; und die Lebenden, die zurückblieben, Verwundete und Kranke, waren noch viel mehr als die Gefallenen den Lebenden bejammernswert und unglückseliger als die Umgekommenen: vor ihrem Flehen und Wehklagen wusste man sich nicht zu retten, wenn sie mitgenommen zu werden verlangten und laut jeden einzelnen anriefen, wen sie von den Kameraden oder Angehörigen grad sahen, wenn sie sich an die nun scheidenden Zeltgenossen anhängten und ihnen folgten, so weit sie konnten, und wo einen die Kraft verließ und der Körper versagte, zurückblieben mit nicht wenig Beschwörungen und Wehgeschrei, so dass das ganze Heer vor strömenden Tränen und Hilflosigkeit nicht leicht von dannen zog." Der Rückzug scheiterte. Die Überlebenden, es sollen nicht weniger als 7000 gewesen sein, landeten in den Steinbrüchen von Syrakus: "In eingeschnittenem und engem Raum viele, litten sie anfangs noch unter der Sonne und der Hitze, wegen des Schattenlosen, und die darauf folgenden kalten Herbstnächte mit ihrem jähen Umschlag brachten Krankheiten, und da sie wegen der Enge alles am gleichen Ort taten und außerdem die Toten ebendort übereinander geschichtet wurden, die an den Wunden und an dem Umschwung und dergleichen gestorben waren, so waren die Gerüche unerträglich, und zugleich quälten sie Hunger und Durst ..."

Versetzen wir uns einmal in die Jahre des Peloponnesischen Krieges. Stellen wir uns vor, durch eine seltsame Verschränkung der Zeiten wären Athener, Spartaner und all ihre Verbündeten in den Besitz digitaler Technologien gelangt, wobei sich allerdings weder an ihrer Lebensweise, noch an ihrer Kriegsführung etwas geändert hätte. Nach wie vor würden Bauern und Sklaven in mühsamer Arbeit Äcker bestellen, Getreide, Wein oder Oliven ernten. All die Feste und Spiele würden wie gehabt stattfinden. Wichtige Entscheidungen würden in Athen nach wie vor auf dem Pnyx in der Volksversammlung getroffen, in Sparta läge das letzte Wort bei den Ephoren. Nach wie vor würden in Landschlachten Hopliten in strenger Ordnung aufeinandertreffen, umgeben von Leichtbewaffneten und Reitern. Nach wie vor würden sie auf See mit Trieren gegeneinander kämpfen. (Dass weder die einen noch die anderen wirklich verstehen hätten können, was sich auf Bildschirmen zeigt, dass sie größte Mühe gehabt hätten, digitale, also abstrakte Karten mit Raumvorstellungen zur Deckung zu bringen, die auf vielfältigsten sinnlichen Wahrnehmungen und Erzählungen basierten, lassen wir einmal außer acht.)

Mit Hilfe von Computerprogrammen hätten sich die optimale Anzahl an Trieren oder Hopliten, die optimalen Mengen an nötigen Nahrungsmitteln und vieles andere berechnen lassen. In welchem Winkel sollte ein Rammstoß erfolgen, um eine gegnerische Triere zu versenken? Wie ließe sich die Konstruktion einer Triere optimieren, um eine Geschwindigkeit von mehr als sieben Knoten erreichen zu können? Ließe sich die Anzahl der 170 nötigen Ruderer verringern, um mehr Hopliten aufnehmen zu können oder weniger Platz für Wasser und Verpflegung zu benötigen? In den Trieren steckte viel Erfahrungswissen. Mochten sie auch nicht hochseetauglich, Winterstürmen schon gar nicht gewachsen sein, so waren sie, was Konstruktion, Ausmaße, Tiefgang und Gewicht, nötige und mögliche Belastung, Verringerung des Reibungswiderstandes oder Manövrierfähigkeit betraf, erstaunlich ausgereift. All das verdankte sich Erfahrungswissen und handwerklichem Können. Angesichts der verfügbaren Materialien und technischen Hilfsmittel kann man die arithmetischen Leistungen nur bewundern. Mit Hilfe von modernen Rechenprogrammen hätten sich Trieren zwar nicht maßgeblich, aber doch bis zu einem gewissen Grad verbessern lassen. Allein eine Beschleunigung um einen Knoten hätte sich bei einem Seegefecht als absoluter Vorteil erwiesen. Das gilt auch für die damals gebräuchlichen Ruder, ihre Länge oder die Form des Ruderblattes, erst recht für die Konstruktion als Gesamtheit, bei der alle wichtigen Elemente in einem mehrfachen wechselseitigen Verhältnis zu sehen sind.

Kündigt sich ein schwerer Sturm an, dann empfiehlt es sich nicht, in See zu stechen. Viele Trieren gingen in Stürmen verloren. Mit Hilfe von exakten Wetterprognosen hätte sich das vermeiden lassen. Es macht keinen Sinn, eine Festung zu belagern, wenn der Angriff wegen eines plötzlichen Wintereinbruchs abgebrochen werden muss. Dank Satellitenaufnahmen wären Stärke, Lage und Bewegungsrichtung gegnerischer Trieren oder Truppenverbände bekannt gewesen. Die Besatzungen der im Piräus liegenden Trieren hätten sich nach Einbruch der Dunkelheit ruhig schlafen legen können. Durch Bewegungsmelder wären sie früh genug auf das Nahen einer spartanischen Flotte aufmerksam gemacht worden. Ähnlich, wie sich bei heutigen Fußballmannschaften dank künstlicher Intelligenz Spielverläufe und somit entscheidende Fehler analysieren lassen, so hätten sich durch die Auswertung von Schlachten alte Fehler vermeiden und neue Strategien entwickeln lassen, um selbst überlegene Gegner vernichtend zu schlagen.

Auf jeden Fall hätten sich mit geringeren Mitteln größere Wirkungen erzielen lassen, vor allem hätte die Tyche, also der immer wieder beschworenen Glücksfall oder Zufall, eine geringere Rolle gespielt. Auch wenn Zufälle nie ganz auszuschließen sind, so hätten sich doch Vorhersagen, die damals oft auf ungenauen Angaben, Berichten und Erzählungen beruhten, deutlich verbessern lassen. Entscheidungen hätten daten- bzw. faktenbasiert getroffen werden können. Nicht länger wäre es nötig gewesen, vor Beginn eines Kriegszuges das Orakel in Delphi zu befragen oder vor einem Grenzübertritt zu opfern. Fehlte dem Opfertier ein Leberlappen, galt dies als böses Omen. In diesem Fall konnte ein Kriegszug abgebrochen oder eine Schlacht verschoben werden. In der Regel wurde allerdings das Opfer so lange wiederholt, bis die Zeichen günstig waren.

Während des Peloponnesischen Krieges fehlte es nicht an technischen Neuerungen, von denen sich manche als schlachtentscheidend erweisen sollten. So verkürzten die Syrakuser die Schnäbel ihrer Schiffe, machten sie klobiger und verdickten die Ohrlappen am Bug, von denen aus sie sechs Ellen lange Streben gegen die Bordwand spannten. Da die attischen Schiffe - die den Rammstoß nicht Bug gegen Bug, sondern eher aus der Umfahrung heraus zu vollführen pflegten - nicht entsprechend gezimmert waren, waren im engen Hafen von Syrakus, der den attischen Schiffen das übliche Manöver nicht erlaubte, die Syrakuser im Vorteil. Die Vorderschiffe der Athener barsten, wenn der klobige und dicke Schnabel auf ihre zu leicht gebaute Vorderseite traf.

Ähnliche Neuerungen lassen sich auch für die an Land geführten Schlachten nennen. In der um 650 v.Chr. üblich gewordenen Form des Hoplitenkrieges standen sich Phalanx gegen Phalanx auf ebenem Feld gegenüber. Reiter und Leichtbewaffnete spielten nur am Rande eine Rolle. Bevor die gegnerischen Formationen aufeinanderprallten, stimmten sie den Apollon geweihten Paian an. Wer das Feld behauptete, war Sieger. Ihm fiel die Beute zu, eine Verfolgung des Gegners über das Schlachtfeld hinaus fand nicht statt. Die höchst ritualisiert geführten Schlachten endeten mit der Errichtung eines dem Zeus Tropaios geweihten Siegeszeichens an der Stelle, an der sich die Feinde zur Flucht gewandt hatten, üblicherweise sobald die unterlegene Seite durch ihre Bitte um Herausgabe der Toten ihre Niederlage eingestanden hatte.

Während des Peloponnesischen Krieges begann sich die erwähnte Schlachtordnung aufzulösen. Ob zu Lande oder zu Wasser, die Kriegsführung wurde dynamischer. Reiter und Leichtbewaffnete (zumal Bogenschützen), die im Gelände beweglicher waren als Hopliten mit ihrer schweren Rüstung und strengen Aufstellung, gewannen an Bedeutung. 371 v.Chr. gelang es dem Thebaner Epameinondas in der Schlacht von Leuktra, dank der von ihm erdachten sogenannten "schiefen Schlachtordnung", das spartanische Heer kriegserprobter Hopliten nahezu vollständig aufzureiben. Hopliten trugen ihren Schild am linken Arm, deckten also mit dem eigenen Schild ihre linke Körperhälfte und die rechte Schulter ihres linken Nachbarn, während ihre eigene rechte Schulter wiederum durch den Schild ihres rechten Nachbarn geschützt wurde. Da der rechte Flügel an seiner Außenseite verletzlich war, wurde er zumeist mit den kampferprobtesten Einheiten besetzt. Deshalb galt er als der "ehrenhafte" Flügel. Die hier positionierten Hopliten neigten dazu, beim Aufeinanderprallen dem Zentrum der eigenen Phalanx zuzustreben. Solange sich Phalanx gegen Phalanx in der herkömmlichen Form gegenüberstanden, war das kein großes Problem. Zu einem solchen wurde es erst, wenn es dem Gegner gelang, massiven Druck auf die verletzliche Stelle auszuüben, eine Taktik, die mithilfe der Reiterei, durch gelegte Hinterhalte oder auf andere Weise geschehen immer öfter eingesetzt wurde.

Nicht nur die Schlachtordnung begann sich aufzulösen. Lange übliche Schiedsgerichte, bei denen sich die Streitparteien dem Schiedsspruch eines Heiligtums oder einer neutralen Polis unterwarfen, wurden nicht mehr eingesetzt. Allgemein geltende und von allen mehr oder weniger anerkannte Konventionen wurden brüchig, nicht zuletzt deshalb, da die immer größer werdenden Heere wegen der enormen eigenen Verluste auf Söldner, unter ihnen viele Nichtgriechen, und fragliche Bündnispartner angewiesen waren. Bei Thukydides finden sich mehrere Beispiele für schaurigste Gewaltexzesse, so etwa ein Überfall von Thrakern auf das in Boiotien gelegene, unbefestigte und sich in Sicherheit wiegende Mykalessos: "Die Thraker brachen ein, zerstörten Häuser und Heiligtümer und mordeten die Menschen, sie schonten nicht das Alter und nicht die Jugend; alles und jedes, was ihnen begegnete, Kinder und Frauen machten sie nieder, ja dazu noch das Zugvieh und was sie sonst Lebendiges erblickten [...]. Und nicht genug mit allem sonstigen Schreck, der nicht gering war, und dem Sterben in jeder Gestalt: sie brachen auch in eine Knabenschule ein, die dort die größte war, und eben waren die Knaben hereingekommen, und hieben alle nieder; mehr noch als aller Jammer, der die ganze Stadt befiel, war ihr dies unfassbar und entsetzlich."

Um die Verpflegung von Heeren oder Soldzahlungen zu finanzieren, arteten Kriegszüge zu Raubzügen aus. Solche konnten auch Städten, Orten oder Landstrichen gelten, die am Kriegsgeschehen selbst bislang völlig unbeteiligt gewesen waren. Ich habe zwar keine ausdrückliche Erwähnung gefunden, es ist aber anzunehmen, dass sich im Tross zunehmend Sklavenhändler befanden, ohne die es nicht möglich gewesen wäre, unmittelbar nach einer Schlacht all jene zu verkaufen, die man gefangen genommen hatte, wobei ein solches Schicksal vor allem unbewaffnete Stadtbewohner, Männer, Frauen, Kinder oder Bauern traf, die gerade auf den Feldern beschäftigt waren.

Der Peloponnesische Krieg im engeren Sinn ging im Frühjahr des Jahres 404 v.Chr. mit einer vernichtenden Niederlage Athens zu Ende. Die Stadt, die von Flüchtlingen überquoll, wurde belagert und musste sich, da eine Hungersnot ausbrach, auf Gedeih und Verderb den Spartanern ergeben. Athen hatte seine Flotte bis auf zwölf Schiffe auszuliefern. Die langen Mauern wurden geschleift, und zwar, wie Xenophon schreibt, "unter der Begleitmusik von Flötenspielerinnen mit vielem Eifer [...] in dem Glauben, jener Tag bedeute für Hellas den Anfang für Freiheit." Der Krieg war allerdings nicht zu Ende. Noch Jahrzehnte zog er sich hin mit wechselnden Bündnissen und Gegnern. Mochte er sich auch um die Vorherrschaft Spartas drehen, so zerfiel er in zahllose, kaum noch zusammenhängende Einzelereignisse, die kein klares strategisches Konzept mehr erkennen lassen. Was geschah, bestimmte zumeist der Zufall, die Tyche. Oft ging es nur noch darum, in benachbarte Gebiete einzufallen, Bäume umzuhacken, Ernten zu vernichten, das Vieh wegzutreiben und Hütten anzuzünden. So unternahmen die Spartaner nur deshalb einen Kriegszug ins Argivische, weil sie es nicht ertrugen, ihre Nachbarn in Frieden leben und "die Früchte ihres Landes genießen" zu sehen. Andere konnte ein solches Schicksal treffen, weil die Angreifer meinten, nach einem früheren Raubzug sei "vielleicht noch ein Baum oder Stück bestellten Ackers geblieben [...], den sie noch zerstören" könnten. Untätige Heere vertrieben sich die Zeit mit Brandschatzen. Manche schlossen sich nur deshalb einem Feldzug gegen ihre Nachbarn an, weil sie angesichts deren sicherer Niederlage bei der Verteilung der Beute zur Stelle sein wollten. Ging es nur noch um Beute, dann gab es zwar Verlierer, aber keine Sieger mehr, was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass oft nicht mehr daran gedacht wurde, ein Siegeszeichen aufzustellen oder einen Teil der Beute den Göttern zu weihen, wie es nach Schlachten üblich gewesen war.

In der allgemeinen Verrohung schien kein menschliches oder göttliches Gebot mehr zu gelten. Anschläge und Überfälle konnten auch während religiöser Feiern geschehen, selbst heilige Stätten wurden geplündert. Auch die wurden umgebracht, die an Altären Schutz suchten. Hatte sich jemand in einen Tempel geflüchtet, dann erstiegen die Verfolger das Gebäude, deckten das Dach ab und erschlugen die Schutzsuchenden mit den Ziegeln. Wer sich unter Zusicherung freien Geleits ergab, wurde gefesselt, verschleppt und hingerichtet, zuweilen auch schon an Ort und Stelle abgeschlachtet. Schließlich wurde nichts und niemand mehr geschont, wurde getötet um des Tötens willen, weil "der Gott die Gelegenheit dazu gab". Xenophon stellt nüchtern fest: "Die Menschen, ansonsten nur gewohnt, Haufen von Getreide, Holz oder Steinen zu sehen, erblickten nun Haufen von Leichen."

Die Kriegswirren nahmen erst 362 v.Chr. ein Ende und wurden abgelöst von einem "allgemeinen Frieden", wenn auch nicht einsichtshalber. Die Städte waren zu ausgeblutet und erschöpft, um weitere Aufrüstung zu betreiben, die Heere zu schwach, um ihre ebenso schwachen Gegner besiegen zu können. Xenophon schließt sein Geschichtswerk mit den resignierten Worten: "Mit dem Abschluss dieser Kämpfe war das Gegenteil von dem erfolgt, was alle Welt erwartet hatte. Denn da fast ganz Griechenland zusammengekommen und gegeneinander angetreten war, gab es keinen, der nicht geglaubt hätte, wenn eine Schlacht stattfinde, würden hernach die Sieger zur Herrschaft gelangen und die Besiegten ihnen untertan sein. Aber der Gott ließ es so geschehen, dass beide Parteien wie Sieger ein Siegeszeichen errichteten und keine von beiden die andere im Aufrichten desselben hinderte, die Toten gaben beide Parteien wie Sieger unter dem Schutze eines Vertrages heraus, und beide nahmen die ihrigen wie Besiegte unter dem Schutze des Vertrages in Empfang; und indem jede von beiden behauptete, gesiegt zu haben, besaß doch offenkundig keine von beiden weder an Land noch an Städten noch an Macht auch nur das Geringste mehr als vor der Schlacht; aber Unordnung und Verwirrung wurden nach der Schlacht in Hellas noch größer, als sie vorher waren."

Mit Hilfe der Digitalisierung hätte sich die Kriegsführung der Athener und Spartaner zweifellos "optimieren" lassen, aber am Krieg selbst hätte sich nicht das Geringste geändert, ganz im Gegenteil, es wären noch mehr Olivenbäume und Weinstöcke umgehackt, noch mehr in der Reife stehende Getreidefelder niedergebrannt, noch mehr Vieh weggetrieben, noch mehr Mauern geschleift, noch mehr Städte verwüstet, noch mehr Männer, Frauen und Kinder abgeschlachtet oder in die Sklaverei verkauft worden. Der Krieg wäre nur noch unerbittlicher geführt worden. Die kriegerischen Auseinandersetzungen hätten sich zwar nicht bis in das Jahr 362 v.Chr. erstreckt, aber geblieben wäre nichts als eine Wüste. Keine Polis hätte eine neue Blütezeit erlebt, stattdessen hätten alle Spartas Schicksal geteilt, das, aufgestiegen zu großer Macht, binnen weniger Jahre in absoluter Bedeutungslosigkeit versank.

Digitalisierung hätte nichts zur Lösung all der Konflikte beitragen können, da all den Programmen eines fehlt, nämlich ein Konfliktverständnis, zumal sie all das Menschliche ausblenden, dieses nicht zu fassen vermögen, kein Sensorium für erlebte oder erzählte Geschichte, für erschlagene Väter oder Mütter, für erlebte Demütigungen haben, ganz zu schweigen vom metaphysischen Überbau, der der Rahmung all des anderen oder einem selbst Zugefügten dient. Die Eigendynamik, die während des Peloponnesischen Krieges immer offensichtlicher zu Tage trat, hätte sich auch nicht mit den besten Rechenprogrammen vermeiden lassen. Schon nach wenigen Jahren konnte sich keine der Kriegsparteien daran erinnern, weshalb der Krieg überhaupt begonnen worden war. Und wie bei einem Computerprogramm ging es stets nur noch darum, auf eben Vorgefallenes zu reagieren, wobei sich gleichzeitig, genährt durch empfindliche Niederlagen oder erfahrene Gewalt, das wechselseitige Misstrauen immer höher auftürmte.

Jeder Krieg ist von irrationalen Impulsen getrieben, mögen Einzelentscheidungen noch so sachlich begründet sein, mag er aus Vernunftgründen geführt oder gerechtfertigt werden, mögen sich Taktiken und Ausrüstung noch so sehr "optimieren" lassen. Das Irrationale entzieht sich der Berechnung. Was, wenn ein Feldherr sich nicht von Erwägungen der Vernunft leiten lässt, ihm die Hoffnung auf einen glänzenden Sieg lieber ist als sein Leben, er seine Entscheidungen im Affekt trifft? Was, wenn Entscheidungen von Schuld oder Scham getrieben sind? Der Ausgang einer Schlacht ist trotz aller Berechnungen und Vorhersagen von vielen Zufällen abhängig, von einem unbeachtet gebliebenen Wassergraben, einem Sumpf, einem lächerlichen Mauerwerk, das sich geordneten Bewegungen entgegenstellt, einem plötzlich hereinbrechenden Gewitter oder einem Erdbeben. Es muss nur ein Feldherr, tödlich von einem Speer getroffen, zusammenbrechen, und schon löst sich die vermeintlich siegreiche Phalanx auf. Ist der Feldherr gefallen, dann ist die Schlacht verloren, selbst wenn die Gegner unterlagen und in die Flucht getrieben wurden. Ist eine Schlacht geschlagen, dann löst sich jede Ordnung auf, nicht nur die der Besiegten. Auch die Sieger verlieren jede Disziplin, beginnen zu morden, zu rauben und zu plündern. Genau in diesem Augenblick kann alles wieder kippen.

Und wie viele Missverständnisse sind denkbar! Befinden sich unter den Verbündeten und den Gegnern Hopliten, die den Paian im selben dorischen Dialekt anstimmen, dann schlachten, ist der Gegner in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen, Verbündete Verbündete ab. Vielfältigsten Täuschungsmanövern, die sich durch den Peloponnesischen Krieg ziehen, ließe sich auch mit digitalen Mitteln nur bedingt begegnen. Werden Computerprogramme mit falschen Informationen gefüttert, dann deuten sie die Zeichen falsch, wobei Falschinformationen in Zeiten digitalisierter Kriegsführung an Bedeutung gewinnen. Formen sich Menschen zu Massen, dann lässt sich deren Dynamik trotz aller Simulationen weder berechnen noch vorhersagen. Ist die Blindheit digital aufgerüsteter Geheimdienste nicht oft genug bemerkenswert?

Bei all den kriegerischen Ereignissen im Griechenland des fünften und vierten Jahrhunderts ging es nicht nur, wie wir es in der Schule gelernt haben, um Hegemonialansprüche. Sieht man von kurzen Zeitspannen ab, so standen die enormen Kriegskosten in keinem sinnvollen Verhältnis zu abgepressten Tributen, ganz zu schweigen von all dem Leid und den Verlusten an Menschenleben, die mit diesen Kriegen verbunden waren. Sparta konnte sich als Hegemonialmacht behaupten, blutete aber aus. Athen verlor seine Stellung als Seemacht, die Einnahmen der Stadt sollten aber schon bald ein Mehrfaches von dem betragen, was sie in früheren Jahren ihren Bündnispartnern an Tributen abgepresst hatte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen müssen also andere Ursachen gehabt haben. Denkt man an all die Widersprüche einer Polis wie Athen, dann dienten Kriege oft genug der Spannungsabfuhr. In einem Krieg ließen sich bedrohliche Entladungen nach außen verlagern, wobei Rache, Tributzahlungen oder anderes als Vorwand dienen konnten. In Gesellschaften, in denen der Krieg eine so große Rolle spielte - insbesondere Sparta war auch in Friedenszeiten als Heerlager organisiert -, konnten junge Männer nur durch Teilnahme an einem Feldzug zu wirklichen Bürgern werden. Nur so konnten sie Prestige erwerben. Der Krieg diente als Ritual der "Selbstdarstellung und Selbstbestätigung der Männergesellschaft, die sich in der Todesbegegnung, im Trotz der Todesbereitschaft und im Rausch des Überlebens stabilisiert" (Walter Burkert, Homo necans). Es ging also nicht nur um rivalisierende Interessen, die sich nach mathematischen Regeln abgleichen ließen. Keine noch so ausgefeilte künstliche Intelligenz wird in der Lage sein, all die Ebenen, von denen ich nur einige andeutungsweise erwähnt habe, auseinanderzuhalten. Das wäre nur möglich, wenn man den Menschen abschaffen würde.

Hin und wieder bestraften die Athener gefangengenommene spartanische Ruderer mit dem Abhacken der rechten Hand. Immerhin ließen sie sie am Leben. Künstliche Intelligenz hätte ihnen empfehlen können, das Abhacken der rechten Hand systematischer zu betreiben. Männern, denen die rechte Hand fehlt, eignen sich nicht mehr als Ruderer, noch weniger für den unmittelbaren Kampf. Nach weiteren Seeschlachten und einer gewissen Zeitverzögerung hätte das Programm eine Korrektur vornehmen müssen, denn da sich diese Art der Bestrafung überall herumgesprochen habe, würden die einhändigen Männer als lebende Beweise für die Grausamkeit der Athener betrachtet. Unnötige Rachegefühle würden geweckt. Besser sei es, so das Programm, Schiffbrüchige des Gegners ins Wasser zurückzustoßen und sie ihrem Schicksal zu überlassen. Da dennoch nach jeder Seeschlacht zumeist einige überlebt hätten, weil es ihnen gelungen war, an das nahe Ufer zu schwimmen oder sich an einem Wrackteil so lange festzuklammern, bis sie von einer der eigenen Trieren aufgenommen wurden, hätte das Programm, um Zeugen zu vermeiden, auch das korrigieren müssen: Schiffbrüchige des Gegners sollten also fortan nicht nur zurückgestoßen, sondern dabei mit Lanzen erstochen werden. Im Krieg wird getötet. Ginge es nach Rechenprogrammen, dann müsste noch mehr, noch gezielter getötet und vernichtet werden.

Kam es während des Peloponnesischen Krieges zu Unterbrechungen oder wurde ein Ausufern der Gewalt verhindert, dann verdankte sich dies oft genug dem Kultus, also Institutionen, die wir dem Irrationalen zuordnen. Wiederholt wurden Kriegszüge wegen religiöser Feierlichkeiten hinausgeschoben oder abgebrochen, wie auch das Orakel in Delphi bestrebt war, Gewalttätigkeiten einzudämmen oder die schlimmsten Praktiken auszuschließen, nicht ganz uneigennützig, zumal Delphi von Opfern und Opfergaben lebte und in einem völlig zerstörten Griechenland selbst seine Bedeutung verloren hätte. Zwar eher den Spartanern zugeneigt, durfte es Athen und andere Städte nicht aus dem Blickfeld verlieren, sollte es Heiligtum aller Hellenen bleiben. Nur selten waren Orakelsprüche als konkrete Ermunterung zu einem kriegerischen Unternehmen zu verstehen. In der Regel waren sie mehrdeutig. Sie bedurften nicht allein der Übersetzung durch die Priester der Pythia, sondern auch einer Auslegung durch jene, die das Orakel hatten befragen lassen. Die Wegstrecken, die nötig waren, um einen Orakelspruch zu erlangen, waren mit einem Zeitverlust, mit einer Zeitverzögerung, im besten Fall mit einer gewissen Abkühlung erhitzter Affekte verbunden. Im delphischen Orakel konnte sich die Verbindung zwischen dem Irrationalen, dem Unterbewussten, dem aus der Tiefe der Triebe Strömenden einerseits und aufgeschlossener Intelligenz andererseits als weitschauende Vorsorge entfalten. Eine delphische Priesterin soll Sokrates geboten haben, auf seinen Dämon zu hören, was ihn daran erinnern musste, dass sein vernünftiges Denken nach wie vor im Prärationalen von Höhlen, Grotten oder Kulten verwurzelt war. Kein noch so ausgefeiltes Computerprogramm wäre solcher Brückenschläge fähig.

Mäßigende Funktion konnte auch der Proxenie zukommen, zumal Verhandlungen oder Friedensschlüsse sich oft genug Gastfreunden verdankten, dem Umstand also, dass Bürger in anderen Städten als Gastfreunde betrachtet und behandelt wurden. Mit Perspektiven des Gegners vertraut, konnten sie, so sie in ihrer Herkunftsstadt genügend Einfluss und Ansehen hatten, vermittelnd eingreifen. Nur lässt sich die Proxenie nicht aus dem Hut zaubern, nicht programmieren, sie muss erlebt, erfahren werden. Gastfreund konnte nur sein, wem Obdach gewährt wurde, wer zu Tisch geladen wurde, wer zuhörte und auch von sich selbst sprach, sich preisgab.

Will man einen Krieg beenden, muss man über den eigenen Schatten springen können, versuchen, die Perspektive des Gegners einzunehmen, dessen Kränkungen und Verletzungen zu sehen. Auch die besten Rechenprogramme sind dazu nicht in der Lage. Trotz aller Vorhersageleistungen sind sie völlig unfähig, sich ein Geschehen vorzustellen, das nicht mehr gutzumachen ist. Auch künstliche Intelligenz kann da nicht weiterhelfen: Kein noch so komplexes Rechenprogramm wird in der Lage sein, Schuld einzugestehen, Reue zu zeigen. Und produzierte es Worte der Reue, sie kämen nicht von Herzen, könnten es nicht, blieben also wirkungslos. Maschinen können weder träumen, noch in Gleichnissen sprechen, wie etwa Kallistratos in seiner durch Xenophon überlieferten Rede vor den Spartanern. In den von ihm verwendeten Gleichnissen, einerseits ein erfolgreicher Wettkämpfer, der nach einigen sportlichen Siegen nicht mehr aufhören kann und am Ende als gedemütigter Verlierer vom Platz geht, andererseits ein Unbegabterer, der einen Wettkampf gewinnt, sich selbst dann aber überschätzt, spielt Kallistratos also auf etwas an, was damals sowohl Athenern wie Spartanern höchst vertraut war. Auch wenn er sich nicht unmittelbar auf den Krieg bezog, so müssen doch alle Zuhörer verstanden haben, was er damit meinte. Das Leben besteht eben nicht nur aus Daten und Fakten oder Gesetzmäßigkeiten, wofür nicht nur jeder Krieg in all seiner Unschärfe anschauliche Beispiele liefert.

Heutige Kriege werden vor allem digital geführt. Hunderttausende von Informatikern sind direkt oder indirekt damit beschäftigt, oft ohne sich dessen bewusst zu sein. Drohnen lassen sich in ferne Ziele steuern, die Infrastruktur des Gegners lässt sich durch Hackerangriffe lahmlegen, die Reichweite von Waffensystemen lässt sich vergrößern. Digitale Mittel machen es möglich, die Kriegsführung zu "optimieren", nur eines können sie nicht, nämlich Kriege beenden. Wäre es anders, dann müssten sich heutige Konflikte, ganz gleich, ob sie nun in Bergkarabach, in der Ukraine, im Jemen oder in Palästina, in Afghanistan oder in Syrien stattfinden, problemlos beenden lassen, werden sie doch zu einem entscheidenden Teil digital geführt, mögen auch Verhaltensweisen aus archaischen Zeiten erhalten geblieben sein. Nach wie vor werden Bäume umgehackt, Bauwerke sinnlos zerstört, wird wo immer möglich gegnerische Kultur vernichtet, werden Wehrlose hingemetzelt, Frauen und Mädchen vergewaltigt. Mit digitalen Mitteln lassen sich Konflikte nicht verstehen, schon gar nicht lösen.

Gälte es Kriege zu verhindern, dann müsste künstliche Intelligenz mit Thukydides gefüttert werden, hat er doch als erster die Mechanismen von Kriegen untersucht und dabei neben anderem erkannt, dass Kriege sich der Anhäufung von Macht verdanken, Auswirkungen auf die Moral von Siegern und Besiegten haben, gesellschaftliche Wertesysteme untergraben, oft durch kleinste Anlässe, die aber nicht eigentliche Ursache sind, ausgelöst werden, und dass weder ein Sieg noch die Beendigung von Kampfhandlungen tatsächlich Frieden zur Folge haben muss.

Aber das wäre nicht möglich, ist doch digitalen Technologien das Siegen eingeschrieben. Sie bringen das zu einem vorläufigen Ende, was in frühen Großreichen wie jenen der Sumerer oder Assyrer mit all dem Zählen seinen Anfang nahm, das Menschen in Sklaven und Freie, Lebende und Tote schied, mit Aufzeichnungssystemen, mit deren Hilfe sich die kleinsten Dinge festhalten ließen, zum Beispiel, ob ein Soldat nach einem Feldzug die ihm zur Verfügung gestellte Rüstung oder Waffen wieder abgegeben hatte. Man denke an Listen mit genauen Angaben über Anzahl, Alter, Geschlecht, Beruf und Gesundheitszustand von Verschleppten. Digitale Technologien sind vor allem mit Erfahrungen von Siegern gefüttert. Zu anderen Ergebnissen könnte die beste künstliche Intelligenz erst dann gelangen, würde sie mit Erfahrungen jener gefüttert, denen die Herrschaftsgeschichte noch nie einen Platz zugewiesen hat, mit denen der Bewohner von Melos, die von den Athenern abgeschlachtet wurden, weil sie sich nicht am Krieg beteiligen wollten, mit denen von Wüstenvätern oder Mönchen, die sich in China ins Gebirge zurückzogen, mit denen von Kopfjägern, ausgerotteten Feuerlandindianern, Pygmäen, Sklaven, mit denen von in den Wehen liegenden Frauen, von Frauen, die gezwungen waren, den Mördern ihrer Familien Nachkommen zu gebären, mit denen von Kindern, die ihren Eltern entrissen, von all den zahllosen Opfern, die gewaltsam verschleppt und umgebracht wurden, mit dem Wissen eines Robert Walser oder eines Paul Scheerbart, also von Menschen, die in gesellschaftlichen oder geschäftlichen Dingen ganz unbegabt waren. Warum nicht mit der Weltsicht eines Nagai Kafū, der selbstgenügsam gleichbleibende Spaziergänge unternahm und mit Vorliebe in Yoshiwara übernachtete? Warum nicht an Tiere denken, die in Zoos hinter Gittern leben, oder an Ochsen, die einem Mädchen, das einen mit Gerstenkörnern gefüllten Korb vor ihnen her trägt, zur Opferbank folgen? Es wären so viele Erfahrungen zu nennen, die Eingang in Rechenprogramme finden müssten, sollten sie den Gesetzen des Lebens und nicht jenen des Todes gerecht werden.

Wir sind Ruderer in der Zeit und unterscheiden uns trotz Digitalisierung nicht wesentlich von jenen, die auf den Trieren in den Riemen hingen. So lange sie das Ruder fest in der Hand hielten, übten sie Kontrolle aus, meinten sie, in eine bestimmte Richtung zu fahren, einem bestimmten Ziel zuzustreben. Dabei saßen sie mit dem Rücken zur Fahrrichtung, sahen also, so sie überhaupt etwas sehen konnten, eher das Zurückliegende als das Kommende. Wie damals jene, so projizieren wir Vergangenes in die Zukunft.

© Bernhard Kathan, 2021