„Der Papst ist tot!“
„Wann ist ein Mensch tot?“
„Wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen.“
„Aber das Herz von möglichen Organspendern schlägt. Und doch gelten sie als
tot.“
„Ein Mensch ist dann tot, wenn er über kein Bewusstsein mehr verfügt.“
„Menschen können aber nach langer Bewusstlosigkeit wieder zu sich kommen.“
„Bei meiner Großmutter war das nicht so. Meine Mutter setzte es durch, dass
die Maschinen abgestellt wurden.“
„Damit sie sterben konnte?“
„Nein. Sie war schon tot.“
„Aber sie atmete doch, hatte warme Hände. Atembewegungen waren zu sehen.“
„Aber sie war tot. Sie reagierte nicht.“
„Hast du sie besucht?“
„Nein. Es mag traurig sein, aber ein Mensch, dessen Gehirn kaputt ist, der
ist tot. Man trifft nur noch auf Umrisse, Ähnlichkeiten. Es gibt keine
Person, kein Gegenüber mehr. Es ist wie mit einer Ameise, der man den Kopf
abreißt. Sie bewegt sich. Aber sie ist tot.“
„Du erzähltest doch, dass deine Großmutter für dich sehr wichtig war. Als
Kind habe sie dich auf einer Bahnfahrt nach Sylt auf dem Schoß gehalten. Du
hättest dich damals sehr geborgen gefühlt.“
„Aber nun war sie tot. Tote besucht man nicht. Man geht zum Begräbnis.“
Gasthausgespräch>
Der Ausbau des Rettungswesens, die Beschleunigung des Transportes
Schwerstverletzter wie die Weiterentwicklung der Intensivmedizin hatten zur
Folge, dass sich vermehrt Personen mit schwersten Hirnschädigungen in den
Spitälern fanden, die früher kaum lebend das Krankenhaus erreicht hätten.
Dies machte es notwendig die Frage zu klären, bis zu welchem Zeitpunkt
intensivmedizinische Behandlungen angezeigt sind und wann ein Abbruch
geboten ist. 1968 formulierte ein Komitee der Harvard Medical School die
erste zusammenhängende Beschreibung des Hirntodes. Da in diese Zeit auch die
ersten Herzverpflanzungen fallen, ging es auch um die Frage der Entnahme
„lebensfrischer“ Organe für Transplantationen. In der Intensivmedizin wird
ein Patient, dessen Atmung und Herztätigkeit sich wie andere Organfunktionen
mit Hilfe von Maschinen aufrechterhalten lassen, dann als tot definiert,
sind alle Gehirnfunktionen irreversibel ausgefallen, die auf Wahrnehmung und
Bewusstsein schließen lassen. Das Abschalten des Beatmungsgerätes wird
demnach nicht als Sterbenlassen, sondern als Beendigung einer medizinischen
Maßnahme betrachtet. Diese werde an einem schon Toten, der den
entscheidenden Punkt zwischen Leben und Tod bereits überschritten habe,
durchgeführt. Eine Organentnahme habe nichts mit einer Vivisektion zu tun,
vielmehr handle es sich um einen Eingriff an einer Leiche. Auch wenn sich
das Erscheinungsbild eines Hirntoten von einer Leiche in Totenstarre durch
augenscheinliche Lebenszeichen (Herzschlag, Blutkreislauf, Hautfarbe,
Nierenfunktion, Reflexe u.s.w.) unterscheide, so lasse sich mit Hilfe der
Intensivmedizin bestenfalls die Funktionstüchtigkeit bestimmter Organe
aufrechterhalten, keinesfalls aber ein prinzipiell lebensfähiger Organismus.
In der klinischen Praxis ist die Hirntoddefinition weitgehend unumstritten.
Wer nach den geltenden Regeln als „hirntot“ definiert wird, ist hirntot. Er
wird also nicht mehr zu neuem Leben erwachen, mag sein Herz auch schlagen.
Kritiker halten entgegen, auch wenn keine Aussicht auf ein Weiterleben
bestünde, so sei der Patient nicht als Leiche zu betrachten, vielmehr
befände sich dieser in einem Sterbeprozess. Irreversibel Hirntote werden wie
andere Intensivpatienten genährt, gewaschen und gepflegt. Ihr Herz schlägt.
Sie atmen, wenn auch mit Hilfe von Beatmungsgeräten. Sie sind warm, der
Stoffwechsel funktioniert. Hirntote Frauen können Kinder gebären, hirntote
Männer Erektionen haben. Hirntote Patienten werden vor der Organentnahme
anästhesiert. „Spender“ können beim ersten Schnitt mit Blutdruckanstieg
reagieren.
Lange bevor die Intensivmedizin zwang, den Eintritt des Todes neu zu
definieren bzw. die traditionellen Todeskriterien zu ergänzen, wiesen eine
Vielzahl von medizinischen Experimenten und Beobachtungen auf mögliche
Unschärfen von Leben und Tod hin. Punktuell seien einige Beispiele genannt:
Bereits im achtzehnten Jahrhundert gelang es, Kranke nach einem
Herzstillstand wieder zu reanimieren. Meist wurden heftige Reize angewandt.
Der Arzt William Tossach beschrieb 1744 einen Fall, der in den Grundzügen
durchaus heutigen Vorstellungen der Reanimation entspricht: „Das Herz, der
Blutkreislauf, die Atmung des Patienten standen still. Der Mann schien tot
zu sein. Ich blies ihm, so fest ich konnte, Luft in den Mund, aber da ich
vergessen hatte, ihm die Nase zuzuklemmen, entwich die ganze Luft wieder.
Mit der einen Hand hielt ich ihm die Nase zu, mit der anderen übte ich
Druckbewegungen auf seine Brust aus, während ich erneut begann, ihm Luft in
die Lungen zu pusten. Auf der Stelle nahm ich sechs oder sieben sehr
schnelle Herzstöße wahr. Seine Brust hob sich, einen Augenblick später
konnte ich seinen Puls fühlen. Ich öffnete daraufhin eine Ader am Arm, aus
der zunächst das Blut herausspritzte, dann eine Viertelstunde lang
tropfenweise hervortrat, bis das Blut wieder normal floß. Währenddessen rieb
ich ihn ab und massierte ihn kräftig, um so den Blutkreislauf zu
stabilisieren. Ich wusch ihm Gesicht und Schläfen und gab ihm Riechsalz in
die Nase und in den Mund. Die Lungen fuhren fort, sich zu füllen und wieder
zu leeren, nachdem ich ihre Funktion wiederhergestellt hatte; eine halbe
Stunde lang arbeiteten sie wie ein Blasebalg, mehr nicht. Der Mann stöhnte
nicht, Augen und Mund waren weit geöffnet. Nach einer Stunde etwa begann er
zu gähnen, die Augenlider, Hände und Füße zu bewegen.“ Bereits vier Jahre
vor William Tossach publizierte René-Antoine Ferchault des Réaumur in einer
Arbeit zur Wiederbelebung Ertrunkener die früheste Beobachtung einer
künstlichen Beatmung.
Bevor es Vorstellungen heutiger Anwendungen von Elektrizität gab, diente sie
der Unterhaltung, bei der sich unterschiedliche Phänomene zeigen ließen, das
Überspringen von Funken, sich sträubende oder leuchtende Haare. 1775 ließ
sich in einem dieser Experimente demonstrieren, dass sich ein Huhn durch
einen elektrischen Schlag in einen todesähnlichen Zustand versetzen, dann
aber durch eine weitere elektrische Entladung wieder zum Leben erwecken
lässt. Die in der Literatur erwähnten Experimente mit Elektrizität, man
denke etwa an Edgar Allan Poes Erzählung Disput mit einer Mumie (1845),
haben nahezu spielerischen Charakter. Es wäre falsch, darin einzig
literarische Übertreibungen zu sehen. Die frühe Physiologie kannte eine
geradezu anarchische Experimentierfreude. Um sich davon zu überzeugen, sei
allein die Lektüre von Buffons Experimenten empfohlen. Dennoch, viele der
damals vor Publikum durchgeführten Versuche haben entscheidend zur
Theoriebildung beigetragen, darunter auch zur Vorstellung, dass der
Stillstand des Herzens allein nicht mit dem Tod gleichzusetzen ist.
Dem Physiologen Charles Edouard Brown-Séquard gelang es 1857, den
abgetrennten Kopf eines Hundes eine Viertelstunde lang am Leben zu erhalten.
Ein Jahr nach dem erwähnten Experiment brachte er ein Herz wieder zum
Schlagen, indem er ihm das Blut eines Tieres zuführte. Es folgten viele
verwandte Experimente. Das Blut wurde sorgfältig gereinigt, mit Sauerstoff
angereichert und direkt in die Kranzarterien, die die Herzmuskulatur
versorgen, eingespritzt. Von den Tierversuchen war es kein großer Schritt,
dies auch an Herzen Hingerichteter zu studieren. 1892 gelang es Hédon und
Gilis, das Herz eines Hingerichteten eine Dreiviertelstunde nach seiner
Hinrichtung durch Blutzufuhr wieder zum Schlagen zu bringen. Das Herz war
also nicht tot, sondern nur „scheintot“.
Bereits der französische Anatom Xavier Bichat beschrieb um 1800 einen
Sterbeverlauf, bei dem zuerst das Gehirn abstirbt und dann erst andere Teile
des Organismus. Er beobachtete auch, dass der Tod nicht ein abruptes Ende
des Lebens, sondern einen Prozess bedeutet, bei dem der Gesamtorganismus
erst nach und nach abstirbt. Insbesondere Nägel und Haare können auch nach
dem Tode noch weiter wachsen. 1880 entwickelte der englische Arzt Sydney
Ringer eine Lösung, die verschiedene anorganische Salze in einem dem Blut
gleichen Mischungsverhältnis enthält. Mit Hilfe dieser Lösung ließen sich
bereits damals abgetrennte Organe beachtlich lange am Leben erhalten. Der
Chirurg Alexis Carrel gilt diesbezüglich als Pionier. Ihm ist es gelungen,
embryonales Herzgewebe eines Huhnes über zwanzig Jahre am Leben zu erhalten,
wobei das Gewebe beständig wuchs und regelmäßig beschnitten werden musste.
Umgekehrt wurde aber auch deutlich, dass der Tod auch Teil des Lebens ist,
dass Körperzellen etwa nach einer bestimmten Zeit absterben.
Dass die Frage des Todeseintritts ihre Unschärfen kennt, machte bereits die
Scheintodliteratur des neunzehnten Jahrhunderts offensichtlich. Um es mit
Edgar Allen Poe zu formulieren: „Die Grenzen, die das Leben vom Tode
scheiden, sind besten Falles schattenhaft und vag. Wer könnte sagen, wo das
eine endet und das andere beginnt? Wir wissen, es gibt Krankheiten, bei
welchen ein totales Erlöschen aller sichtbaren Lebensfunktionen eintritt –
und wo dies Erlöschen doch bloß ein Aussetzen, eine Suspension im Grundsinne
des Wortes ist. Ein zeitweiliges Pausieren des rätselhaften Mechanismus. Ist
eine gewisse Spanne verstrichen, so setzt ein unsichtbar geheimnisvolles
Prinzip das magische Getriebe wieder in Bewegung. Das Silberband war nicht
auf immer gelöst, noch die goldene Schüssel unwiederbringlich zerbrochen.
Doch wo war unterweil die Seele – wo?“
Der Arzt Otto Wendt fasst in seinem Familien-Lexikon (1863) die zu seiner
Zeit geltenden Todeskriterien folgendermaßen zusammen: „Die Zeichen des
wahrscheinlichen Todes, welche in den ersten Stunden nach erfolgtem
Hinscheiden wahrgenommen werden können, sind: 1) Stillstand des Kreislaufs
des Blutes. Weder an den Schlagadern des Vorderarmes, noch an denen des
Halses oder der Schläfe ist der Pulsschlag zu fühlen. Ebenso ist kein
Herzschlag mehr wahrnehmbar. 2) Aufhören des Athmens. Eine ganz nahe vor den
Mund gehaltene Flaumfeder oder eine brennende Kerze wird nicht mehr in
Bewegung gesetzt. Ein vor den Mund oder die Nase gehaltener Spiegel läuft
nicht an. 3) Vollkommene Lähmung der Augenlider. 4) Das sogenannte Brechen
der Augen. Die Augen haben ihren Glanz vollkommen und auch etwas von ihrer
Wölbung verloren, sind matt und trübe; die Pupille ist gegen alle Reize
unempfindlich. 5) Erdfahle Farbe und Einfallen des Gesichts. Die Augen
liegen tief in den Höhlen; die Wangenknochen stehen weiter hervor als
gewöhnlich. 6) Herunterhängen der unteren Kinnlade. 7) Allmähliches Erkalten
und Erstarren des Körpers. Ersteres tritt zuerst im Gesicht, an den
Gliedmaßen und am Halse, dann erst an der Brust und am Unterleibe ein.
Untrügliche Zeichen des Todes sind indeß nur diejenigen Erscheinungen,
welche durch den Eintritt der Verwesung des Leichnams hervorgerufen werden,
namentlich der Leichengeruch, schwärzliches Aussehen der innern Theile der
Nase, des Mundes und der Lippen, das Erscheinen fauliger und schwärzlicher
Flecken auf der Haut, besonders an solchen Stellen derselben, auf welchen
der Körper ruht, Grünwerden des Unterleibes, Austritt einer gährenden,
fauligen Feuchtigkeit aus dem Munde. Erst dann, wenn man die völlige
Gewißheit zu haben glaubt, daß nicht ein Scheintod, sondern wirklicher Tod
zugegen sei, darf man den Leichnam entkleiden und waschen.”
All die von Wendt angeführten Todeszeichen sind auch heute noch gültig, auch
wenn die Atemtätigkeit nicht mehr dadurch überprüft wird, indem man eine
Feder vor den Mund oder die Nase des Verstorbenen hält. Die
Hirntoddefinition hat die traditionelle Todesdefinition nicht abgelöst,
vielmehr ist sie als deren Erweiterung zu verstehen. Sie bezieht sich einzig
auf jene Patienten, die sich dank intensivmedizinischer Maßnahmen in einem
indifferenten Zustand zwischen Leben und Tod befinden, deren Tod angenommen
werden muss, obwohl ihr Herz schlägt und andere Organfunktionen nicht zu
leugnen sind. Auch heutige Ärzte, die beauftragt sind, eine Hirntoddiagnose
zu stellen, sind, mögen sich die Methoden auch geändert haben, Zeichenleser.
Die Zeichen, auf die sie achten, sind festgelegt. Zwei Ärzte, die weder dem
Entnahme- noch dem Transplantationsteam angehören dürfen, prüfen das
Vorhandensein von Hirnstammreflexen. Ist der Patient in der Lage,
eigenständig zu atmen? Ziehen sich die Pupillen bei Lichteinfall zusammen?
Erfolgt ein Lidschlagreflex, wird die Hornhaut berührt? Die klinische
Diagnose muss schließlich durch ein Null-Linien-EEG bestätigt werden. Die
gesetzlichen Regelungen können diesbezüglich in den einzelnen Ländern leicht
voneinander abweichen. In Österreich etwa wird innerhalb von sechs Stunden
dreimal für mindestens zwanzig Minuten das EEG abgeleitet und von einem
speziell dafür ausgebildeten Neurologen beurteilt.
Angehörige, auch Krankenschwestern, die Hirntote „pflegen“, neigen dazu, die
Zeichen des Lebens und des Todes anders zu deuten, etwa Muskelkontraktionen,
kleinste Lid- und Lippenbewegungen als Lebensäußerungen des Patienten zu
verstehen. Das eingangs zitierte Gespräch zeigt zur Genüge die
Schwierigkeit, die Laien mit der Hirntoddefinition haben können, und dies
selbst dann, wenn sie annehmen, dass ein Mensch dann tot sei, wenn er über
kein Bewusstsein mehr verfüge. Fragt man nach, so macht man die Erfahrung,
dass nur wenige Menschen sich wirklich mit der Frage des Hirntodes
beschäftigt haben, geschweige denn mit der praktischen Durchführung einer
Organentnahme.
Wir haben es mit Deutungen, mit Sprache zu tun. In den Mitschriften zu
Ludwig Wittgensteins „Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie
und Religion“ findet sich folgender Eintrag:
„Heute habe ich ein Plakat gesehen, auf dem stand: ,Toter‘ Student hält
einen Vortrag.
Die Anführungszeichen bedeuten: ‚Er ist nicht wirklich tot.’
‚Er ist nicht das, was man ‚tot‘ nennt.’ ‚Es ist nicht ganz korrekt, ihn
,tot‘ zu nennen.’
Wir sprechen nicht von ‚Tür’ mit dieser Art von Anführungszeichen.
Plötzlich kam mir der Gedanke: ‚Wenn jemand sagte ‚Er ist nicht wirklich
tot, obgleich er nach den üblichen Kriterien tot ist‘, könnte ich dann nicht
sagen: Er ist nicht nur nach den üblichen Kriterien tot; er ist was wir alle
‚tot‘ nennen‘?’
Wenn man ihn jetzt ‚lebendig’ nennt, gebraucht man die Sprache auf eine
merkwürdige Weise, weil man damit fast absichtlich Mißverständnisse Fuß
fassen läßt. Warum nimmt man nicht ein anderes Wort und läßt ‚tot’ die
Bedeutung behalten, die es schon hat?
Angenommen, jemand sagte ‚Es hat diese Bedeutung nicht immer gehabt. Wenn
wir die frühere Bedeutung nehmen, ist er nicht tot’ oder ‚Er ist nicht tot,
wenn man sich an die alte Vorstellung hält’.
Was bedeutet das, verschiedene Vorstellungen vom Tode zu haben?
Angenommen, jemand sagt, ‚Ich habe die Vorstellung, daß ich nach meinem Tode
ein Stuhl sein werde’ oder ‚Ich stelle mir vor, daß ich in einer halben
Stunde ein Stuhl sein werde’ – wir alle wissen, unter welchen Umständen wir
von etwas sagen, daß es ein Stuhl geworden ist.
Vgl. (1) ‚Dieser Schatten wird aufhören zu existieren.’ (2) ‚Dieser Stuhl
wird aufhören zu existieren.’ Man sagt, daß man weiß, wie das ist, wenn
dieser Stuhl aufhört zu existieren. Aber man muß nachdenken. Vielleicht
findet man, daß es für diesen Satz keine Verwendung gibt. Man denkt an die
Verwendung.
Ich stelle mir vor, wie ich auf dem Sterbebett liege. Ich stelle mir vor,
wie alle Herumstehenden nach oben in die Luft schauen.“
Die Frage, ab welchem Zeitpunkt ein Mensch Bewusstsein, Empfindungsfähigkeit
und alle Individualität verloren hat, vermag auch die Hirntoddefinition
letztlich nicht zu bestimmen. Im Gegenteil, die Intensivmedizin erinnert uns
nur zu deutlich an die Unschärfe zwischen Leben und Tod. Kulturgeschichte
und Ethnologie haben uns gelehrt, dass sehr unterschiedliche
Todeseintrittsvorstellungen denkbar sind. Mumifizierte Tote, selbst
gebleichte Knochen, die in einem Schrein verwahrt werden oder neben dem
Eingang des Hauses hängen, können noch dem Lebendigen zugeordnet werden.
Im Kontext technologischer Möglichkeiten wie gesellschaftlicher
Entwicklungen, die sich heute abzuzeichnen beginnen, wird der Tod als Zäsur
weitere Relativierungen erfahren. 1995 erhob das Council on Ethical and
Judicial Affairs der American Medical Association die Forderung, anenzephale
Neugeborene, deren Großhirn weitgehend oder vollständig fehlt, als
Organspender zu verwenden. Es wurde auch schon in Erwägung gezogen, die
Hirntoddefinition auf Patienten auszudehnen, bei denen nur das Großhirn
irreversibel zerstört ist. So wären etwa auch Wachkomapatienten als Tote zu
bezeichnen. In Zukunft werden womöglich auch ökonomische und soziale
Kriterien von Bedeutung sein.
Bereits in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts sprach der
amerikanische Soziologe David Sudnow in seiner berühmt gewordenen Studie
„Organisiertes Sterben“ von einem „sozialen Tod“. In einer Feldstudie, die
er an zwei Krankenhäusern durchführte, machte er die Beobachtung, dass
Patienten sozial bereits als tot definiert werden können, obwohl sie nach
medizinischen Kriterien noch als Lebende gelten. Dies hängt maßgeblich mit
einem Mangel an Interaktionserfahrungen zusammen. Patienten, die keine
Angehörigen haben, sind stärker davon bedroht. Demographische Studien lassen
keinen Zweifel daran, dass die Anzahl jener Menschen, die über keine vitalen
Beziehungsressourcen verfügen, in den nächsten Jahren deutlich zunehmen
wird. Diesbezüglich verdanken wir die überzeugendste Todesdefinition
Alexander Kluge: „Ein Mensch ist tot, wenn man ihn aufgibt.“
Schön die alte Vorstellung, den Leichnam selbst nach seinem Zustand zu
befragen, so wie dies etwa in jenem Ritual geschieht, welches der Wahl eines
neuen Papstes vorausgeht. Nach dem Hinscheiden des Papstes bleibt sein
Leichnam so lange auf dem Sterbebett liegen, bis der Kardinal-Kämmerer bzw.
Camerlengo die Totenbeschau vorgenommen hat. Vom Ableben des Papstes in
Kenntnis gesetzt, begibt sich der Kardinal-Kämmerer in einem violett-blauen
Ornat, begleitet von zahlreichen Geistlichen des päpstlichen Hofes, auch sie
tragen liturgische Gewänder, in dessen Sterbezimmer. Dort angekommen schlägt
er, bevor er es betritt, mit einem goldenen Hammer dreimal an die Tür, wobei
er mit lauter Stimme dreimal den Tauf-, Familien- und päpstlichen Namen des
Verstorbenen ruft. Hat er das Sterbezimmer betreten, kniet sich der Kämmerer
vor dem Bett des Verstorbenen auf ein violettfarbenes Samtkissen und spricht
entsprechend den Festlegungen des „Registers für päpstliche Zeremonien“
einige Gebete für die Seelenruhe des Verstorbenen, während seine Begleiter
in ehrfurchtsvoller Entfernung verharren. Am Fußende des Sterbebettes
brennen vier Kerzen. Hat der Kardinal-Kämmerer die vorgeschriebenen Gebete
verrichtet, erhebt er sich und tritt an das Sterbebett, ganz nahe an die
Leiche, deren Gesicht durch ein weißes Tüchlein verhüllt ist. Nun deckt er
das Antlitz des verstorbenen Papstes auf, nimmt ein silbernes Hämmerchen,
manche meinen, dieses sei aus Elfenbein, und schlägt ihm dreimal auf die
Stirn. Dabei spricht er ihn mit seinem Taufnamen an: „Joseph, schläfst du?“
Antwortet der Tote nicht, so wendet sich der Kardinal-Kämmerer zu den
Versammelten und sagt: „Der Papst ist tot.“
Bernhard Kathan 2006/2013