Botanische Nomadologie
Spreng- und Flugkünstler, Hafttechniker


Foto: Bernhard Kathan


Je reicher wir in einer Konsumgesellschaft werden, desto mehr wird uns bewußt, wie viele Wertstufen – der Muße und der Arbeit – wir erklommen haben. Je weiter oben auf der Pyramide wir uns befinden, desto weniger wahrscheinlich ist es, daß wir für einfache Muße Zeit opfern werden und für scheinbar unproduktive Beschäftigungen. Die Freude daran, dem Finken in der Nachbarschaft zu lauschen, wird schnell getrübt durch Stereoaufnahmen des „Vogelgesangs dieser Welt“, der Spaziergang durch den Park verliert an Wert angesichts der Vorbereitungen auf eine vogelkundliche Pauschalreise in dem Dschungel.

Ivan Illich,Selbstbegrenzung, 1975


Kaum habe ich mit der Sammlung meiner langen Träume begonnen, so fühle ich schon, daß sie bald zu Ende geht. Ein anderer Zeitvertreib löst sie ab, beschäftigt mich ganz und gar und läßt mir nicht einmal mehr die Zeit zum Träumen. Ich überlasse mich ihm mit einer Begeisterung, die etwas Überspanntes hat und mich selbst zum Lachen bringt, wenn ich darüber nachdenke; doch überlasse ich mich ihm deshalb nichtsdestoweniger, denn in meiner gegenwärtigen Lage habe ich keine andere Richtschnur für mein Betragen als die, in allem ungehindert meinen Neigungen nachzugehen. Ich kann nichts für mein Schicksal, habe nur unschuldige Neigungen, und da mir das Urteil der Menschen fortan nichts mehr gilt, so fordert es die Klugheit selbst, daß ich in den Dingen, die in meiner Macht liegen, alles tue, was mir gefällt, sowohl öffentlich als im stillen für mich, ohne mich einer anderen Richtschnur als der meiner Einfälle und eines anderen Maßes als der wenigen Kräfte zu bedienen, die mir übrig sind.
Jean-Jacques Rousseau, Siebenter Spaziergang


Die Mistel ist in unserer unmittelbaren Umgebung auf alten Bäumen sehr häufig zu finden. Wir haben es mit einem kugelförmig gewachsenen, immergrünen Strauch zu tun, der meist auf weichholzigen Laub- und Nadelbäumen siedelt. Als Halbschmarotzer bezieht die Mistel durch ihre Saugwurzeln von ihrem Wirtsbaum Wasser und Nährsalze. Misteln assimilieren und können so selbst Kohlehydrate aufbauen. Wird ein Baum von Misteln übermäßig befallen, so wird ihn dies über kurz oder lang schwächen. Da die Mistel nur im Astwerk von Bäumen gedeiht und verglichen mit anderen Pflanzen jährlich nur eine vergleichsweise geringe Anzahl von Samen produziert, bedarf sie einer ausgeklügelten Verbreitungsstrategie. Die weißen Beeren, sie enthalten einen oder zwei von schleimig-klebrigem Fruchtfleisch umgebene Samenkerne, reifen erst im Winter. Sie zählen zum Futterangebot mancher Vögel. Fressen Misteldrosseln die Beeren, passiert der Samenkern unbeschadet den Verdauungstrakt. Dieser bleibt bei der Ausscheidung am After des Vogels hängen und muss abgestreift werden. Andere Vögel fressen nur das Fruchtfleisch der Beere. Sie versuchen sich durch Schnabelwetzen des klebrigen Samens zu entledigen. In beiden Fällen bleibt der Kern mit großer Wahrscheinlichkeit an einem Ast haften.

Im Gegensatz zu Tieren sind Pflanzen in unserem Bewusstsein zutiefst als sesshaft verankert, verwurzelt, nicht zur Fortbewegung befähigt. Tatsächlich sind auch Pflanzen höchst nomadisch, wenngleich sie sich nur mit Hilfe von Samen oder Ablegern fortbewegen können. Die botanische Bezeichnung für Samen lautet Diasporen. Dies bringt ihre diesbezügliche Fähigkeit besser zum Ausdruck. Der Begriff leitet sich aus dem griechischen diaspeírein ab, was so viel wie „zerstreuen, ausstreuen“ bedeutet. Vermöchten wir einen Garten oder eine Landschaft im Zeitraffertempo zu betrachten, so würden wir erkennen, dass Pflanzen höchst mobil sind, keineswegs an den Standort gebunden. Unsere irrige Einstellung mag auch damit zu tun haben, dass wir ihnen Identitäten unterstellen, die sie so nicht haben. Wir sprechen von dieser oder jener Pflanze, bemessen ihre Existenz als Zwischenstadium von keimendem Samen und ihrem offensichtlichen Absterben, ohne zu sehen, dass wir es nur mit einem Ausschnitt einer Daseinsform zu tun haben.

Die Samen einer Vielzahl von Pflanzen werden durch Tiere verbreitet. Eine der einfachsten Formen findet sich dort, wo Vögel Samen aus Früchten oder Fruchtkapseln picken und so in der unmittelbaren Umgebung verstreuen. Freilich ist hier die Ausbreitungsdistanz gering. Wesentlich größer ist diese, werden die Samen gefressen und Stunden später an oft weit entfernten Stellen ausgeschieden. Allerdings müssen dabei die Samen die Passage durch den Magen-Darm-Trakt unbeschadet überstehen. Dies gilt nicht nur für Steinobst, sondern auch für viele andere Samen, die von weidenden Tieren mit dem Futter aufgenommen und so verbreitet werden. Manche Samen müssen Tiermägen durchwandern, um keimen zu können. Erst wenn die Magensäure die Samenschale durchlässig gemacht hat, kann Wasser eindringen, was eine Voraussetzung einer Keimung ist. Freilich können die Kerne auf völlig unfruchtbarem Boden landen, etwa auf einer geteerten Straße. Während manche Pflanzen zufällig von Tieren verbreitet werden, machen andere geradezu Werbung für ihre Samen, etwa durch ein süßes Fruchtfleisch mit einer auffallenden Oberfläche. Vögel reagieren auf auffällige Farben wie ein kräftiges Rot oder ein glänzendes Schwarz; Säugetiere werden über den Geruch angelockt. Das Fruchtfleisch dient dabei als Lockmittel.

Die Ausbreitungsökologie der Pflanzen kennt eine Vielzahl höchst spezialisierter Techniken. Zu Pflanzen wie der Mistel, deren Samen von einer klebrigen Substanz umgeben sind, fügen sich andere Hafttechniker. Samen oder Samenkapseln von Kletthaftern sind mit Haken ausgestattet. Bleiben sie am Fell eines Tier haften, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, in weiterer Entfernung wieder abgestreift zu werden. Als bekanntes Beispiel sei die Klette genannt. Die Herbstzeitlose verwelkt nach der Bestäubung rasch. Der Fruchtknoten überwintert im Boden, um dann im Frühjahr eine auffallend große Fruchtkapsel zu bilden. Ihre klebrigen Samen bleiben an den Hufen oder anderen Stellen verschiedener Tiere haften und werden an anderen Orten abgestreift. Als besonders reizvolle Beispiele ausgeklügelter Verbreitungstechniken sind Spreng- und Flugkünstler zu nennen. Trocknen die Fruchtkapseln der kreuzblättrigen Wolfsmilch in der Sonne, so platzen sie plötzlich mit einem gut vernehmbaren Knall und verstreuen ihre Samen im näheren Umfeld. Viele Pflanzen setzen auf den Wind. Ihre Samen kennen Anhängsel, die an Propellor, Fallschirme oder Flügel erinnern. Der Ahorn ist den Dreh- und Schraubenfliegern zuzuordnen, die Birke den Scheiben- und Segelfliegern, der Löwenzahn den Schirmchenfliegern. Es finden sich auch Ballonflieger. Zum Wind fügt sich das Wasser. Manche Samen sind zu diesem Zweck mit einer Art Schwimmballon ausgestattet. Als besonders primitive Form einer Ausbreitungsstrategie seien Plumpsfrüchte genannt. Sie fallen wie die Rosskastanie einfach zu Boden, kollern im besten Fall einen Abhang hinab oder werden bei einem Unwetter durch Regenwasser oder andere Einwirkungen zumindest eine geringe Distanz fortgetragen.

Manche Pflanzen verbreiten sich auch auf ungeschlechtlichem Weg mit Hilfe von Ablegern oder Ausläufern. Ackerschachtelhalme etwa bilden ein weit verzweigtes Wurzelgeflecht, welches an anderen Stellen wieder austreibt. Wer Schachtelhalm in seinem Garten hat, weiß, dass es sich dabei um ein sehr effizientes System der Ausbreitung handelt. Eine Vielzahl von Pflanzen bilden Wurzelsprosse, Brutknöllchen oder Zwiebeln. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines Schachtelhalms, dessen Wurzeln sich durch einen festen Lehmboden arbeiten müssen, hält sich zwangsläufig in Grenzen. Diese ist etwas höher, bilden sich Ableger wie bei der Brombeere aus oberirdischen Trieben. Liegt der Trieb am Boden auf, schlägt er Wurzeln.

In der Ausbreitungsökologie spielen Zufälle eine Große Rolle. Als diesbezüglich gutes Beispiel sei die „Speicherverbreitung“ genannt. Wie Mäuse legen auch Eichhörnchen oder andere Tiere Futtervorräte an. Manche dieser Depots werden nicht mehr gefunden. In solchen Depots können sich Eicheln, Nüsse oder unterschiedliche Kerne finden. Wir haben es unter den Verbreitungstechniken mit einer höchst unspezialisierten Variante zu tun, mit einer relativ „teuren“ Ausbreitungsart, wird doch der größte Teil der Samen gefressen. Andererseits finden Samen, werden sie unter lichtem Astwerk oder Blättern deponiert, ideale Bedingungen, um im Frühjahr auszutreiben.

Mögen viele Pflanzen noch so ausgeklügelte Verbreitungsmechanismen kennen, so haben wir es doch oft mit einem Mix an Strategien zu tun. So spielt für die Verbreitung des Veilchens nicht nur ein Schleudermechanismus eine Rolle. Auch Ameisen sind an dessen Verbreitung beteiligt. Die Samen sind mit einem fetthaltigen Anhängsel ausgestattet, welches von Ameisen, die die Samen verschleppen, verzehrt wird. In Europa gibt es 130 verschiedene Arten von Pflanzen, die wie das Schneeglöckchen oder das Veilchen durch Ameisen verbreitet werden. Ist der Fruchtknoten des Schneeglöckchens ausgereift, senkt sich der Blütenstängel nach unten, der Fruchtknoten platzt auf und die Ameisen machen sich über die Samen her und verteilen sie im Umfeld. Der Erfolg der all hier genannten Ausbreitungstechniken verdankt sich in den meisten Fällen einer geradezu verschwenderischen Produktion von Früchten und Samen, von denen der Mensch viele seit Jahrtausenden für eigene Bedürfnisse zu nutzen weiß. Ob wir Brot oder Nudeln essen, den Salat mit Oliovenöl anmachen oder ein biospritbetriebenes Fahrzeug benutzen, trotz aller Kultivierungstechniken verdankt sich dies einer verschwenderischen Diasporenproduktion.

Auch der Mensch spielt in der Diasporenökologie eine große Rolle. Vielfach verbreitet er Pflanzen bewusst, zum Beispiel durch Kultivierung. Im Zeitalter der Kanalisation scheidet er für „Darmwanderer“ allerdings weitgehend aus. Der moderne Mensch entleert sich nicht gerne in freier Natur. Diesbezüglich wäre eine Untersuchung der Vegetation im Umfeld von Rastplätzen stark befahrener Straßen nicht ohne Erkenntniswert. Auch für die Verbreitung von Pflanzen, die sich in ihrer Verbreitung diverser Hafttechniken bedienen, ist er von untergeordneter Bedeutung. Sollte der heutige Mensch das Gebüsch nicht scheuen, so wird er seine Kleider an Orten reinigen, die in der Regel als ungeeignete Habitate zu betrachten sind. Und dennoch tragen wir unbewusst zur Verbreitung vieler Pflanzen bei. Dies beginnt bereits dort, wo wir für unseren Garten in einer Gärtnerei Setzlinge oder Stauden kaufen. Mit dem Erdreich, das den Wurzelballen umgibt, transportieren wir zwangsläufig auch eine Vielzahl von Keimen, die sich nicht selten als lästige Unkräuter erweisen.

Vom Flug-, Auto- bis hin zum Schienenverkehr finden sich zahllose pflanzliche Trittbrettfahrer. In der globalisierten Welt von heute, in der Äpfel und Trauben aus Südafrika oder anderen weit entfernten Ländern zu den Selbstverständlichkeiten unserer Supermärkte zählen, erstaunt es nicht, dass auch viele exotische Pflanzen bei uns heimisch werden. Von heimisch kann man dann sprechen, gelingt es ihnen, der Obhut des Menschen und seiner Gärten zu entkommen. Das Springkraut oder der Riesenbärenklau seien als Beispiele genannt. Es gibt selbst Pflanzen, deren Verbreitung sich einzig dem Menschen verdankt. So ist Mais außerhalb des kontrollierten Anbaus nicht vermehrungs- und fortpflanzungsfähig. Mais gilt deshalb als „absolute“ Kulturpflanze.

Wir assoziieren Natur mit „unberührt“. Abseits menschlicher Eingriffe gedeihe sie am besten. Allein ein Blick auf unterschiedliche Kulturlandschaften genügt, um zu sehen wie unzutreffend dies ist. Werden etwa Magerwiesen nicht mehr gemäht, wird manche Pflanze, die unter Naturschutz steht, innerhalb weniger Jahre verdrängt. Kommen Fichten auf, und sei es durch Anflug, dann wird etwa die Trollblume innerhalb kürzester Zeit verschwunden sein. Andererseits können für manche Pflanzen selbst Verkehrsinseln gute Standorte sein. Besonders gut dokumentiert ist die Vegetation an Bahntrassen. Manche der hier siedelnden Pflanzen werden durch den Fahrwind vorbeifahrender Züge weiterverbreitet. Ob es sich um natürlichen oder künstlichen Wind handelt, Pflanzen fragen nicht danach.

Der Mensch der Zukunft, befreit von den Bindungen, die Ackerbau und Viehzucht abverlangten, wird ein nomadisches Leben führen, zwischen den Wasserlöchern möglichen Gewinns frequentieren. Dabei wird er nicht selten die Erfahrung machen, dass manches Wasserloch bereits ausgetrocknet ist, ehe er es erreicht hat. Im Gegensatz zu den nomadisierenden Pflanzen kann er sich andere Wasserlöcher oder nährstoffreiche Wiesen suchen. Pflanzen sind uns allerdings zweifellos dort überlegen, wo viele Samen erstaunlich lange Perioden von Trockenheit oder auch extremer Kälte zu überdauern vermögen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es auch dann noch Pflanzen geben, wenn der Mensch von der Erde verschwunden sein wird, und dies selbst dann, wenn er diese verödet zurückgelassen hat. In unseren Vorstellungen scheinen Beton und Teer sehr undurchlässig. Wir vergessen allerdings, dass wir in sehr kurzen Zeiträumen denken. Es bedarf nur weniger Jahre, bis die ersten Pflanzen asphaltierte Flächen aufgelassener Fabriken durchbrechen.

Man muss weder Botanik, noch Biologie studiert zu haben, um sich mit der Ausbreitungsökologie der Pflanzen zu beschäftigen. Als technische Behelfe dienen Lupe, Pinzette, eine Schere wie ein Botanisiermesser. Bei der Berührung mancher Pflanzen sind Einmalhandschuhe zu empfehlen. Dann eine Serie von Sieben mit unterschiedlicher Maschendichte, zum Aufbewahren Gläser, Petrischalen oder auch Plastiktüten mit Verschlussstreifen. Dem neugierigen Laienbotaniker sei empfohlen, biologisches Vokabular möglichst zu meiden und statt dessen eigene Beobachtungen zu machen. Man kann etwa Samen reifer Mistelbeeren an Ästen unterschiedlicher Bäume abstreifen und beobachten, ob und wie sich diese in den nächsten Jahren entwickeln. Bei den Flugkünstlern der Pflanzenwelt lohnen sich neben Flugversuchen Beobachtungen unter der Lupe, um ihre oft erstaunlichen Konstruktionen zu betrachten. Es lassen sich ausgefeilteste Konstruktionen bewundern, angesichts derer die Fluggeräte moderner Technik reichlich plump erscheinen mögen. Es finden sich allerdings auch so winzige Samen, dass man eines feineren Instrumentariums als einer Lupe bedarf, um sich an ihrer Schönheit und Perfektion zu erfreuen.

Es lohnt sich, unterschiedlichste Sämereien zu sammeln und zu dokumentieren, also Fundort, Jahreszeit oder anderes festzuhalten, Notizen mit Zeichnungen und Skizzen zu ergänzen. Zeichnen zwingt zu einer genaueren Betrachtung. Der ästhetische Reiz solcher Zeichnungen ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Samen sind enorm vielgestaltig, manchmal sind sie – wie die des Tabaks – geradezu winzig. Hat man einen Teelöffel von kleinsten Samen zusammengetragen, kann man von einem wirklichen Glücksgefühl überfallen werden. Neugier und Geduld sollen den Laienbotaniker ausmachen. Verfügt er darüber, wird mag er unterhaltsame und erstaunliche Entdeckungen machen, die professionellen Botanikern zwar bekannt sind, in der Literatur aber kaum Erwähnung finden, er kann Entdeckungen machen, die in der wissenschaftlichen Botanik ohne jede Bedeutung sind und deshalb unbeobachtet bleiben. Laienbotaniker sind schlecht beraten, sich in Konkurrenz mit universitär ausgebildeten Biologen zu begeben, und dies auch dann, wenn einzelne zu nennen sind, die diesbezüglich durchaus erfolgreich sind. Einzig Lust und Neugier zählen, im besten Fall eine Begabung, in Strukturen zu denken, etwa in Hasenkot mehr zu sehen als einfach eine tierische Ausscheidung. Es gilt, vielfältigste Bezüge herzustellen, Verhaltensformen von Tieren ebenso mitzudenken wie etwa Techniken von Pflanzen, sich auszubreiten. Die Ausbreitungsökologie der Pflanzen kann dazu anregen, sich mit dem Verkehr, der Globalisierung oder vielen anderen Phänomenen unserer Welt zu befassen. Freilich darf man das gesellschaftliche Leben nicht biologistisch erklären. Die Diasporenökologie lässt sich nicht auf die Mobilität von Menschen übertragen.

Wer immer sich mit Diasporenökologie beschäftigt, ist zu regelmäßigem und langem Gehen angehalten. Die Sämereien sehr vieler Pflanzen lassen sich nur innerhalb sehr kurzer Zeit sammeln. Man muss sich also mit dem Reifungsprozess befassen, einzelne Pflanzen wiederholt aufsuchen. Versäumt man den idealen Zeitpunkt, dann können die Samen bereits ausgefallen oder auf andere Weise verloren sein. Auf jeden Fall wird man, kehrt man von einer botanischen Wanderung, die einen an Wegränder, Ackerraine, Brachen oder auch auf Deponien geführt hat, mit einer mit unterschiedlichen Pflanzen gefüllten Tasche zurück, zahllose Kleinlebewesen mitbringen, Insekten in unterschiedlichsten Entwicklungsstadien, kleine und große Spinnen, Schnecken, Zecken und so fort. Man wird rasch die Erfahrung machen, dass unabhängig vom Sammelort ein und dieselbe Pflanze oft genug von ein und denselben Insekten besiedelt wird. Mit jeder Pflanze, mit der man sich über mehrere Wochen beschäftigt, erschließt sich eine Welt höchst komplexer Wechselwirkungen, die man freilich nur ausschnitthaft und in groben Zügen zu erfassen vermag.

Die gesammelten Diasporen lassen sich auf höchst unterschiedliche Weise ordnen: alphabetisch, nach ihrer Farbe, nach ihrer Größe, nach ihren Verbreitungstechniken, nach Familien und Verwandtschaften, nach den Farben der Blüten, nach ihren Standorten, nach der Reifezeit, nach der Häufigkeit ihres Vorkommens, nach Insekten, von denen sie besiedelt werden, nach völlig anderen Ordnungen, solchen, die der Architektur, der Kunst oder Literatur entlehnt sein können.

Das Gelände im Umfeld des Museums ist für diese Beobachtungstätigkeit ideal. Intensiv bewirtschaftete Wiesen, die mehrfach gemäht und reichlich gedüngt werden, auf denen neben einigen Gräsern vor allem Klee, Wiesenstorchenschnabel, Hahnenfuß, Spitzwegerich und Ampfer wachsen, wechseln sich mit Wiesen, die als Schafweiden dienen. Etwas höher befinden sich die ersten Magerwiesen, die nur einmal im Jahr gemäht werden und die eine große Vielfalt von Pflanzen kennen. Dazu fügen sich Waldstücke mit unterschiedlichem Baumbestand in Sonn- und Schattenlagen, Feuchtgebiete. Auch eine Deponie mit Aushubmaterial ist vorhanden. Hier kommt manche Pflanze auf, die sich üblicherweise in Ziergärten finden. Schließlich ein Garten.

In seinen letzten Lebensjahren begann sich Jean-Jacques Rousseau wieder mit Botanik zu beschäftigen. Da er seine diesbezügliche Literatur verkauft und die von ihm angelegten Herbarien weggegeben hatte, musste er nahezu von vorne beginnen. Sein Alter bedenkend, begann er mit den einfachsten Pflanzen, mit dem Springkraut, dem Kerbel, dem Borretsch oder dem Kreuzkraut. Rousseau, dessen Texte heftige Diskussionen ausgelöst hatten, suchte am Ende seines Lebens wieder Trost in einfachen Beobachtungen. Das Sammeln von Muscheln gefiel ihm ebensowenig wie die Mineralogie oder Zoologie. Er verlegte sich auf das Botanisieren, um das Weltgebäude, welches er umarmen wollte, in seinen Einzelteilen zu betrachten. Dem Nomadischen der Pflanzen entsprechend, blickte er dennoch weit über die Ränder des Botanisierens hinaus. Und so ist es denn auch nicht erstaunlich, dass er in vermeintlicher Abgeschiedenheit, den Zahnwurz heptaphyllos, das Alpenveilchen, die Orchidee nidus avis, das breitblättrige laserpitium oder andere Pflanzen betrachtend, auf ein klapperndes Geräusch aufmerksam wurde und, diesem Klappern folgend, unvermittelt in einer Strumpfmanufaktur stand.

Bernhard Kathan 2009

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