Nachwort des Herausgebers

Ich kann mich gut an jenen Tag erinnern. Ein Bergwanderer rief aufgeregt in meiner Dienststelle an. Auf der Schneealpe sei er, etwa dreißig Meter oberhalb der Viehtränke, dort, wo ein Fußweg ins Katzenloch abzweige, auf eine Leiche gestoßen. Gestoßen! Was für ein seltsames Wort. Ein nacktes Frauenbein rage aus dem Schnee. Etwa eine Stunde später war ich in Begleitung von zwei kriminaltechnischen Sachverständigen an der angegebenen Stelle. Die Leiche einer Frau. Sie mochte zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt gewesen sein. Das linke, etwas abgewinkelte Bein war bis zum Hüftansatz ausgeapert, das rechte teilweise noch von Schnee bedeckt. Bergschuhe. Die Tote, sie lag auf dem Rücken, trug einen an einigen Stellen bereits ausgeaperten Rock mit einem Karomuster. Auf der der Sonne zugewandten Seite dampfte das Gewebe leicht. Keine Verwesungsanzeichen. Die Tote musste seit Monaten an dieser Stelle gelegen haben. Die Kleidung ließ auf eine Herbstwanderung schließen. Vermutlich wurde die Frau von einem Wintereinbruch überrascht. Wir legten vorsichtig, so wie wir es in solchen Fällen gewohnt sind, die von Schnee bedeckten Körperteile frei. Keine Hinweise auf eine Verletzung oder Fremdeinwirkung, was die gerichtsmedizinischen Untersuchungen bestätigten. In Erinnerung geblieben ist mir vor allem das Gesicht der Toten. Entspannte Gesichtszüge. Ich kann das schöne Gesicht nicht vergessen. Sie schien zu lächeln. Es war mir, als habe der Tod diese Frau von all ihren Leiden, Ängsten und Schmerzen befreit, aus dem Gesicht alles Zufällige, alle Verstellungen getilgt. Ich hatte während meiner langen Dienstzeit genügend Gelegenheit, Gesichter von Toten zu betrachten. Natürlich weiß ich, dass selbst das Gesicht des größten Verbrechers friedlich erscheinen, das des dümmsten Toten Welterkenntnis ausstrahlen kann. Trotz dieses Wissens schien mir das Gesicht der Toten rätselhaft.
Im abschließenden Bericht ist von einem Unfall die Rede. Und doch scheint mir dieser Tod nach wie vor viele Fragen aufzuwerfen. Die Identität der Toten ließ sich nie wirklich klären. Ihr Pass, er war auf den Namen Yo Stern von Aleppo ausgestellt, erwies sich als perfekte Fälschung. Die gerichtsmedizinische Untersuchung brachte einen im rechten Oberarm implantierten Chip zum Vorschein. Da es sich dabei um ein Fabrikat handelte, das seit Jahrzehnten nicht mehr in Gebrauch ist, ist anzunehmen, dass dieser Chip bereits in frühester Kindheit implantiert wurde. Übrigens ließen sich die darauf gespeicherten Daten nicht entschlüsseln. Die Wohnadresse ließ sich dank eines rätselhaften Briefes, den die Tote bei sich trug, eruieren. Ein Absender war nicht angegeben, es stand nur zu lesen: „Denk an das Klavierspiel von Gno.“
Der Kühlschrank stand offen. Leer. In den Schränken fand sich nicht ein einziges Kleidungsstück. Im Badezimmer nicht ein Härchen. Alles wirkte, als würde die Wohnung erst bezogen. Es fehlten selbst Vorhänge. Und dann fanden sich doch zwei Dinge, die etwas mit der Toten zu tun haben mussten. Auf einem Tisch, er war an eine Wand gerückt, ordentlich hingelegt, ein Manuskript. Beim Durchblättern blieb ich an folgenden Zeilen hängen: „Ausgespuckt. Buchstäblich ausgespuckt. Man sagte mir, ich hätte eine Stunde Zeit, meinen Koffer zu packen. Der Koffer stehe vor der Tür meines Zimmers. Man erwarte mich im untersten Stockwerk. Ein Koffer! Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Koffer gepackt ...“ An der Wand über dem Tisch ein großes Foto eines Kindes mit verquollenem Gesicht und aufgeschlagenen Lippen.
Da die Todesursache geklärt schien, wurde der Fall nicht weiter verfolgt, obwohl viele Fragen offenblieben. Im Manuskript fanden sich keine Hinweise auf die wirkliche Identität der Toten. Es ließ sich niemand ausfindig machen, der etwas mit ihr zu tun gehabt hatte. Deshalb nahm ich das Manuskript, auch das Foto, an mich. Das Foto des Kindes berührte mich eigenartig. Ich konnte die Aufnahme, der sehr gute Abzug ist an mehreren Stellen zerknittert, muss also, wo auch immer, lange ohne Beachtung herumgelegen haben, nicht oft genug anschauen. An das Manuskript dachte ich erst Jahre später wieder, damals, als ich im Philadelphia Museum of Art durch das Guckloch Marcel Duchamps „Etant donnés: 1 la chute d’eau / 2 le gaz d’éclairage“ betrachtete: „Gegeben sei: 1. Der Wasserfall, 2. Das Leuchtgas“. Lag es an der Beinstellung? Der Körper der Toten lag nicht auf Reisig, ihr Arm hielt keine Leuchtgaslampe in die Höhe. Im Hintergrund war kein Wasserfall zu sehen. Vor allem hatte sie ein Gesicht. Es lag eher am Ausschnitthaften, am Fragmentarischen. Wer immer durch Duchamps Guckloch blickt, neigt dazu, sich zum Geschlecht und den geöffneten Schenkeln ein Gesicht, eine Geschichte dazuzudenken. Dabei kennt Duchamps Puppe weder das eine noch das andere.
Fortan beschäftigte mich das Manuskript. Anfangs suchte ich nach Entsprechungen in der Wirklichkeit. Es fand sich kein Unternehmen, das sich mit der Toten in Verbindung bringen ließ, niemand mit dem Namen Champell oder Neurath. Es gibt kein Buch mit dem Titel: „Grimacco. Dorf der Frauen“. Ausgehend von all den Hinweisen im Manuskript suchte ich nach dem Park. Trotz all der Satellitenaufnahmen, die heute zugänglich sind, ich fand kein solches Gelände. Es gibt kein Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit, wohl aber das erwähnte Gebäude. Ich war dort. Es liegt nahe am Tiber, nicht weit von der Engelsburg entfernt. Das erwähnte Parlatorium ist tatsächlich nahezu unverändert erhalten geblieben. Anders als angegeben befindet sich die Rota, die Drehtür, an der Pforte und nicht im ehemaligen Parlatorium. Nach einem Museum wird man dort allerdings vergeblich suchen. Das Katzenloch gibt es wirklich, wie mir auch die Beschreibung ziemlich zutreffend erscheint. Nach meiner Pensionierung wanderte ich dort oft genug auf Yos Spuren. Da im Akt Kopien der Bankauszüge lagen, lässt sich einiges zum Reiseverhalten der Autorin sagen. So hat sie etwa an einem bestimmten Tag in Einsiedeln Geld von einem Bankomaten abgehoben. Zweifellos hat sie das dortige Kloster besucht. Yo Stern dürfte von einer Art Pension gelebt haben. Das monatlich eingehende Geld verdankte sich einer von einer Treuhandgesellschaft verwalteten Stiftung. Der bereits vor Jahren verstorbene Stifter, sein Reichtum verdankte sich einem Unternehmen für Damenunterwäsche, setzte für Yo Stern eine lebenslange Pension aus. Nicht eruieren ließ sich, in welchem Verhältnis die Tote zum Unterwäschekönig stand.
Der im Manuskript erwähnte Tod des Theologiestudenten mochte auch dazu beigetragen haben, dass ich mich mit dieser Geschichte näher zu beschäftigen begann, zumal ich mich an den Fall gut erinnern konnte und dieser gewisse Parallelen aufwies, wenngleich die Identität des Toten nie in Frage stand. Es war damals übrigens alles andere als einfach, den Toten zu bergen, zumal die nötigen Anzüge, die es erlauben, mehrere Stunden in eiskaltem Wasser zu arbeiten, erst beschafft werden mussten. Die Kleidung des Toten wurde erst nach längerer Suche im Schnee entdeckt. Sie war, wie von Yo erwähnt, geradezu zwanghaft aufeinandergelegt. Natürlich hat man in solchen Fällen keine Muße, das Tableau, das Bild, das sich einem bietet, genauer zu betrachten. Aber schon deshalb, weil keine Eile geboten, weil es unmöglich war, ohne entsprechende Schutzkleidung in das kalte Wasser zu steigen, habe ich damals, wohl um mir die Zeit zu vertreiben, von dem sich mir bietenden Bild zahlreiche Aufnahmen gemacht. Es war ja doch zu seltsam, dieser Wasserfall, diese Kaskade, auf deren Sockel ein im Eis erstarrter Nackter saß, der unzweifelhaft tot war, aber dessen linker Arm sich im herabstürzenden Wasser bewegte, als lebte er noch. Damals war es nicht von Belang, aber nachträglich betrachtet muss ich zugeben, dass die ganze Anordnung, das Bild, das sich mir bot, höchst aufschlussreich hätte sein können, was die Vorgeschichte, meinetwegen das Lebensdrama dieses Theologiestudenten betrifft, der das fünfundzwanzigste Lebensjahr noch nicht erreicht hatte. Das Bild, das sich bot, schien zweierlei zum Ausdruck zu bringen, das Bemühen, all die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, gleichzeitig aber gegen diese in einem maßlosen und verzweifelten Trotz aufzubegehren, und sei es um den Preis des eigenen Lebens. Übrigens war der Anblick, der sich mir auf der Schneealpe bot, ich verstand es erst im zeitlichen Abstand, auch sehr beredt. Womöglich verdankte sich die Lage der Toten, wie von Yo selbst erwähnt, einigen Unwägbarkeiten, aber die Art und Weise, wie sie dalag, ließ mich später oft genug an die von ihr beschriebenen Untersuchungen und Eingriffe denken. Mag es den Park in der von ihr erwähnten Form auch nicht geben, so habe ich nicht den geringsten Zweifel an der Wahrhaftigkeit der beschriebenen Erfahrungen.
Ich begann das Manuskript gegen eingeübte Lesegewohnheiten zu lesen, nicht länger im Sinne einer Beweisführung oder Rekonstruktion. Es ist nicht viel gewonnen, denkt man beim Betrachten von Duchamps nacktem Torso an die recht banalen Bastelarbeiten, die man nicht sieht, denen sich aber die Wirkung verdankt. Ich las das Manuskript als eine Art Vermächtnis, als Mitteilung. Nicht länger kam es auf den Wahrheitsgehalt an. Im Manuskript, es handelt sich um einen Computerausdruck, fanden sich an vielen Stellen handschriftliche Randnotizen, manchmal eingelegte Zettel mit skizzenhaften Überlegungen. So sie mir bemerkenswert erschienen oder ich mir dachte, sie könnten zum Verständnis des Textes beitragen, habe ich sie in den Anmerkungsapparat aufgenommen. Sofern sich Anmerkungen mir verdanken, wird darauf hingewiesen.
Etwas bleibe nicht unerwähnt. Yo Stern wurde in einem einfachen Grab bestattet. Wie ich später feststellen konnte, wird ihr Grab gewissenhaft gepflegt, vermutlich im Auftrag der Treuhandgesellschaft. Aber es müssen auch andere das Grab aufsuchen. Immer wieder finden sich frisch hingelegte Blumen auf dem Grab. Auf einem massiven Marmorblock, der heute das Grab schmückt, steht ohne Angabe von Jahreszahlen in großen Buchstaben zu lesen: „YO“, und darunter: „Ich bin es.“