Nachbarschaften als Ressource: Kooperation statt Konkurrenz


„Traurig ist es auf dieser Welt, Herrschaften!“ - So lautet der letzte Satz in Nikolai Gogols Erzählung „Geschichte des Streitfalls Iwan Iwanowitsch gegen Iwan Nikoforowitsch“. Darin geraten zwei Nachbarn wegen lächerlicher Kleinigkeiten in einen Streit, der sich nicht mehr beenden lässt, auch nicht durch Bemühungen Dritter, diesen gütlich beizulegen. Was die beiden dem andern neiden, das verlieren sie letztlich selbst. Nicht zuletzt gehen sie all der Annehmlichkeiten verlustig, die in einem gedeihlichen nachbarschaftlichen Verhältnis liegen. Wird dem Nachbarn, seinem Gesinde, Kindern wie Hunden der Zutritt verwehrt, dann engt sich auch der eigene Bewegungsspielraum ein. So werden beide zu Verlierern.

Nachbarschaftlichen Beziehungen kommt, mögen sie in einer globalisierten Welt und Ökonomie auch zunehmend erodieren, nach wie vor eine entscheidende Ressource zu, dies trotz aller Konflikte, die Nachbarschaften nun einmal in sich tragen können. Investiert man in Nachbarschaften, dann kann man nur gewinnen. Man denke an Architektur, Ökologie, Raumnutzung, nachhaltiges Wirtschaften, Verkehr, Sicherheit, soziales Wohlbefinden und dergleichen.

Nehmen wir als Beispiel eine vor wenigen Jahren errichtete Kleingartenanlage mit etwa 40 Fertigteilhäuschen. Die Kleinparzellen sind in extremer Weise durch Zäune und Hecken voneinander abgegrenzt. Jedes Häuschen hat seine eigenen Gartengeräte, jedes seine eigene Fotovoltaikanlage, auf nicht wenigen Parzellen finden sich Trampoline oder aufblasbare Pools. Für gemeinschaftliche Anliegen ist kein Raum vorgesehen. Mit einer anderen Planung hätte sich der verfügbare Raum besser nutzen lassen. Warum sich nicht gemeinsam ein Trampolin kaufen, warum nicht ein großes Becken auf eine Gemeinschaftsfläche stellen? Zweifellos wäre es viel effizienter und wesentlich kostengünstiger, in eine gemeinschaftliche Fotovoltaikanlage zu investieren. Dann bräuchte es nicht 40 Wechselrichter, 40 LKW-Batterien etc. Es versteht sich von selbst, dass sich so organisierte Kleingärtner vor allem als Konkurrenten und als Störung erleben. So etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl kann sich nur durch gemeinsames Tun und die dadurch übernommene Verantwortung entwickeln.

Gleichsam als Kommentar zu dieser Kleingartenanlage findet sich angrenzend ein gemeinschaftlich genutzter Garten. Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Statt Fertigteilhäuschen aus billigsten Materialien errichtete Folientunnel oder einfachste Schuppen, die zur Lagerung von Arbeitsgeräten oder als Unterstand dienen. Keines dieser Objekte ist durch eine Tür gesichert wie auch auffallenderweise Hecken wie andere Abgrenzungen fehlen. Dieser gemeinschaftlich genutzte Garten ist höchst durchlässig, muss es schon allein deshalb sein, weil es keine einzelnen Wasseranschlüsse gibt und das zum Gießen nötige Wasser in einem angrenzenden Bach geschöpft werden muss. Kürbisse können auf benachbarte Parzellen wuchern. Alle an diesem Projekt Beteiligten sind auf eine gewisse Kooperation angewiesen. Bestimmte Regeln müssen ausgehandelt werden. Konflikte scheint es kaum zu geben, obwohl die hier tätigen Kleingärtner unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehören oder abweichende Vorstellungen von einem Garten haben. Biogärtner treffen auf solche, die kein Problem mit Kunstdünger haben. Manchen dient der Garten zur Selbstversorgung, andere betrachten diesen als Ausgleich zu ihrer Büroarbeit. Nicht wenige der Kleingärtner haben einen Migrationshintergrund, was sich für die angrenzende Kleingartenanlage mit ihren Fertigteilhäuschen nicht sagen lässt. Offensichtlich hat eine gemeinschaftlich betriebene Gartenanlage eine integrierende Funktion. Während hier vor allem Nutzpflanzen wie Bohnen, Gurken oder Tomaten angebaut werden, haben wir es in der anderen Anlage fast ausschließlich mit Zierpflanzen, vor allem mit Hecken oder Rasenflächen zu tun. Üppigkeit im Gegensatz zu Monotonie, Selbstorganisation gegen passiven Konsum, Kooperation statt Konkurrenz. Auffallenderweise kommt man mit Menschen, die sich in einem der Fertigteilhäuschen eingemietet haben, so gut wie nie in ein Gespräch, während man sich mit den Gärtnern oder Gärtnerinnen des Gemeinschaftsgartens mühelos unterhalten und austauschen kann, und sei es über einen Zaun hinweg, dem einzig die Funktion zukommt, Rehe fern zu halten.

Als wir uns vor einigen Jahrzehnten eine Wohnung kauften, gab es zwischen den Wohnungseigentümern ständig irgendwelche Rechtsstreitigkeiten. Es ging um Mülltonnen, um den Lärm von Kindern, um den „Lärm“ übender Musikstudentinnen, um am falschen Platz abgestellte Fahrzeuge etc. Mit einigen gut überlegten Eingriffen ließ sich das ändern. Nicht nur gibt es heute zwischen den Wohnungseigentümern keine Rechtsstreitigkeiten mehr, die Bereitschaft, sich für gemeinschaftliche Anliegen einzusetzen, hat deutlich zugenommen, auch die gegenseitige Toleranz, letztlich die Wohn- und Lebensqualität. War es früher ein Ding der Unmöglichkeit, auch nur eine Sandkiste auf die Grünfläche zu stellen, so können heute die Kinder Fußball spielen, obwohl dies den Rasen ruiniert. Während die Grünfläche früher, da sich alle aus dem Weg gingen, gemieden wurde, wird sie heute allgemein genutzt. Ein kooperatives Verhalten dieser Art setzt keinesfalls voraus, dass alle Beteiligten die Welt gleich erklären. Man kann politisch ganz andere Vorstellungen haben.

Es ließen sich zahllose Beispiele auflisten, die all die Ressourcen deutlich machten, die an sich in nachbarschaftlichen Verhältnissen gegeben wären. Natürlich macht es Sinn weniger Fleisch zu essen, möglichst wenig zu fliegen, unnötiges Verpackungsmaterial zu vermeiden etc. Für die Welt kann man sich nicht verantwortlich fühlen, wohl aber für die Beziehungssysteme, in denen wir leben und agieren, nur hier werden die Effekte sicht- und erlebbar. So etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl kann sich nur durch gemeinsames Tun und die dadurch übernommene Verantwortung entwickeln. Klar ist, dass die Entwicklung in eine andere Richtung geht, dass diesbezügliche Überlegungen, man denke etwa an Ernst F. Schuhmacher, Aldous Huxley, Lewis Mumford, Simone Weil oder andere, so gut wie keinen Niederschlag gefunden haben und, wie wir heute wissen, angesichts der Ökonomisierung des ganzen gesellschaftlichen Lebens nicht finden konnten. Dass es Projekte gibt, die um solches bemüht sind, bestätigt die pessimistische Einschätzung mehr als dass sie diese widerlegt. Ganz allgemein müsste man die Ressource Nachbarschaft viel breiter denken, sich genauer mit all dem befassen, was sich solchem entgegensetzt. Bezeichnenderweise wird in der Werbung das Regionale, das Nahe und auch Nachbarschaftliche ständig bemüht, und dies trotz des Umstands, dass die geltende Ökonomie genau das Gegenteil forciert. Eine Lebensmittelkette wirbt mit: „AUS TIROL. FÜR TIROL. Der echt regionale Supermarkt. In unseren Märkten fühlen sich alle zuhause, egal ob man dauerhaft günstige Angebote sucht, Wert auf Regionales legt oder einfach unkompliziert an der nächsten Ecke einkaufen will.“ Bewegt man sich durch die Regalreihen, dann hat man es, mag affirmativ auch das Gegenteil behauptet werden, durchwegs mit industriell gefertigten Massenprodukten zu tun, von denen sich die wenigsten dem regionalen Umfeld verdanken.

Nachbarschaftliche Verhältnisse sind in der Regel höchst vielgestaltig. Menschen mit unterschiedlichster Herkunft oder Interessen können aufeinander treffen. Nach ökonomischen Kriterien organisierte Gefüge setzen dagegen angefangen von der Produktion bis hin zum Konsum auf größtmögliche Entmischung. So lassen sich Reibungsverluste wie wir sie etwa aus der Substistenzwirtschaft kennen, zwar weitgehend reduzieren, allerdings fallen dafür andere Kosten an, die zumeist unerwähnt bleiben oder nicht mitgedacht werden. Es mag einfacher und kostengünstiger sein, sich im Internet mit Büchern, Kleidern, Lebensmitteln etc. einzudecken, aber man trägt dadurch zur Verödung des eigenen Umfelds bei.

In letzter Zeit habe ich mich öfters mit Bekannten unterhalten, die sich eine Fotovoltaikanlage auf dem Dach oder im Garten errichten ließen. Auf meine Frage, warum sie nicht daran gedacht hätten, so ein Projekt gemeinsam mit Nachbarn in die Wege zu leiten, wurde mir stets vorgerechnet, wie viel Strom ihre Anlage inzwischen produziert habe. Ich hatte freilich keine Lust, mir die dank einer App visualisierten Tagesleistungen auf den mir entgegengehaltenen Handys anzusehen. In solchen Situationen muss ich nicht zufällig an einige abgelegene Bergbauernhöfe denken, deren Besitzer es in den 1920er Jahren trotz aller Rivalitäten schafften, gemeinsam ein kleines Wasserkraftwerk zu errichten, dies fünfzig Jahre bevor die Höfe erschlossen wurden. Das E-Werk gibt es noch immer, mag man es inzwischen technisch erneuert haben. Ohne jeden Zweifel kam diesem Projekt über all die Jahre eine gemeinschaftsfördernde Funktion zu. Es lieferte also nicht nur Strom, um Glühbirnen zum Leuchten zu bringen, Seilwinden oder Kreissägen anzutreiben.

Mit technologischen Innovationen soll dem Klimawandel begegnet werden. Möglichkeiten, die im Sozialen liegen, bleiben dabei weitgehend unbeachtet. Dabei fände sich hier ein großes Potenzial.
Wohl nicht zufällig hat Gogol in seiner grotesken Erzählung das Bild einer Camera obscura aufgegriffen, und zwar genau an der Stelle, in der der Konflikt seinen Ausgang nimmt: „Das Zimmer, in das Iwan Iwanowitsch kam, war völlig verdunkelt, denn die Fensterläden waren geschlossen. Der Sonnenstrahl, der durch ein Loch eindrang, das man in einem Fensterladen ausgespart hatte, schillerte in allen Regenbogenfarben, fiel auf die gegenüberliegende Wand und zeichnete eine bunte Landschaft von schilfgedeckten Dächern, Bäumen und auf dem Hofe hängenden Kleidungsstücken darauf, nur alles auf dem Kopf und seitenverkehrt. Das Zimmer war dadurch in ein sonderbares Halblicht getaucht.“ Ob Klimawandel, soziale Verwerfungen oder anderes, vieles wird diskutiert, als befänden wir uns einer Camera obscura. Es wäre an der Zeit, andere Kategorien einzuführen, manches vom Kopf auf die Füße zu stellen, etwa über Nachbarschaften zu diskutieren. Würden wir das machen, so könnten wir sagen: „Es ist nicht so traurig, Herrschaften!“

© Bernhard Kathan, 2024

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