FALLEN WIE KIRSCHBLÜTEN



Noch vor wenigen Jahren konnten wir uns sagen, nächstes Jahr werde ich dies oder das machen. Wir konnten uns dessen gewiss sein, dass es so sein würde. Diese Gewissheit ist uns abhanden gekommen. Die Welt ist buchstäblich unberechenbar geworden, sei es infolge von Epidemien, kriegerischer Ereignisse, ökonomische Verwerfungen oder durch den Klimawandel.

Die lange Kirschbautradition in Fraxern aufgreifend realisierte das HIDDEN MUSEUM zwischen 1995 und 2005 mehrere “Kirschblütenfeste”. Damals wollten wir (den auch heute noch alljährlich in Lokalmedien auftauchenden) Bildern der Fraxner Kirschblüte, in denen konkrete Arbeit wie das einzigartiges Erfahrungswissen (Hochstamm, Leiterbau, Ernte- und Vermarktungstechniken, Sortenkultivierung etc.) ausgeblendet wurde, einen anderen Blick entgegensetzen, so etwa Bedeutungen der Kirschblüte wie wir sie insbesondere aus der japanischen Kultur kennen. Die diesbezüglich spannendsten Arbeiten verdankten sich Jeannot Schwartz und der Komponistin Se-Lien Chuang. In der zeitlichen Distanz, angesichts von Globalisierung, Klimawandel wie anderer drohender Verwerfungen, scheint es mir geboten, das Thema noch einmal aufzugreifen.

Inzwischen hat sich vieles geändert: Als erstes ist der Klimawandel zu nennen: Natürlich gab es auch früher schlechte, selbst verheerende Jahre. Während es sich dabei um Einzelereignisse handelte, so lässt sich inzwischen sagen, dass es in den letzten Jahrzehnten zumindest in dieser Höhenlage (1000m) so gut wie keine nennenswerte Ernte mehr gab. Infolge des Klimawandels blühen die Bäume früher, leiden dann aber an späten Wintereinbrüchen. Zog sich in meiner Kindheit die Kirschernte noch in die erste Augustwoche hinein, so ist sie heute spätestens um den 10. Juli vorbei. Ein anderer Indikator für den Klimawandel findet sich im vermehrten Auftreten der Kirschfliege, die in dieser Höhenlage aufgrund der kälteren Winter früher nahezu unbekannt war. Auch die Globalisierung macht sich bemerkbar. Erwähnt sei die eingeschleppte Kirschessigfliege. Das inzwischen beklagte „Kirschbauernsterben“ hat viele sich wechselseitig verstärkende Ursachen. Die Zahl der Imker hat – nicht zuletzt infolge von Varroa – abgenommen. Während der Blüte sind selbst an sonnigen Tagen nur vereinzelt Bienen zu beobachten. Gesumm ist keines mehr zu hören. Auch haben infolge der Globalisierung regional produzierte Kirschen an Bedeutung verloren. War es vor einem halben Jahrhundert noch üblich, dass Angehörige - nicht zuletzt Kinder - bei der Kirschernte halfen, so sind inzwischen die wenigsten dazu bereit. Die frühere Geselligkeit gibt es nicht mehr. Kirschen, für die subsistenzwirtschaftlich lebenden Dorfbewohner lange eine wichtige Einnahmequelle, haben ihre ökonomische Bedeutung verloren. Insgesamt brechen somit eine Reihe von Kulturtechniken weg, die lange Jahrhunderte von Bedeutung waren. Ob In-door-Anlagen eine Zukunft haben werden, das wird sich weisen, und sollten sie eine haben, dann werden solche nur noch dem Namen nach etwas mit der behaupteten Tradition zu tun haben.

Ein Kirschblütenfest im Jahr 2022 hat all dem Rechnung zu tragen wie es auch generell für all die Umbrüche stehen kann und soll, die wir heute erleben. Dank gründlicherer Kenntnisse der japanischen Literatur ist mir inzwischen klar, dass blühende Kirschbäume in Japan eine andere Bedeutung haben als gemeinhin angenommen. In der japanischen Tradition stehen Kirschblüten nicht zuletzt für die Flüchtigkeit des Lebens, weshalb sie nicht nur für die Samurai, sondern auch für das faschistische Japan von großer symbolischer Bedeutung waren. Einheiten von Kamikaze-Piloten wurden als „Kirschblüten-Einheiten“ bezeichnet. Wie Kirschblüten dann vom Baum fallen, wenn sie am prächtigsten blühen, so sollten mutige Soldaten nicht an ihrem Leben hängen. Am Ende saßen die Kamikaze-Piloten weniger in einem Flugzeug als in einer düsenbetriebenen Bombe, die sich „Okas“ – Kirschblüten nannten. Ihre Aufgabe war es einzig die Bombe ins Ziel zu lenken. Dass von Freiwilligkeit nicht die Rede sein konnte, dass Kamikaze-Piloten, manche von ihnen waren fast noch Kinder, unter einem enormen sozialen Druck standen, sei hier nur am Rande erwähnt. Manche Kamikaze-Piloten sollen weiße Zettelchen aus dem abfliegenden Flugzeug geworfen haben, auch das ein Bild, das an fallende Kirschblüten, die der Wind vor sich hertreibt, denken lässt. Auf das „Kirschendorf“ Fraxern bezogen mag das irritierend erscheinen: Was haben japanische Kamikaze-Piloten mit all den Veränderungen und Umbrüchen gemein, die hier unübersehbar sind? Will man etwas deutlich machen, dann darf man sich vor irritierenden Verknüpfungen nicht scheuen.

Der Künstler Martin Breindl hat sich ausgehend von Kindheitserinnerungen in einem „Flugzeugfallen“ betitelten Projekt mit diesbezüglichen Bildern beschäftigt. In einer langen Objektserie verschmelzen die in seiner Kindheit von ihm zusammengebauten Modellflugzeuge, bei denen es sich durchwegs um Kriegsflugzeuge handelt, darunter auch ein Kamikaze-Flugzeug, mit Bügeleisen, die seine Mutter als Näherin hinterlassen hat. Vergangenheit und Gegenwart fallen ineinander.

Ausgehend von Martin Breindls Objekt baut sich der Raum auf. Neben anderem sind zwei großformatige Abbildungen zu sehen – nein, keine Kirschblüten oder blühende Kirschbäume. Beide Aufnahmen sind etwa um dieselbe Zeit entstanden, also in den Jahren 1942 bis 1945. Auf der einen sind junge Kamikaze-Piloten zu sehen, die eine geradezu gesellige Traube bilden und einen fröhlichen Eindruck machen. Dieser Geselligkeit wird eine Geselligkeit gegenübergestellt, die früher während der Kirschernte nicht unüblich war. Diese Aufnahme, ein Farbdia, entstand übrigens auf dem gegenständlichen Gelände. Da wie dort haben wir es nicht nur mit einer Gruppe junger Erwachsener, sondern auch mit Tod und Krieg zu tun, mögen die Aufnahmen auch einen gegenteiligen Eindruck erwecken. Der Fotograf der zweiten Aufnahme fiel schon kurze Zeit später.

Dass das Kirschblütenfest diesmal nicht in die Zeit der Kirschblüte fällt, mag irritieren, ist aber kein Problem. Es könnte auch mitten im Winter begangen werden. Ich habe mich für die Zeit der beginnenden Hirschbrunft entschieden, nicht nur der lauen Herbstabende wegen. Hirsche sind ja ein gutes Beispiel für verloren gegangene Gewissheiten. Über viele Jahrhunderte hatten sie hier nahezu gleichbleibende Gewohnheiten. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich das grundlegend geändert und es ist nur eine Frage der Zeit und es wird hier keine Hirsche mehr geben. Die Streuobstwiesen, im Herbst eine energiereiche Nahrungsquelle, sind weitgehend verschwunden, selbst junge Kirschbäume, deren Triebe sich in Zeiten, in denen Schnee lag, abäsen ließen. Durch die ausufernde Bebauung und Erschließung hat sich ihr Lebensraum drastisch verringert wie auch Wanderungsbewegungen schwierig oder gar unmöglich geworden sind. Elektrische Weidezäune und vieles andere spielen dabei eine Rolle. Auch gibt es keine wirklichen Rückzugsgebiete mehr. Selbst spätabends können Menschen auf Ebikes mit weit leuchtenden Lampen unterwegs sein. Störungen über Störungen. Gut denkbar, dass es in zwanzig Jahren keine Hirsche mehr gibt. Ähnliches könnte auch für den Menschen gelten, nur dass sich der Mensch im Gegensatz zu den Hirschen seiner Lebensgrundlagen selbst beraubt.

Manchmal ist es mir, als stürzten wir uns wie Kamikaze-Piloten in den sicheren Untergang; als seien wir einer unentrinnbaren Mechanik des Todes ausgeliefert. Da werden keine Mädchen stehen, die uns nachwinken oder wieder in die Schule laufen, ist der Funkkontakt abgebrochen. Wir werden, hat das mit Sprengstoff beladene Flugzeug abgehoben, keine weißen Zettelchen aus dem Flugzeug werfen ...

© Bernhard Kathan, 2022

HIDDEN MUSEUM
1. - 21. September 2022
Martin Breindl, „Flugzeugfallen“
Ksenia Yurkova, Fotos
Se-Lien Chuang, „Der Duft der Blüten“, eine elektroakustische Arbeit
Bernhard Kathan, „Wie mein Vater als Bergbauer und Nichtschwimmer statt zu den Gebirgsjägern zur Kriegsmarine kam und was dann noch geschah.“
Günter Gstrein / Bernhard Kathan: „Die Mußegesellschaft“
Nebst zwei historischen Aufnahmen und der Dokumentation „Das Kirschblütenfest“ von Jeannot Schwartz

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