Kapitel 2

Feldnotiz 101 / Meine Aufgabe ist es, eine ethnologische Studie über den Park durchzuführen, mich mit der Frage zu beschäftigen, welche Folgen es hätte, würde der Park geöffnet, was wohl weniger heißt, den Park für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen, als vielmehr die Mädchen und Frauen, die darin leben, nicht länger von der Außenwelt abzuschirmen. Die Erwartungen meines Auftraggebers sind mir unklar. Er denkt wohl, ein Ethnologe würde dem Idyll erliegen. Keine Frage, wir haben es mit einem großangelegten sozialen Experiment zu tun, welches in der Geschichte der Menschheit seinesgleichen sucht, bestenfalls vergleichbar mit den Reduktionen der Jesuiten. Allerdings finden sich im Park nur Personen weiblichen Geschlechts, ist nichts zu erkennen, was an Arbeit denken lässt.[1] Noch nie habe ich so gut verdient. Ich habe mich verpflichtet, nichts zu veröffentlichen und während meiner Feldarbeit das Gelände des Unternehmens nicht zu verlassen. Von Feldarbeit kann keine Rede sein, ist mir doch das Betreten des Parks verboten, sehe ich alles, was sich darin abspielt, einzig auf neben- und übereinander an einer Wand fixierten Monitoren. Mir ist kein einziger Text über den Park bekannt, von dessen Existenz wohl kaum ein Außenstehender eine Ahnung hat. Nur in groben Zügen weiß ich um seine Funktion. Auf meine Fragen antwortet mir Champell - er ist meine Ansprechperson - stets, ich solle mich nur auf meine ethnographischen Erfahrungen verlassen. Mit Begeisterung habe er meine Studie über ein italienisches Bergdorf gelesen, in dem nur noch alte Frauen leben. Die Selbstorganisation dieser Frauen habe ihn fasziniert.[2]

Feldnotiz 109 / Es muss über den Park Unmengen an Material, Konzepten, Statistiken, Berichten an Vorgesetzte geben, Papier eben. Wie in jeder Planwirtschaft. Nichts davon ist mir bekannt, nichts davon kann ich einsehen. Champell ist höflich, zuvorkommend. Er kennt sich in der ethnologischen Literatur gut aus. Und doch mag ich seine Anwesenheit nicht. Ich habe das Gefühl, selbst Teil eines Experiments zu sein. Mir wurde ein Zimmer in einem der Gästehäuser zugeteilt. Hotelcharakter. Üblicherweise esse ich in einem der Restaurants, die es für die vielen Mitarbeiter des Unternehmens gibt. Ich kann mir aber auch jederzeit Essen auf mein Zimmer, ja selbst in diesen Raum bringen lassen. Im Augenblick bevorzuge ich Austern. Sie werden mir auf einem Tablett mit Zitrone und einem trockenen Weißwein serviert, höflich von wechselnden Personen, manchmal männlichen, manchmal weiblichen Geschlechts, auf den Arbeitstisch gestellt. Vermisse ein weißes Tischtuch. Auch verstößt es gegen Anstand und Sitte, auf einem Drehstuhl, der "Arbeit" schreit (dabei kann von Arbeit keine Rede sein), Austern aus ihrer Schale zu schlürfen. Niemand hindert mich daran, meine Arbeit zu unterbrechen, um einen Spaziergang durch die etwas außerhalb liegenden Grünanlagen zu machen. Manchmal setze ich mich dort in ein Café. Recht langweilig. Hätte ich Lust, ich könnte mich auf dem Golfplatz herumtreiben. Um mich abzulenken, setze ich mich abends in eine der Bars und betrinke mich. Selten in meinem Leben habe ich so viel getrunken. Labors und viele andere Bereiche sind mir verschlossen. Dank eines mir implantierten Chips musste mir diesbezüglich nicht viel erklärt werden. Hier sind die Türen beredt. Ich brauche mich nur einer Tür zu nähern, um zu wissen, dass mir auch dieser Bereich verschlossen ist.

Feldnotiz 114 / Champell war hier, hier in diesem Monitorraum. Er hielt mir einen Vortrag, so als spräche er vor großem Publikum. Champell schritt, während er sprach, im Raum auf und ab. Manchmal legte er längere Pausen ein, als müsse er nachdenken. Es ginge um möglichst viele Nachkommen von züchterisch interessanten Individuen, um die Ausschöpfung des genetischen Potentials, um Selektion auf Leistung, Fruchtbarkeit, Langlebigkeit und Gesundheit mit der Konsequenz der Ausmerzung unwirtschaftlicher Individuen. Es handle sich um gesellschaftliche Fragen, welche zweifellos die Zukunft der Menschheit bestimmen würden. Dank künstlicher Befruchtung sei es schon lange möglich, aus hochwertigem Samenmaterial weniger Männer abertausende Nachkommen zu züchten, beim weiblichen Zuchtmaterial seien dagegen enge Grenzen gesetzt gewesen. Ich hörte nur mit einem Ohr zu, dachte an Persönlichkeiten, die aus dem Dunkel, aus dem Nichts an die Oberfläche, ins Rampenlicht gespült werden, was sich kaum bestem Erbmaterial, sondern allerlei Zufällen verdankt. Champell riss mich aus solchen Gedanken, die er nicht verstehen hätte können. Die Möglichkeiten der heutigen Biotechnologie erlaubten es, hochwertiges Erbmaterial von Frauen besser zu nutzen: "Heutige Zuchtmütter können zwar nicht abertausende, aber doch viele Nachkommen haben. Wird hormonell eine Superovulation ausgelöst, dann erreichen mehrere Follikel das sprungreife Stadium. In der Folge werden die Eizellen meist durch Mehrfachbesamung befruchtet, nach sechs bis acht Tagen aus der Gebärmutter gespült oder operativ entnommen. Die qualitativ hochwertigen Embryonen eignen sich gleichermaßen für den Direkttransfer auf Austragemütter wie für die Kryokonservierung in flüssigem Stickstoff bei minus 196°. Bis zum sogenannten 8-Zell-Stadium lassen sich die befruchteten Zellen trennen und einzeln zur Weiterentwicklung bringen. So werden aus einem Embryo bis zu acht genetisch identische Nachkommen erzeugt, die dann in Austragemütter verpflanzt und von diesen ausgetragen werden ..." In diesem Ton sprach er weiter. Ich warf ein, all das ließe mich an die Rinderzucht denken. Er erwiderte, damit läge ich nicht falsch: Sehe man vom Gewicht, anatomischen Unterschieden oder davon ab, dass bei Rindern selbst bei der seltsamsten Kreuzung psychologische Momente keine Rolle spielen, so verdanken sich die angewandten reproduktionsmedizinischen Techniken tatsächlich der Rinderzucht: "Vergessen Sie nicht, Kühe werden mit denselben Hormonpräparaten stimuliert, wenn auch in anderer Dosierung." Es beginne mit der Auswahl des Zuchtmaterials. Diese erfolge nach exakt festgelegten Eigenschaften. Neben einer besonders hohen Fruchtbarkeit werde vor allem darauf geachtet, Nachkommen auszuscheiden, deren genetisches Programm erbliche Erkrankungen, Stressanfälligkeit, einen geringen Widerstand gegen Umweltgifte, Allergieneigungen, eine verminderte Leistungsfähigkeit oder ein für die Gesellschaft nachteiliges soziales Verhalten erwarten ließe: "Dank der wissenschaftlichen Forschung zahlloser Kollegen und Kolleginnen wissen wir, dass die genetischen Dispositionen hinsichtlich der Toleranz gegenüber Umwelttoxinen, allergenen Substanzen, ja selbst gegenüber radioaktiven Belastungen stark voneinander abweichen. Natürlich legen wir größten Wert auf Schönheit." "Und was hat all das mit meiner Arbeit zu tun?"
"So viel kann ich Ihnen sagen, all die Mädchen und jungen Frauen, die Sie auf den Bildschirmen sehen, haben nur eine einzige Aufgabe. Sie dienen der Produktion hochwertigster Eizellen und Embryonen. Auf diese eine Aufgabe werden sie vorbereitet. Deshalb wachsen sie getrennt von allem gesellschaftlichen Leben auf."
"Sie werden also in frühem Alter ausgewählt?"
"Wo denken Sie hin! Nein, sie werden produziert. Ihre Existenz verdankt sich unseren Labors."

Feldnotiz 115 / Der Monitorraum, in dem ich sitze, befindet sich in einem Verwaltungsgebäude. Es ist nicht weit bis zum Hauptplatz, der von repräsentativen, futuristisch wirkenden Gebäuden eingefasst wird. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, als bewege man sich in einem Stadtteil, der in den letzten Jahrzehnten an der Peripherie einer größeren Stadt aus dem Boden gewachsen ist. Die sehr ambitionierte Architektur, in der jedes der Gebäude als Teil eines komplexeren Zusammenhangs gedacht ist, lässt städtebauliche Planung erkennen. Neben Bürotürmen, unterschiedlichsten Forschungseinrichtungen mit ihren Labors oder Industrieanlagen finden sich Wohnblocks, Supermärkte, Kindergärten und Schulen, Restaurants und Freizeiteinrichtungen, darunter auffallend viele Massageinstitute und Fitnesscenter. Auf Grünanlagen wurde ebenso wenig vergessen wie auf zahlreiche Einrichtungen, die der sportlichen Betätigung dienen. Aber mit einer wirklichen Stadt haben wir es nicht zu tun. Ältere Menschen fehlen ebenso wie Touristen oder Bettler. Man kann sich hier keine Menschen vorstellen, die aus sozialen Gefügen gefallen sind, um es kurz zu sagen, keine Überflüssigen. Auf den Straßen sieht man keine Polizisten. Ihre Aufgabe wird von einem allgegenwärtigen betriebseigenen Sicherheitsdienst erfüllt. Wir haben es weniger mit einem Stadtteil als mit einem Betriebsgelände zu tun. Wem immer man begegnet, er oder sie ist auf diese oder jene Weise mit dem Unternehmen verbunden. Jede wirkliche Stadt lebt von der Verschiedenheit der Menschen, also all jener, die sie bewohnen, in ihr ihrer Arbeit nachgehen oder sie nur frequentieren. Hier jedoch scheinen sich die Menschen auffallend ähnlich, sieht man von ihrem Alter und ihrem Status ab. Alle scheinen zielstrebig, diszipliniert, emsig. In den wenigen Bars sieht man niemanden herumlungern. Solche Orte dienen lockeren, aber knapp gehaltenen Gesprächen. Vielleicht sehe nur ich das so, falle ich doch ganz aus der hier herrschenden ameisenhaften Geschäftigkeit. Ich muss mich manchmal betrinken, sonst würde ich es nicht aushalten. Ich habe kein Ziel vor Augen. Auch das unterscheidet mich. Genaugenommen interessiert es mich nicht, was ich auf den Bildschirmen sehe. Bewege ich mich durch das Areal, über den Hauptplatz, durch einige der Nebenstraßen, stehe ich neben anderen in einem Aufzug, dann ist es mir, als liefen zahllose Champells herum, männlichen und weiblichen Geschlechts, kleine und große. Unterhalte ich mich ihm im Monitorraum, dann denke ich mir, ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt, und schon wird es mit deiner Geschäftigkeit vorbei sein.

Feldnotiz 118 / All das, was ich zu sehen bekomme, ist nicht sehr aufregend. Die Ethnologie lebt von Brüchen, ganz gleich, ob es sich um Regelverletzungen oder um Bruchlinien im menschlichen Leben handelt. Nichts dergleichen ist mir bislang untergekommen. Ich sehe Mädchen, die in einem Park spielen, mit Bällen und Reifen, Mädchen, die um Bäume laufen, bei gymnastischen Übungen, während des Unterrichts, Mädchen, die essen (sehr diszipliniert!), Mädchen, die sich kämmen, duschen, die Zähne putzen oder schlafen gehen. All das ließe sich, wenn auch mit kleinen Unterschieden, tausendfach sehen, auf Spielplätzen oder in Mädchenpensionaten etwa. Ich sitze aber nicht auf einer Bank auf einem Spielplatz, sondern in einem Monitorraum. Und dann scheint der Park im Gegensatz zu einem Spielplatz in höchstem Maße entmischt. Niemand führt darin seinen Hund aus. Hunde fehlen. Niemand quert ihn, sei es zu Fuß oder mit dem Fahrrad, um einen anderen Punkt in der Stadt zu erreichen. Schließlich scheinen sich die Mädchen, die ich auf den Monitoren sehen kann, ernsthafter zu verhalten. Ich mag mich irren, aber sie wirken auf mich, trotz aller Kindlichkeit, als wären sie bereits Jahre älter. Über all ihrem Treiben liegt ein großer Ernst, ein bleierner Ernst.

Feldnotiz 124 / Vom Hügel des Golfplatzes aus hat man einen guten Überblick. Hinter dem riesigen Betriebsareal dehnt sich, scharf davon abgegrenzt, eine Parklandschaft aus. Zwischen Baumgruppen sind würfelartige Gebäude zu erkennen. Alle scheinen nach demselben Plan errichtet. Im Zentrum ist ein fensterloses, monolithartiges Bauwerk zu sehen, dessen Funktion mir rätselhaft ist. Es ist mir noch nie auf einem der Bildschirme aufgefallen. Das ist umso erstaunlicher, als ich mit Bildern von unter Baumgruppen spielenden Mädchen geradezu gefüttert werde. Etwas abgesetzt davon überragt ein großes, eiförmiges Gebilde die Baumkronen. Es muss mehreren hundert Personen Platz bieten. Schreibe ich eiförmig, dann bin ich ungenau. Es wirkt eher, als habe jemand ein Ei in die Breite gedrückt. Aber aus der Entfernung, zwischen all den Bäumen, lässt es an ein in einem Nest liegendes Ei denken. Innerhalb des Parks sticht ein abgegrenzter Bereich heraus. Statt einer offenen Gartenlandschaft haben wir es hier mit einer geometrischen Gartenanlage zu tun. Exakt geführte Linien betonen, sei es durch die Wegführung, durch Hecken- oder Baumschnitt, ein weiß gestrichenes Gebäude, welches durch einen längeren Quertrakt mit dem Hauptkomplex verbunden ist, der als Teil des eigentlichen Betriebsgeländes unmittelbar an den Park angrenzt. Im Hintergrund geht der Park in eine offene Weidelandschaft über.

Feldnotiz 129 / Im Augenblick lässt sich Champell öfters sehen. Ich würde nur zu gerne wissen, in welchem Gebäude er sein Büro, welche Funktion er innehat. Er gibt sich kollegial, ist es aber nicht. Er verfügt über meine Zeit (über mich). Stets habe ich mich nach ihm zu richten. Ich weiß nichts über ihn, er über mich sehr vieles. Beschrieb ihm, wie ich den Park vom Hügel des Golfplatzes aus wahrgenommen habe. Als ich ihn nach dem seltsamen Objekt in der Mitte des Parks fragte, antwortete er nur knapp. Dieses Gebäude sei ohne jede Bedeutung. Es handle sich um einen Flakturm, ein Relikt aus früheren Zeiten. Alle Versuche, ihn zu sprengen und abzutragen, seien vergeblich gewesen. Die Gegend, die heute so friedlich daliege, sei früher militärisches Sperrgebiet gewesen. Welche Bedeutung der Flakturm für die Mädchen habe, fragte ich. Sie sähen ihn nicht anders, als ragte eine natürliche Felszacke aus dem Boden. Er habe für sie nicht die geringste Bedeutung. So ein monströses, in seiner phallischen Form geradezu obszönes Objekt, das einen drohenden Schatten werfen muss? Noch ehe ich weitere Fragen stellen konnte, hatte er mich verlassen.

Feldnotiz 134 / Heute habe ich etwas sehr Seltsames zu Gesicht bekommen. Bedauerlicherweise zeigte das Bild immer wieder Schlieren. Zu sehen war ein großer, vollkommen leerer Raum. Jede Ecklinie, jede Ausbuchtung der linken Hälfte fand sich spiegelverkehrt auf der rechten, so ein an der Wand abgebildeter Hirsch, auch das Mädchen, das auf einer an einem Ast eines Baumes befestigten Schaukel der Mitte zu schwang. In der Wandmalerei schien alles der leeren Mitte des Raumes zuzustreben. Linste ich durch meine fast geschlossenen Lider und betrachtete das Wandgemälde, so war es mir, als hätte ich einen Tintenklecks aus dem Rohrschachtest vor Augen. Dabei war ein Schäferidyll zu sehen, ganz im Stil eines Fragonard[3] gehalten. Ein Hirsch bricht aus dem Dickicht, und zwar genau in dem Augenblick, in dem sich die Schamfuge des schaukelnden Mädchens zeigt. Welche Lächerlichkeit, bewegt sich doch weder der Hirsch, noch das Mädchen. Der Rohrschachtest verdankte sich fraglos der Faltung, worüber sich lange und vieles schreiben ließe. Noch während ich darüber nachdachte, betraten zeitgleich rechts und links zwei Gruppen den Raum, hielten, kaum waren sie eingetreten, inne und verharrten. Links konnte ich mehrere ältere Damen in reich bestickten Gewändern erkennen, in ihrer Mitte ein etwa zehnjähriges Mädchen, ebenfalls üppig gekleidet. Auf der rechten Seite etliche Männer in ebenfalls seltsamster Kleidung und grotesken Kopfbedeckungen. Einer von ihnen trug eine Federkrone, ein anderer eine wattierte weiße Kopfbedeckung mit hornähnlichen Wülsten, die spitz nach vorne zeigten. In dieser Gruppe befand sich eine Dame in Begleitung einer jungen Frau, bei der es sich allem Anschein nach um eine Dienerin handelte. Nach einer längeren Pause, die beiden Gruppen schienen sich schweigend zu mustern, trat linkerhand auf einen Wink einer der Damen das Mädchen vor, bewegte sich unsicheren Schrittes auf die andere Gruppe zu und blieb exakt in der Raummitte stehen, so als hätte jemand dort einen Strich gezogen. Nach einer weiteren Pause folgte tänzelnden Schrittes die Dame, die das Mädchen vorgeschickt hatte, und begann dieses zu entkleiden. Das Mädchen weinte, ließ aber alles ohne Widerstand über sich ergehen. Als es splitternackt dastand, sein Körper schien mir noch sehr kindlich, unaufgeblüht, zog sich die Dame wieder zurück, wobei sie alle Kleidungsstücke, die sie während des Auskleidens achtlos auf den Boden hatte fallen lassen, aufhob, über ihren linken Arm legte und mitnahm. Nicht vergessen seien ihre ballettartigen, ja automatenhaften Bewegungen, die nun noch eine weitere Steigerung erfahren sollten. Nach einer Pause löste sich die Dame aus der Gruppe der auf der rechten Seite stehenden Männer und schritt in Begleitung der Dienerin auf das nackte Mädchen zu, das weinend und zitternd in der Mitte stand. Die Bewegungen der beiden wirkten auf mich völlig grotesk, hielten sie doch nach jedem kleinsten Schritt, nach jeder kleinsten Drehung, nach jeder kleinsten Bewegung, sei es eines Armes, einer Hand oder des Kopfes, inne, um nach einer Pause die Bewegung fortzusetzen. Ohne Zweifel bedurfte es langer Übung, um sich solcherart bewegen zu können, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Als die beiden endlich das Mädchen erreicht hatten, begann die Dame, ohne auch nur ein Wort mit dem Mädchen zu wechseln, dieses anzukleiden, wobei sie weiterhin nach jeder kleinsten Bewegung innehielt, während ihr die Dienerin mit ähnlich ruckartigen Gesten die einzelnen Kleidungsstücke reichte, ein weißes Unterhöschen, ein weißes Unterröckchen, weiße Strümpfe, Unterhemdchen, Unterkleidchen, weiße und blaue Bänder, ein Seidenhemd, Spitzen und Maschen, worauf schwere, reich bestickte Kleider folgten. Das Mädchen ließ alles mit sich geschehen, hob, ohne dazu aufgefordert zu werden, einmal das linke, dann das rechte Bein, streckte seine dünnen Arme nach oben, wurde ihm dieses oder jenes übergestreift. Als das Mädchen seinen rechten Fuß leicht anhob, um in einen kleinen roten Schuh zu schlüpfen, begannen die Monitore zu flimmern. Was habe ich gesehen? Was ließ man mich sehen? Eine Theateraufführung? Vermutlich. Wäre mir der Ton nicht verweigert worden, zweifellos wäre Musik zu vernehmen gewesen, was die ganze Theatralik noch gesteigert hätte. Wäre die Kamera nur wenige Meter zurückgefahren, ein Orchestergraben hätte sich vor mir aufgetan, gefüllt mit Streichern, Bläsern und Trommlern. Sollte es sich tatsächlich um eine Aufführung gehandelt haben, die grotesken Bewegungen, der kulissenartige Hintergrund und anderes sprechen dafür, dann würde ich nur zu gerne den Ausgang des Stückes kennen. Nimmt es ein gutes oder ein böses Ende?

Feldnotiz 140 / Es bedürfte wohl nur weniger Minuten, um den ersten der Pavillons zu erreichen. Aber der Park bleibt mir verschlossen. Das Nahe und das Ferne gerät durcheinander. Denke an M. Sie ist tatsächlich sehr weit von mir entfernt, unerreichbar, und doch ist sie mir tausendmal näher als all die Mädchen, die ich auf den Bildschirmen vor mir sehe, in Schlafräumen, im Freien, bei irgendwelchen Übungen oder Spielen.

Feldnotiz 141 / Bat Champell, mir doch einiges zu erklären. Er könne mir nur einige Anhaltspunkte nennen. Im Park wüchsen Mädchen heran und würden auf ihre spätere Aufgabe als Eizell- und Embryonenlieferantinnen vorbereitet. Ihre ganze Erziehung ziele darauf ab. Erreichten sie die Geschlechtsreife, durchliefen sie ein Noviziat. Ihre Einführung in das Programm geschehe anlässlich einer großen Feier. Dann wechselten sie vom Park in den Garten. Viel gäbe es nicht zu erklären. All das sei für meine Arbeit gar nicht wichtig. Ich solle meine ganze Aufmerksamkeit auf das konzentrieren, was ich zu sehen bekäme. Champell verließ mich wortlos. Ethnologen beschäftigen sich mit Strukturen, die sich im Laufe von vielen Jahrhunderten unter dem Zusammenspiel vielfältigster Einflüsse und Bedingungen herausgebildet haben. Hier habe ich es offensichtlich mit experimenteller Ethnologie zu tun, mit Verhaltensdesign, mit Lebensbedingungen und Verhaltensweisen, die auf dem Reißbrett entworfen und organisiert wurden. Initiationsriten aus dem Labor. Das würde ich gerne einmal den Idioten unter meinen Kollegen unter die Nase reiben. Pubertätsriten etc. bedürfen keiner Geschichte. Der Park macht das deutlich. Man müsste all das über Bord werfen, was wir über Elternschaft denken. Und dann drängt sich mir noch eine andere Frage auf: Warum sollten sich Menschen nicht wie Hühner oder Rinder halten lassen, vorausgesetzt, eine solche Haltung setzt in früher Kindheit ein? Aber dann stoße ich mich bereits an Worten wie "Park" oder "Garten" (Gemüseanbau).

Feldnotiz 143 / Der Park scheint keine Männer zu kennen. Wer sägt morsch gewordene Bäume um, wer pflegt die Wege, wer den Rasen, wer führt Reparaturarbeiten durch? Warum sollten das nicht auch Frauen können? Nur kam mir noch nie ein weibliches Wesen auf einem der Bildschirme bei so einer Tätigkeit unter. Das mag unwesentlich sein, ist aber ein Beispiel dafür, was ich alles nicht sehe, was mir alles nicht gezeigt wird, aus welchen Gründen auch immer. Vom Hügel des Golfplatzes aus, von wo aus sich der Park zumindest überblicken lässt, sind keine Fahrzeuge zu erkennen. Wie funktioniert die Versorgung? Vermutlich sind die einzelnen Gebäude durch unterirdische Gänge miteinander ebenso wie mit der Außenwelt verbunden. Auf den Bildschirmen habe ich nie einen dieser Gänge gesehen. Insbesondere über den Garten lässt sich wenig sagen. Was immer mit Medizin zu tun hat, scheint ausgeblendet. Dabei brauche ich mich nur in eines der Restaurants zu setzen, um zu wissen, dass hier sehr viel medizinisches Personal am Werk ist. Ich unterhalte mich, aber über konkrete Arbeit habe ich bislang nichts erfahren. Ich scheine von einer Art Aussatz befallen, zumindest allgemein bekannt zu sein. Alle sind zuvorkommend, sehr höflich, oft genug werde ich nach meinem Befinden gefragt, aber eine wirkliche Unterhaltung will nicht zustande kommen.

Feldnotiz 147 / Park meint eine großflächig angelegte, waldartige, umschlossene Grünanlage, einen eingehegten Raum, auch Tiergehege. Dann kann Park auch im Sinne von Sammelplatz oder Depot verwendet werden: Wagenpark, Fuhrpark, Maschinenpark. Üblicherweise wird Park im einen oder im anderen Sinn gebraucht. Hier jedoch fällt das eine mit dem anderen zusammen, Natur, mag sie auch simuliert sein, und Technik. Vorrätig gehalten, vorbereitet für den späteren Gebrauch: Mädchen, die, haben sie (in scheinbar natürlicher Landschaft) die Geschlechtsreife erreicht, Eizellen liefern und zur Produktion hochwertiger Embryonen dienen sollen.

Feldnotiz 152 / Größere Mädchen untersuchen unter Aufsicht älterer Damen kleinere Mädchen, vor allem den Geschlechtsapparat. Um Untersuchungen im eigentlichen Sinn scheint es sich nicht zu handeln, eher um eine spielerische Einübung in später einzunehmende Rollen. Dementsprechend wird das Platznehmen auf einer Miniaturausgabe eines gynäkologischen Stuhles, das Auflegen der Schenkel auf den seitlich angebrachten Stützen wie das Öffnen der Beine oft wiederholt. So kann ein und dasselbe Mädchen, ein Kind noch, zehnmal vor die Tür geschickt werden, um nach einer Pause die Tür wieder zu öffnen, einzutreten, sich zu entkleiden und, ohne dazu aufgefordert zu werden, den Stuhl zu besteigen. Die Lehrerin, also das größere Mädchen, bricht augenblicklich ab, scheint ihr auch nur die kleinste Bewegung, was mir nie auffallen würde, nicht ganz exakt ausgeführt. All das wird von den Mädchen mit großem, geradezu feierlichem Ernst betrieben. Das größere Mädchen bedient sich dabei stets, beinahe hätte ich es vergessen, einer Gerte, die es sich nicht scheut anzuwenden. Wie immer gilt auch hier, dass Rollen, denen jemand nicht gewachsen ist, und das trifft auf die kindlichen Lehrerinnen gewiss zu, übertrieben dargestellt werden. Das erklärt die Unerbittlichkeit. Wie sehr sich doch Spiel und Ernst überlagern und durchdringen können. So oft ich es beobachten konnte, nie ist eine der erwähnten älteren Damen eingeschritten, selbst dann nicht, begann eines der kleinen Mädchen zu heulen, sei es, weil es gescholten oder mit der Gerte geschlagen wurde.

Feldnotiz 155 / Ich wüsste nur zu gerne, was in den Köpfen der Mädchen vorgeht.

Feldnotiz 157 / Alle Kameras scheinen fest installiert. Der Bildrand ist durchwegs vorgegeben. Auflisten, was auf den Monitoren zu sehen ist. Räume, Verhalten etc.

Feldnotiz 163 / Kam letzten Abend mit einer Laborantin in ein Gespräch. So stellte sie sich vor. Versuchte Näheres über ihre Arbeit zu erfahren. Ach, das sei doch ganz langweilig, den ganzen Tag vor Laborproben zu sitzen. Die reinste Büroarbeit. Mit einer Laborantin hatte ich es gewiss nicht zu tun. Ihr Vater betreibe eine Tankstelle in irgendeinem Kaff in Wisconsin. Gut möglich. Sie roch zwar nicht nach Benzin, aber eine Tankstelle dürfte ihr Wesen geprägt haben. In solch gottverlassenen Gegenden bleiben nur selten Autos stehen, es sei denn, es ist ein Mädchen in einem kurzen, rotleuchtenden Rock mit gelbem Oberteil zu sehen, macht sich an der Zapfsäule zu schaffen oder auf andere Weise auf sich aufmerksam. Ich: "Vermutlich hat der taubstumme Bruder deines Vaters die ganze Arbeit gemacht." - "Woher wissen Sie das?" - "Ich habe es in einem amerikanischen Film gesehen." Sie fragte mich, was ich denn so den ganzen Tag machen würde. Würde mich wundern, hätte man ihr nicht ein kleines Dossier zu meiner Person gegeben, auch zu meinen Vorlieben, die wohl längst aktenkundig sind. Dafür hatte sie sich zu zielgerichtet auf den Barhocker neben mir gesetzt. Ich erzählte ihr trotzdem vom Monitorraum, von einem langweiligen Tag. Schon aus Trotz. Ich mag keine Geheimnistuerei. Den ganzen Tag hätte ich auf Überwachungsbildschirmen kleinen Mädchen zugeschaut. "Sind diese Mädchen denn gefährlich?" - "Nein." - "Und was machen sie den ganzen Tag?" - "Was Mädchen eben so machen, sieht man einmal davon ab, dass sie oft mit Doktorspielen beschäftigt sind. Ich wusste es nicht, aber es gibt nicht nur Puppenküchen, sondern auch gynäkologische Puppenbehandlungsräume, alles en miniature." - "Sie behandeln Puppen?" - "Nein, sie untersuchen sich gegenseitig, größere Mädchen die kleineren." - "Das könnten wir auch machen." Und das taten wir dann auch. Um genauer zu sein, eigentlich taten wir es nicht. Ich war viel zu betrunken, als ich im Bett lag, viel zu sehr mit dem Park und den Mädchen beschäftigt, die sich in meinem Kopf eingenistet hatten und in die wildesten Träume drängten. Ich muss wohl in dem Augenblick eingeschlafen sein, als die Laborantin eine ihrer großen Tankstellenbrüste über meine Lippen gleiten ließ. Auf jeden Fall ist es das Letzte, woran ich mich erinnern kann. Es ist aber auch möglich, dass ich es nur geträumt habe. Als ich aufwachte, fand ich mich allein im Bett.

Feldnotiz 168 / Besonders bedrückt mich, dass ich nur Bilder sehe, aber keinen Ton höre. Ich sehe Mädchen und Frauen sprechen, höre aber nicht, was sie sagen. Was nützen all die Bilder, wenn es keine Sprache gibt. Auch deshalb meine stete Neigung zu Selbstgesprächen, dazu, Mädchenstimmen nachzuahmen, einmal zu kichern, dann wieder in einen strengen Tonfall zu verfallen. Zweifellos kann Champell hören, was in all den Räumen geschieht, gesprochen wird. Es muss eine Absicht darin liegen, mir den Ton, die Sprache zu verweigern. Champell unterhält sich mit mir, aber wir sprechen nicht wirklich miteinander. Auch was ich notiere, fällt aus jeder Sprache. Würde ich zwei Jahre so weiterschreiben, niemand vermöchte den Sinn meiner Notizen zu entziffern. Sie läsen sich als wirres Zeug. So betrachtet ist die Sorge des Unternehmens, was etwaige Publikationen betrifft, völlig unbegründet. Kein Mensch würde mir glauben, was ich hier gesehen habe. Und jene, die mir glaubten, fielen wohl nicht ins Gewicht. Meine Selbstgespräche sind ein Versuch, den Mangel an Gegenrede auszugleichen. Unterhalte ich mich abends an der Bar mit einer Laborantin oder einer Frau, die von sich behauptet, Laborantin zu sein, dann spreche ich zwar, aber eine wirkliche Unterhaltung will nicht zustande kommen. Manchmal ist es mir, als hingen all die Worte und Sätze an unsichtbaren Fäden und würden durch einen verborgenen Mechanismus aus Mündern hervorgezogen.

Feldnotiz 171 / Heute galt meine Aufmerksamkeit dem Raum mit der Masturbationsmaschine. Masturbationsmaschine? Ich nenne den seltsamen Apparat nur so. Seine Funktion ist mir unbekannt. Champell ließ mich bislang auch diesbezüglich im Unklaren. Vielleicht dient diese Maschine einfach dem körperlichen Wohlbefinden. Es könnte auch sein, dass diejenigen, die sie benutzen, sich ihr hingeben, in eine leibliche Kommunion mit einem göttlichen Wesen treten, um sich begatten zu lassen. Weshalb sollte eine sakrale Maschinenbegattung nicht möglich sein, lässt sich doch inzwischen nahezu alles Maschinen überantworten. Es wäre also nur konsequent, die leibliche Communio zu automatisieren. Aber für einen sakralen Akt scheinen mir die Gestaltung des Raumes ebenso wie der Apparat doch zu profan. Vermutlich hat sich mir das Wort "Masturbationsmaschine" deshalb aufgedrängt, fragt man als Ethnologe doch zwangsläufig nach dem Geschlechtsleben, was in einer Welt, in der nur Frauen leben, manche Frage aufwirft. Dass ich eine Maschine an die Stelle des fehlenden Mannes setze, kann wohl als Ausdruck männlicher Phantasien verstanden werden. Stundenlang starrte ich auf den Bildschirm, auf den seltsamen Apparat, auf dessen aufgeklappte Flügel (Engelsgestalt!), in einen nüchternen, mit roten Natursteinfliesen ausgekleideten Raum, auf eine Duschkabine, ein Wäscheregal mit sauber aufgeschichteten Handtüchern. Nicht die geringste Bewegung. Nicht eine der jungen Frauen betrat den Raum. Ich hoffte, die Masturbationsmaschine würde aus ihrem Schlaf erwachen, sich in Bewegung setzen, um ihre Funktionsfähigkeit zu prüfen. Nichts. Nichts. Nicht die geringste Bewegung. Nach einigen Stunden schlief ich ein. Ich muss lange und tief geschlafen haben. Im Traum sah ich mich an einem Sandstrand liegen. Ein polynesisches Mädchen massierte mich. Beiläufig erzählte es Geschichten von Weißen, die man erschlagen und verzehrt hatte. Ich schreckte auf, als das Mädchen meinte, das sei auch mein Schicksal, auch ich würde aufgefressen werden. Dabei hatte ich mich unter den Bewegungen ihrer Hände und Finger ganz entspannt. Mein Blick fiel auf den großen Bildschirm. Die beiden Flügel der Masturbationsmaschine waren geschlossen. Oben ragte der Kopf, das Gesicht einer jungen Frau heraus, im Nacken und seitlich durch Polsterbacken gestützt. Ein sehr schönes Gesicht. Plötzlich setzte sich der Apparat in Bewegung, führte einen seltsamen Tanz auf, machte verrückte Figuren, einmal sanft, langsam, dann stoßartig, dann wiederum heftig rüttelnd. Ich versuchte, mit Hilfe der Zoomfunktion das Mienenspiel im Gesicht der jungen Frau genauer zu betrachten, das gleichermaßen Lust, Glück und Schmerz zum Ausdruck brachte. Ja, ich vermeinte in diesem Gesicht so etwas wie Trauer zu sehen, doch der Eindruck blieb flüchtig, machte der Apparat doch spätestens dann, wenn ich das Gesicht in Großaufnahme vor mir hatte, eine unvorhergesehene Bewegung, wodurch es wieder aus dem Bildfeld verschwand. Ich gab das Spiel auf und blieb bei der Totalen.

Feldnotiz 175 / Mein Kopf dröhnt. Habe gestern zu viel getrunken. Unterhielt mich mit einer Laborantin. Aber was heißt hier schon Laborantin? Fragte ich sie etwas, dann meinte sie stets, darüber dürfe sie nicht sprechen. Dafür zeigte sie ein erstaunliches Interesse an meiner Arbeit. Womöglich wurde sie mir als Schatten zugewiesen. Immerhin, ein schöner weicher Frauenleib. Das zählt viel in einer Welt, in der ich nahezu den ganzen Tag allein in einem fensterlosen Raum verbringe, nur Bilder sehe. Als ich aufwachte, fand ich mich allein im Bett. Ich kann mich nicht einmal an ihren Namen erinnern. Filissa? Nein.

Feldnotiz 178 / Wieder einmal war Champell hier. Warum besucht er mich? Um mich zu kontrollieren? Nein, das hat er nicht nötig, das geschieht auf ganz andere Weise. Leidet er womöglich unter Langeweile? Auch das ist auszuschließen. Dafür ist er zu geschäftig. Er braucht mich, damit ihm etwas einfällt, was ihm in seiner Welt, in seinem Gynäkologie-Geschäftsführungs-Golfplatz-Universum, nie einfallen kann. Unterhielt mich über schöne Körper, auch so ein Versprechen des Unternehmens. Fragte ihn, wer entscheide, was als schön zu gelten habe. Das entscheide der Markt, die Nachfrage. Eine junge Frau mit gut sitzenden, nicht zu kleinen Brüsten, einem wohlgeformten Hals, Beinen, die nicht zu kurz oder zu lang seien, werde in ihrem Leben mehr Erfolg haben als eine Frau, die an Fettleibigkeit leide oder deren Gesicht von einem Feuermal entstellt sei. Ich warf ein, so würde der Körper, wenn nicht gar das Leben selbst, zu einem Konsumgegenstand gemacht: "Schauen Sie sich doch die Menschen in einem Shopping-Center an. Sie werden sehr viele hässliche Menschen sehen. Ihre Hässlichkeit verdankt sich vor allem dem Konsum. Konsum macht hässlich." Auch meinte ich, Schönheitsvorstellungen hätten sich im Laufe der Zeit immer wieder geändert. Erinnerte ihn an Frauenbildnissen von Rubens. Als hätte ich ihm das nötige Stichwort gegeben, sprang er wie ein Strichmännchen aus seinem Sessel und meinte: "Sehen Sie, auch Rubens hat einen Markt bedient." Auch wenn sich der Geschmack ändere, so seien, was Schönheit betreffe, bestimmte Merkmale unbestreitbar. Menschen mit einem symmetrischen Gesicht verfügten über einen höheren Reizwert. Natürlich gebe es kein Schönheitsgen. Es ginge auch mehr darum, unerwünschte Merkmale auszuschließen. Er müsse nur durch eine x-beliebige Stadt gehen, um in der Masse Kinder und Erwachsene zu sehen, die sich dem Programm verdankten: "Würden Menschen die Geschlechtsreife so schnell wie Rinder erreichen, von Mäusen und Fruchtfliegen ganz zu schweigen, wir wären wesentlich weiter. In der Rinderhaltung ließen sich innerhalb weniger Jahrzehnte nie dagewesene Leistungstypen entwickeln."
"Ich muss an Boxer oder Abfahrtsläufer denken."
"Warum nicht? Abfahrtsläufer sind ein gutes Beispiel. Technische Lösungen, die Ausrüstung, Schischuhe, Schier und ähnliches betreffend, sind nahezu ausgereizt. Das einzig wirkliche Potential liegt in der Herstellung entsprechender Körper. Ich kann Sie beruhigen. Wir haben Vieles in unserem Programm, Boxer oder Abfahrtsläufer bislang noch nicht."
"Dass eine Frau mit einem wohlgeformten Körper eher begehrt wird, ist nachvollziehbar. Aber das Begehren kennt doch auch eine soziale Seite. Menschen, die keineswegs einem gängigen Schönheitsideal entsprechen, können über ein hohes Attraktivitätspotential verfügen, sind sie etwa vermögend oder medienpräsent. Es ist nicht ungewöhnlich, dass widerlichste Mörder, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurden, womöglich auf ihre Hinrichtung warten, Heiratsanträge erhalten."
"Unglück paart sich eben gerne mit Unglück. Hier stoßen wir an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Wir sind uns dessen bewusst. Ich will es Ihnen am Beispiel von Beschneidungen erklären, ohne jetzt im Detail auf all die unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen und Praktiken einzugehen. Wie sich in der Rinderhaltung in kürzester Zeit hornlose Rinder züchten ließen, so wäre es möglich, Menschen zu entwickeln, die ohne Vorhaut oder Klitoris zur Welt kämen. An sich ein sehr großer Markt. Aber wären die Menschen dann glücklicher? Ich denke nicht, fiele doch der Akt der Beschneidung weg, ein Eingriff, dem eine wichtige soziale Funktion zukommt. Zugehörigkeit erlangt man nicht durch das Fehlen der Vorhaut, sondern durch den Akt der Beschneidung."

Feldnotiz 179 / Manchmal sind Raumpflegerinnen zu sehen, die Böden wischen, Tische decken oder abräumen. Mit den Mädchen scheinen sie kaum etwas zu tun zu haben. Erstelle Listen, was ich sehe und was ich nicht zu Gesicht bekomme.

Feldnotiz 186 / Ich blicke immer wieder in dieselben Räume und Pavillons. Bislang hat sich mir kaum ein Gesicht eingeprägt. Wie könnte das auch möglich sein, finden sich doch zu jedem der Mädchen andere, die ihm so ähnlich sind, dass es scheint, als seien all ihre Gesichter demselben Modell nachempfunden. Bestenfalls lassen sich verschiedene Typen voneinander unterscheiden. Und dann sind alle auf ähnliche Weise gekleidet. Hosen scheinen verpönt. Auf jeden Fall habe ich bislang kein Mädchen in einer Hose gesehen, es sei denn in Strumpfhosen, die sie manchmal bei ihren Ballettübungen tragen. Alle tragen Röcke, die kleineren Mädchen Röckchen, also Kleidung, die nicht beengen soll. Dieselben Muster, dieselben Farben. Sind die Mädchen in größeren Gruppen versammelt, dann lässt mich ihre Ununterscheidbarkeit an Hühnerställe denken, an zusammengepferchte Hühner, mag auch jedes von ihnen seinen Willen haben, seinen eigenen Wegen nachgehen, um dann doch nur das zu tun, was alle machen, in festgetretener Streu nach Würmern zu scharren (in geschlossenen Ställen ein vergebliches Bemühen), zum Futtertrog oder zur Tränke zu laufen. Auf einem Monitor betrachtet erschienen alle Hühner gleich, es sei denn, es hätte sich bei einem der Hühner an der Kloake ein Abszess gebildet oder würde sich sonst eine Verletzung zeigen. In diesem Augenblick träte es aus der Masse, würde es doch von zahllosen Hühnern verfolgt, jedes von ihnen begierig darauf, etwas vom Eiter, vom Blut oder Fleisch des Opfers abzubekommen. Ist so eine Bewegung einmal in Gang gesetzt, hat sie den Tod des Opfers zur Folge. Rasch ist die Bauchhöhle aufgepickt, sind die Gedärme herausgezerrt. Das Huhn, solcherart unterscheidbar geworden, verhielte sich nicht anders, böte sich nur ein Opfer, und wäre deshalb auch nur als Teil einer Masse zu betrachten. Ja, an Hühnerställe muss ich immer wieder denken, aber auch an Autos, meinte Champell doch, die Mädchen würden produziert. Man sagt zwar, ein Kind könne ein Produkt dieses oder jenes Zufalls sein, aber daran denkt Champell nicht, ganz im Gegenteil. Er hat Serien im Kopf. Das Unternehmen ist alles andere als ein Handwerksbetrieb, in dem ein alter Meister mit wenigen Gehilfen in monatelanger Arbeit sagen wir einmal ein Klavier baut, das in seinem Klang alles Dagewesene übertreffen soll. Es geht um Produktionslinien, die sich zwangsläufig immer ähnlicher werden, wie Autos, die sich auf dem Markt befinden. Autos und Hühner schließen sich nicht aus.

Feldnotiz 192 / Das Alter der Mädchen, ihre Stellung, ja, ihre Stellung, lässt sich an den Farben der Kleider ablesen, auch an der Länge ihrer Röcke. Es finden sich nur dezente Farbtöne, wohl Ausdruck des allgemeinen Bemühens, jeder Art von Überreizung entgegenzuwirken. Jüngere Mädchen, also jene, die noch als Kinder zu betrachten sind, sind in Gelb- oder Rottönen gekleidet. Mit zunehmendem Alter werden die Farben ernster, um schließlich in Grautönen zu enden. An die Stelle bunter Bänder treten weiße oder zartblaue. Ohne jeden Zweifel entsprechen die Farben den Entwicklungsstufen der Mädchen. Sind die Röckchen der kleineren Mädchen kurz gehalten, so bedecken sie bei jenen Mädchen, die in das geschlechtsreife Alter kommen, bis unter die Knöchel. All das, was in Farben und Röcken seinen Ausdruck findet, nimmt seinen Anfang im Spiel und endet in einem großen Ernst.

Feldnotiz 197 / Ich betrachte Mädchen bei der Aufführung eines Theaterstücks. Nichts Szenisches, keine lächerliche Geschichte, in der ein Mückenprinz auftritt.[4] Der Inhalt scheint völlig nebensächlich. Die Betonung liegt auf der Geometrie, wie mir hier überhaupt alles sehr geometrisch, geradezu gespenstisch mathematisch erscheint. Womöglich ist alles zahlenmäßig organisiert, bis hinein in die kleinste Bewegung, jeder Sprechakt, all die Regeln und Regelverstöße (diese entziehen sich meiner Kenntnis), selbst die Anzahl der Mädchen. Gleichungslösungen ohne unbestimmbares n, zumindest im vorgegebenen Ideal. Erreicht ein Mädchen die Geschlechtsreife, so muss es den Park verlassen. Um die Leerstelle wieder zu füllen, tritt ein anderes, ein Mädchen im Alter von etwa fünf Jahren, an seine Stelle. Exakt im selben Augenblick öffnet sich da und dort je eine Türe. So ist die Ordnung gesichert. Die Zahl bleibt immer dieselbe. Unschärfen sind allerdings nicht auszuschließen. Nicht jedes Mädchen erreicht seine Geschlechtsreife zur selben Zeit. Was geschieht, wenn eines der Mädchen im Badeteich ertrinkt? Solche Fragen drängen sich mir auf. Wozu bedarf es hier eines Ethnologen? Ein Geometer, ein Mathematiker oder ein Mechatroniker wäre eher geeignet. Vielleicht sollte ich die Sprache vergessen und nur mit Zahlen arbeiten, mit Zeichen, deren Bedeutung nur ich kenne. Lässt sich zählen, wenn stets nur Teile einer bestimmten Menge zu sehen sind? Nein. Wie lässt sich aus Teilen auf das Ganze schließen?

Feldnotiz 198 / Zumindest eine Frage ist geklärt. Der Rasen wird von einer Riesenschildkröte kurz gehalten. Das animalische Äußere des Roboters ist wohl als Zugeständnis an empfindsame Mädchenseelen zu betrachten.

Feldnotiz 199 / Wie ich feststellen konnte, scheint die Benutzung der Masturbationsmaschine streng geregelt. Aber wer teilt ein? Wer hat Vorrang? Insbesondere in den Abendstunden wird der Apparat regelmäßig benutzt. Stets derselbe Ablauf. Eine der jungen Frauen betritt den Raum, entkleidet sich, legt die abgelegten Kleidungsstücke auf einen Hocker, setzt sich in den aufgeklappten Automaten, worauf dieser seine Flügel schließt und längere Zeit in Ruhestellung verharrt, um dann nahezu unvermittelt die erwähnten Bewegungen auszuführen. Schließlich kehrt er in die Ausgangsstellung zurück, bleibt eine gewisse Zeit regungslos, um dann endlich seine Flügel zu öffnen. Die Passagierin steigt heraus, sichtlich belebt, geht zur Dusche und stellt sich unter einen breiten Wasserstrahl. Währenddessen kann eine andere den Raum betreten, sich in derselben Weise entkleiden etc.

Feldnotiz 201 / In der Nähe des Hauptplatzes entdeckte ich eine Buchhandlung. Kaufte mir neben einigen Romanen mehrere Fachbücher: "Zur Elastizität fester Stoffe", ein materialkundliches Buch, dann "Grundlagen für die Lösung von Steuerungsaufgaben", letzteres wegen der vielen schematischen Darstellungen, die sich einem begabten Graphiker verdanken. Schlage hin und wieder das Buch auf und lese den einen oder anderen Absatz: "Berührungslos arbeitende Schalter bezeichnet man als Näherungsschalter oder Sensoren. Sie schalten, wenn der zu erfassende Gegenstand in den Schaltbereich gelangt. Näherungsschalter bestehen aus dem elektrischen Sensor und einem elektronischen Teil, der das binäre Ausgangssignal liefert ... Alle logischen Verknüpfungen können durch die Grundfunktionen UND, ODER und NICHT dargestellt werden." All das, was ich auf den Monitoren zu Gesicht bekomme, scheint nicht viel anders organisiert. Letztlich macht es keinen großen Unterschied, ob wir es mit Werkstoffen oder mit Menschen zu tun haben. Mühelos ließen sich manche der Abbildungen, vorausgesetzt, alle Erklärungen und Beschriftungen würden entfernt, auf soziale Abläufe oder die Steuerung von Menschen übertragen.

Feldnotiz 205 / Lernte gestern an der Bar wieder eine Laborantin kennen. Laborantinnen scheinen hier nicht älter als zwanzig zu sein. Ein Rätsel, warum sie sich ausgerechnet neben mich setzte, auf ein Gespräch einließ, bin ich doch wesentlich älter als sie. Betrachte ich mich im Spiegel, dann blickt mir ein graues, müdes Gesicht mit verquollenen Augen entgegen. Noch rätselhafter, warum sie mich auf mein Zimmer begleiten wollte. Madeleine. Oder auch nicht. Erzählte ihr, als wir im Bett lagen, eine komische Geschichte, die ganz woanders spielt, in einer anderen Zeit, und die doch so auf sie zugeschnitten war, dass sie es nicht missverstehen konnte: "Um ungestört eine Abschlussarbeit zu schreiben, zog sich ein Student in ein leerstehendes Haus zurück. Eines Tages kam er (Madeleine knabberte an meinem Hals herum oder machte sich auf andere Weise an meinem Körper zu schaffen), die Dämmerung brach eben herein, in ein Gespräch mit einer hübschen Frau, die im Garten eines der Nachbarhäuser auf sich aufmerksam machte. Sie mochte etwa in seinem Alter gewesen sein. Ihre Eltern hätten eine weite Reise unternommen. Sie verstünde nichts von Gartenarbeit, deshalb sei der Garten so verwildert. Da sich die beiden gut verstanden, verbrachten sie die Nächte miteinander. Aber jeden Morgen fand sich der Student allein in seinem Bett. Umso mehr dachte er an die junge Frau, an ihr seidenweiches, langes, schwarzes Haar (Madeleines Haar war auch schwarz, lang und seidenweich), er dachte an ihre samtene Haut und ihre dunklen Augen (weitere Übereinstimmungen). So wohlgeformte Zehen könne nur eine Göttin haben. Auch ihren Bauchnabel konnte er nicht vergessen (wie bei einem Kind, dem man Geschichten erzählt, küsste ich in diesem Augenblick Madeleines Bauchnabel, so wie jeweils die anderen der erwähnten Stellen). Auf die Idee, ihn mit Wein zu begießen und aus dem Grübchen zu schlürfen, kam der Student nicht. Da er mathematische Studien betrieb, dachte er sich den Nabel als Spitze mehrerer gleichschenkliger Dreiecke. In seinem Kopf zog er Linien zu den Augen, Brustwarzen, Knien und so weiter. Zwischen all den Dreiecken, so vermutete er, müsse ein gesetzmäßiges Verhältnis bestehen." Als ich so daherredete, hätte Madeleine einwerfen können: "Lass die Frauen und studier Mathematik!"[5] Sie tat es aber nicht, weshalb ich fortfahren konnte: "Darüber vergaß der Student seine eigentliche Arbeit und wartete nur noch auf das Hereinbrechen der Dunkelheit. Auch plagte ihn zunehmend die Angst, sie könnte nicht wiederkehren. Aber diese Angst war völlig unbegründet. Kaum hatte er sich nach Einbruch der Dunkelheit ins Bett gelegt, hörte er sie nahen, wenn auch mit leisen Schritten. Nach einigen Monaten wurde er blass und blässer. Er magerte ab. Er war nicht zu retten. Die junge Frau war nämlich gar keine junge Frau, sondern eine Füchsin, also eine Tote, die sich nur die Gestalt einer hübschen Frau zugelegt hatte und ihm das Leben aus den Knochen saugte. Statt Gartenzaun könnte ich auch Bar sagen. Vermutlich bist auch du eine Füchsin." Madeleines Lachen kam nicht von Herzen. Dabei habe ich die Geschichte viel witziger erzählt, als ich sie hier niederschreibe. Aber sie ließ alles mit sich machen. Ihr Stöhnen, das eines Automaten, lachhaft, völlig unnötig und traurig zugleich. Noch ehe ich sie fragen konnte, wer ihr den Auftrag erteilt habe und wieviel sie für ihre Arbeit erhalte, war ich eingeschlafen. In der Früh lag ich allein im Bett. Ekelte mich vor mir selber.

Feldnotiz 211 / Die Mädchen sind oft genug bei ballettartigen oder gymnastischen Übungen oder Spielen zu sehen. Ihre Röcke scheinen ihnen dabei nicht hinderlich. Hier bieten sich mir viele Gelegenheiten, über Röcke nachzudenken. Angenommen, ich säße im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert vor dieser Monitorwand, dann würde ich eine Streitschrift zu den Vor- und Nachteilen von Röcken und Hosen verfassen, lässt mich die Bekleidung der Mädchen doch an jene denken, die gegen das Korsett oder andere allzu enge Kleidung anschrieben. Während ich noch darüber nachdachte, kam Champell hereingeschneit, aus welchen Gründen auch immer. Wir kamen auf die Kleidung der Mädchen zu sprechen. Auf meine Fragen gab er mir nur ausweichende Antworten. Deshalb drängte es sich mir geradezu auf, jene Eindrücke zu schildern, die ich zu Beginn meines Studiums in einer von Nonnen geführten psychiatrischen Anstalt gesammelt hatte. Es gab dort ein großes, von einem Maschendrahtzaun umschlossenes Gehege, in dem sich die Kranken, Insassen, Verrückten, oder wie immer man sie nennen mochte, tagsüber aufhielten. Eine Parklandschaft war es nicht, fand sich darin doch weder ein Baum noch ein Blumenbeet. Das Gehege war gekiest und der Kies lag so hoch, dass man beim Gehen Mühe hatte. Um den Kranken Schutz vor Sonne oder Regen zu bieten, waren die Randbereiche überdacht. Exakt in der Mitte des Geheges verlief eine Trennwand, die das Gehege in zwei Hälften unterteilte. Die Frauen waren dem Sonnenaufgang, die Männer dem Sonnenuntergang zugeordnet. Freilich, so meinte ich Champell gegenüber, habe sich das einem Zufall verdankt. Der Sonne habe niemand eine Bedeutung zugemessen, sie sei nur als eines unter anderen Wetterphänomenen betrachtet worden. Dann kam ich auf die Kleidung zu sprechen. Es war nämlich so: An Sonn- und Feiertagen trugen alle Patientinnen ein Festtagsgewand. Das wäre an sich nicht außergewöhnlich gewesen, auffällig daran war jedoch, dass alle Frauen exakt dasselbe Gewand trugen, gelbe, mit billigen Borten versehene Röcke und dazu passende Hemden und Blusen. Dadurch gingen all die Frauen in einer gleichförmigen Masse auf (bin wieder beim Eindruck eines Hühnerstalles). Dabei hätten sie gar nicht verschiedener sein können. Sie unterschieden sich nicht nur durch ihre Körpergröße, ihr Aussehen, ihr Alter oder durch den Ausdruck ihrer Gesichter, auf denen sich die ganze Bandbreite zwischen größtem Leiden, Angst, Verzweiflung und einem stumpfen Glück oder völliger Apathie widerspiegelte. Manche litten an Schizophrenie, führten laute, oft genug verworrene Selbstgespräche, andere (manche waren wegen ihres Wandertriebes, damals noch ein Einweisungsgrund, interniert) liefen ruhelos im Gehege herum, wieder andere waren mit einem Mikrozephalus oder einer anderen Missbildung zur Welt gekommen. Letztere nahmen ihre Umgebung kaum wahr, blieben oft genug auf den Bänken sitzen, gleichbleibende Bewegungen mit dem Oberkörper, dem Kopf oder den Händen wiederholend. Als ich Champell davon berichten wollte, wie schwer es mir falle, die einzelnen Mädchen, die ich auf den Bildschirmen sehe, zu unterscheiden, dass ich mich dagegen selbst nach Jahrzehnten an einzelne Patienten der erwähnten Anstalt erinnern könne, von manchen sogar die Namen behalten hätte, wich er aus und meinte: "Genau das wollen wir verhindern. Wer immer sich unserem Programm verdankt, wird gesund zur Welt kommen." Rasch verließ er, wenn auch sichtlich erregt, den Monitorraum.

Feldnotiz 217 / Ich muss an die dünnen Trennwände der Toiletten der Schule meiner Jugend denken, an die zahllosen Spuren jahrzehntelangen Bohrens. Generationen von Schülern haben, kaum hatten sie das pubertäre Alter erreicht, mit Zirkeln, Taschenmessern (Froschfänger) oder anderen Behelfsmitteln Öffnungen geschaffen, die einen Blick in eine der benachbarten Kabinen erlaubten. Um sich vor fremden Blicken zu schützen, stopfte man aus Toilettenpapier gedrehte Kügelchen in die Öffnungen der dünnen Trennwände. Sehen, ohne selbst gesehen zu werden, das ist das Wesen jedes voyeuristischen Blicks. Erst hier, in diesem Raum, vor dieser Monitorwand, vor der mir bislang wenig einfallen wollte, beginne ich es zu verstehen. Dabei werde ich ständig beobachtet, allerdings nicht von jenen, die ich beobachte. Die Wirklichkeit verdankt sich dem Medium, mit dem sie betrachtet wird, gleichgültig, ob es sich um ein Astloch in einer Toilettenwand oder um einen Bildschirm handelt. Auf den ersten Blick scheint es, als sei eine ganze Welt vor mir ausgebreitet. Tatsächlich sehe ich nichts als Ausschnitte, habe ich es mit zahllosen Leerstellen zu tun. Man müsste all das sehen, was nicht gezeigt wird, all das, was mir die Bildregie vorenthält, also das Wesentliche. Aber auch dann sähe ich auch nur eine verzerrte Wirklichkeit. Und doch lässt sich das eine oder andere sehen, die Ausstattung der Räume, Zimmerpflanzen, die Kleidung der Mädchen. Selten aber doch sehe ich eine Reinigungskraft durch das Bild huschen. Zirkel und Bohrer könnten mir hier nicht dienlich sein, auch keine aus Toilettenpapier gedrehten Kügelchen. Zweifellos habe ich mich in letzter Zeit mit Leuten unterhalten, die für die Bildregie verantwortlich sind. Warum sollte nicht die eine oder andere dieser Laborantinnen, mit denen ich immer wieder zu tun habe, im Regieraum sitzen. Sie scheinen mich, obwohl sie stets so tun, als wäre dies nicht der Fall, gut zu kennen.

Feldnotiz 218 / Sehe ich den Mädchen bei ihren Spielen zu, so scheinen sie ganz ihren Impulsen zu folgen, an nichts anderes zu denken, ganz darin aufzugehen. Was für ein Gegensatz zur Geschäftigkeit jener, die sich im Betriebsgelände, auf dem Golfplatz und so fort bewegen. Sehe ich aber genauer hin, dann findet sich im Park dieselbe unerbittliche Disziplin. Auch hier wird gearbeitet, produziert. Nur wissen die Mädchen nicht darum. Der Gedanke daran lässt mich erschauern. Es darf nicht den geringsten Reibungsverlust geben, und koste es das Leben.

Feldnotiz 225 / Tanzende Mädchen, sie trugen ein recht traditionell wirkendes rosarotes Röckchenkostüm, führten konvulsiv-rhythmische Figuren auf einer Bühne aus. Seltsamster Gesang. Endlich wurde mir wieder einmal der Ton zum Bild geliefert. Noch nie habe ich einen vergleichbaren Gesang gehört. Während der Rhythmus üblicherweise den Herzschlag aufgreift, musste ich an eine Atembewegung denken, an ein Empfangen und Geben, Einatmen und Ausatmen, Anschwellen und Abschwellen. Mit welcher Hingabe sie sich dem Tanz hingaben! Hingabe, das klingt verrückt, lässt mich doch all das, was ich sehe, mehr an ein Hinnehmen, wenn nicht Nehmen denken. Aber das eine schließt das andere keineswegs aus, im Gegenteil. Ihre Hingabe schien sie größer zu machen, als sie sind. Verdankte es sich ihren Bewegungen oder der Musik? Einmal schienen sie größer zu werden, dann wieder kleiner, so als würden sie schrumpfen, um neuerlich anzuschwellen, anzuwachsen und so fort. Ohne Ton hätte der Tanz viel von seiner Wirkung verloren. Bei Tageslicht oder in einem grell erleuchteten Raum müssten all die Bewegungen wohl sehr lächerlich wirken. Plötzlich bildeten die Mädchen, sei es auf ein Zeichen hin oder weil der Gesang es verlangte, einen Kreis und gaben die Mitte der Bühne frei. Ein Kreisrund des Bodens versank in der Tiefe. Der Gesang steigerte sich, schwoll an, beinahe drohend, aber immer noch in einem feierlichen Ton gehalten. Wenige Augenblicke später schob sich aus dem Boden langsam ein thronartiges Gebilde, halb Altar, halb Liege, darauf ein in ein prachtvolles Kleid gehülltes Mädchen. Kaum hatte sich der Boden wieder geschlossen, fiel der Ton aus und ich konnte auf dem Monitor nur noch Gesichter von Mädchen und jungen Frauen sehen, die in Zuschauerrängen saßen und gebannt das Schauspiel verfolgten. Zwar fiel mir das sich wechselnde Mienenspiel auf, so etwa ein wiederholtes Aufatmen, aber da mir das eigentliche Geschehen verborgen blieb, wollte ich mich nicht länger damit beschäftigen. Wie schon so oft zuvor wurde mir auch nun das Wesentliche vorenthalten. Wieder wurde mir bewusst, dass in einem anderen Raum einer vor einer Monitorwand sitzt und Bildregie führt, bestimmt, was ich sehen darf und was nicht. Ich ärgerte mich. Da es ohnehin bereits spät geworden war, verließ ich den Monitorraum und setzte mich in eine Bar.


Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] Choräle singend, mit Trommeln und Posaunen, die Muttergottes und Heilige mit sich tragend, zur Feldarbeit schreiten. Selbst die Fortpflanzung als kultische Praxis. [Bezieht sich auf die "Reduktionen", von Jesuiten zwischen 1609 und 1767 organisierte und geleitete Siedlungen, in denen die indigene Bevölkerung Südamerikas zusammengefasst werden sollte. Auf ihren Kanufahrten durch den Dschungel machten die Missionare die Erfahrung, dass die von ihnen angestimmten Gesänge auf die halbnomadisch lebenden Guaraní eine große Faszination ausübten. Sie lernten die Sprache der weit verstreut lebenden Ureinwohner und entwickelten aus den Dialekten eine einheitliche Schriftsprache. In den Reduktionen lebten schließlich fast 200.000 Indios in Sicherheit und bescheidenem Wohlstand. Es gab kein Privateigentum. Zwar konnten die einzelnen Familien, denen Gartenflächen zugewiesen wurden, diese selbst bewirtschaften, aber die eigentliche Arbeit, etwa fünf Tage in der Woche, war den Lebensgewohnheiten der Guaraní entsprechend als Gemeinschaftsarbeit organisiert. Das Leben war streng geregelt, von einer kultischen Praxis durchdrungen. Alle Kinder lernten in ihrer Muttersprache und in Spanisch lesen und schreiben. Es gab Krankenstationen und eigens ausgebildete Krankenschwestern. Einer Reduktion standen in der Regel zwei Jesuiten vor, die auch als Richter, Ärzte, Architekten, Musiker, Instrumentenbauer, Handwerker, Händler oder Ingenieure wirkten. Weder weiße Siedler noch Mestizen, nicht einmal Vertreter der Regierung hatten Zugang zu den Reduktionen. Die erwirtschafteten Gewinne aus landwirtschaftlichen und handwerklichen Betrieben wurden zu einem beachtlichen Teil in Kirchenbauten, nicht zuletzt in Musik investiert. Schon bald verstanden es die Guaraní, selbst schwierige achtstimmige Vespern, Messen, ja sogar Opern aufzuführen. Musikinstrumente wurden nach europäischen Mustern gebaut. Obwohl sie in unterschiedlichsten Berufen, für die sie angelernt wurden, ein erstaunliches Geschick entwickelten, wurden sie von den Jesuiten in Abhängigkeit gehalten, was nicht zuletzt entscheidend zum raschen Zusammenbruch der Reduktionen beigetragen haben dürfte.]

[2] ["Grimacco. Dorf der Frauen."]

[3] [Jean-Honoré Fragonard, Rokoko-Maler.]

[4] [Anspielung auf Frank Wedekinds unvollendete Erzählung "Mine-Haha oder Über die körperliche Erziehung der jungen Mädchen" (1903).]

[5] [Anspielung auf Jean-Jacques Rousseaus "Bekenntnisse", wo es heißt: "Zanetto, lascia le donne, e studia la matematica."]