Kapitel 16

Champell: „Wie haben Sie Yo Stern kennengelernt?“ Neurath: „Da ich wusste, wo sie wohnte, war es nicht schwierig, sie zu finden. Yo hat die Angewohnheit, am frühen Abend in einer Bar Notizen niederzuschreiben, Gedanken zusammenzufassen, die ihr tagsüber durch den Kopf gegangen sind. Sie fühlt sich in ihrer Wohnung eingeengt. Ich brauchte mich nur einige Male in dieses Lokal zu setzen. Um diese Zeit ist es zumeist menschenleer. In den ersten Tagen setzte ich mich an einen der Tische und machte genau dasselbe wie sie. Ich machte Notizen, übrigens schrieb ich Berichte, die an Sie gerichtet waren. Heute finden sich nur noch wenige, die in einem Lokal schreiben. Schreibende fühlen sich neben Menschen, die ebenso in Gedanken versunken vor sich hin schreiben, offensichtlich wohl, nicht so allein. Ich unternahm keinen Versuch, mit ihr in einen Gespräch zu kommen, achtete darauf, mich nicht zu nahe an ihren Tisch zu setzen. Nach einigen Tagen kam ich mit ihr durch ein höchst banales Ereignis ins Gespräch. An einem der Nebentische saß eine hässliche Alte, neben sich einige vollgestopfte Plastiktaschen. Wie ich später erfuhr, verkehrt diese Frau regelmäßig im selben Lokal. Eigentlich lebt sie auf der Straße, schläft sitzend auf Bänken, oft genug in Zügen, die sie stets ohne Fahrkarte benutzt. Offensichtlich verfügt sie über ein Netz von Menschen, die sie unterstützen. Sie verkauft Briefkärtchen, kleine kopierte Zeichnungen, die sie mit Buntstiften koloriert. Im erwähnten Lokal hat sie noch nie etwas bezahlt. Sie wird geduldet. Trinkt sie ihren Kaffee, dann führt sie laute Selbstgespräche, die Milch rieche sauer, sie sei ganz sauer, was einem heute doch alles angedreht würde. Das macht sie so lange, bis die Kellnerin mit einem neuen Kaffee kommt. Mag sie auch den Kaffee getrunken, den Sahnebecher mit der Zunge ausgeleckt haben, nichts hält sie davon ab, ihren Unmut der Kellnerin gegenüber deutlich zu äußern. Zweifellos leidet sie an Verfolgungswahn, bezieht sie doch Blicke oder Gespräche anderer schnell auf sich, was meist ein wirres, lautes Schimpfen zur Folge hat. An jenem Abend fühlte sich diese Frau von mir beobachtet, durch mein Schreiben bedroht. Sie dachte allen Ernstes, ich würde über sie schreiben. Um ihrem Geschrei zu entkommen, wechselte ich meinen Platz und setzte mich in die Nähe von Yo. Wir kamen rasch in ein Gespräch. Sie müssen sich das Absurde dieses Zusammentreffens vorstellen. Da fühlt sich jemand von mir verfolgt, der mich nicht im Geringsten interessiert und mir nur lästig sein kann, und dann komme ich in ein Gespräch mit einer Frau, die ich in einem gewissen Sinne verfolge, über die ich tatsächlich schreibe.“
„Wie erlebten Sie Yo Stern an diesem Abend?“
„Ich empfand sie als schöne, vor allem als sehr kluge Frau ... Wir sprachen über Bücher, Literatur, eigentlich über lauter banale Dinge. Hätte ich nicht so vieles über ihr Leben gewusst, worüber ich keinesfalls sprechen durfte, die Unterhaltung mit Yo hätte mir richtig Spaß gemacht.“
„Wie ging die Geschichte weiter?“
„Da ich keinesfalls den Eindruck erwecken wollte, irgendwelche Absichten zu haben, verabschiedete ich mich unter irgendeinem Vorwand rasch. Eine Woche ließ ich mich in diesem Lokal nicht mehr blicken. Dann dauerte es nicht mehr lange und sie hatte Vertrauen zu mir gefasst.“
„Ihre Berichte irritieren mich vor allem deshalb, weil Sie nichts über Intimität, nichts über Sexualität schreiben.“
„Ich musste auch an mich selbst denken. Ich hatte kein wirkliches Vertrauen in meinen Auftraggeber, das heißt in Sie. Hätte ich über mein Begehren oder meine Traurigkeit schreiben sollen, gar über meine Schuldgefühle, die ich Yo gegenüber zunehmend empfand?“
„Verständlich. Damals lebten Sie in einer Beziehung mit Yo Stern. Heute nicht mehr. Sie hat Sie aus ihrer Wohnung geworfen. Wie denken Sie heute über das Sexualverhalten von Yo Stern?“ „Mir ist vor allem jener Abend in Erinnerung, an dem wir uns das erste Mal liebten. Liebten, was für ein unzutreffendes Wort. Aber es fällt mir im Augenblick kein anderes ein. Plötzlich trieb es sie hinaus aus dem Lokal, aus der Stadt. Es war ein lauer Herbstabend. Wir setzten uns in meinen Wagen. Ich fuhr los, ohne zu wissen wohin, ohne zu wissen, was ich erwarten sollte, was sie von mir erwartete. Ich saß am Steuer, sie gab mir Anweisungen, wo ich einzubiegen, abzubiegen, wohin ich zu fahren hätte. Sonst saß sie stumm neben mir. Sie erklärte mir nichts, fragte nichts. Es dauerte lange, bis wir die Stadt hinter uns hatten. Von der Stadtautobahn dirigierte sie mich auf eine der Nebenstraßen, schließlich befand ich mich auf einem Feldweg, in einer menschenleeren Gegend, in der nicht einziges Haus zu sehen war. Am Ende des Feldweges stiegen wir aus dem Wagen. Inzwischen war es dunkel geworden, aber im Mondschein war eine sanft ansteigende Hügellandschaft zu erkennen. Aus einer Schlucht war das Rauschen eines Baches zu hören. Sie meinte, hier beginne das Katzenloch. Wir stiegen auf einen Hügel, mussten dabei über einige Zäune klettern. Ohne uns zu unterhalten. Das wäre auch gar nicht möglich gewesen, da mir Yo rasch in größerer Entfernung voranschritt und ich ihr nur folgte. Sie zeigte nicht die geringste Neigung, auf mich zu warten. Ich erinnere mich gut daran, zerriss ich mir doch beim Überklettern eines Zaunes an einem Stacheldraht meine Hose. Yo schien die Gegend bestens zu kennen. Oben angekommen, zog sie sich wortlos aus und legte sich mit gespreizten Beinen ins Gras. Im Mondschein waren in einiger Entfernung schemenhaft Kühe zu sehen.“
„Hatten Sie Lust, mit Yo Stern zu schlafen?“
„Zweifellos war ich erregt, schon allein deshalb, weil alles sehr ungewöhnlich war.“
„Und dann?“
„Nach wenigen Stößen empfand ich ein leichtes Zittern in ihrem Unterleib. Dann begann sie zu weinen, weinte still vor sich hin. Ich suchte sie zu trösten. Das machte alles nur noch schlimmer. Deshalb stand ich auf, kleidete mich an, ging den Hügel hinunter und rauchte zwischen einigen Kühen, die keine Notiz von mir nahmen, eine Zigarette. Als ich zu Yo zurückkehrte, stand sie, sie hatte sich wieder angekleidet, vor mir, als sei zwischen uns nichts gewesen. Sie sagte etwas, was ich später noch öfter hören sollte: ‚Man machte mich zu einer Kuh, aber eine Kuh durfte ich nie wirklich sein.’ Damals konnte ich das noch nicht verstehen.“[1]
„Obwohl diese Erfahrung für Yo Stern enttäuschend gewesen sein muss, hat sie mit Ihnen noch öfters geschlafen.“
„Heute verstehe ich diese erste Begegnung besser. Zweifellos wünschte sich Yo eine Beziehung, suchte sie körperliche Nähe. Aber das war ihr nicht wirklich möglich. War sie erregt, dann zumeist in Situationen, in denen sich jede Berührung verbot. Ein Mechanismus brachte jede Erregung bei der ersten Berührung zum Ersticken. Die Hand eines Mannes hat unterhalb ihres Bauchnabels nichts zu suchen. Strich ich über ihre Bauchdecke, fasste sie wortlos meine Hand und wies ihr einen ungefährlichen Platz zu. Nur sie selbst darf den Penis einführen, mag sie dies auch einiges an Überwindung kosten. Keinesfalls darf eine fremde Hand ihr Geschlecht berühren. Aber das wusste ich in jener Nacht auf dem Hügel noch nicht.“
„Mochten Sie Yo Stern?“
„Mehr noch, ich begann sie zu begehren, zu lieben. Sicher denkt sie heute, all die Fahrten aufs Land oder ans Meer hätte ich nur deshalb mit ihr unternommen, um Material über sie zu sammeln. Anfangs vielleicht, dann aber zunehmend, weil ich mich in ihrer Nähe wohl fühlte.“
„Kann man eine Frau lieben, von der man immer zurückgewiesen wird?“
„Wir hätten mehr Zeit benötigt. Sie dürfen die Folgen des Programms nicht vergessen, das Yo durchlaufen hat. Aber darüber wissen Sie besser Bescheid als ich.“
„Warum haben Sie nicht die Seite gewechselt?“
„Ich stand kurz davor. Es hätte nur noch einige Tage oder Wochen gebraucht.“
„Unverständlich ist mir, warum Sie dennoch ihre Schubladen durchsucht haben.“
„Das Begehren ist oft genug eine unvernünftige Angelegenheit. Man kann dabei dem anderen Schmerzen zufügen, die man sich selbst zufügen möchte. Begann sie zu weinen, schliefen wir miteinander, dann hätte ich ihr manchmal ins Gesicht schreien mögen. Ich tat es nie. Stattdessen kopierte ich ihre Unterlagen. Niemand zwang mich. Nicht einmal Sie haben mich dazu aufgefordert. Etwas trieb mich, obwohl ich in Selbstgesprächen mein Geständnis bereits formuliert hatte, davon phantasierte, mit Yo einfach zu verschwinden, um mit ihr ein neues Leben zu beginnen. Die weitere Geschichte kennen Sie ... Erlauben sie mir einige Fragen. Wie sehen Sie heute Yo Stern?“
„Wie sehe ich sie heute? Höchst ambivalent. Da sehe ich eine Frau, die sich unserem Programm widersetzt hat. Sie hat sehr viel Unterstützung durch das Unternehmen erfahren, eine gute Ausbildung, finanzielle Unterstützung, ohne die sie ihr heutiges Leben niemals führen könnte. Ihr Verhalten grenzt an eine Beleidigung. Auf der anderen Seite fasziniert sie mich. In meinen Gedanken habe ich mich oft mit ihr beschäftigt. Zweifellos eine außergewöhnliche Geschichte. Da ist das ganze Leben bestens organisiert, ist an nahezu alle Bedürfnisse gedacht. Und dennoch begehrte sie dagegen auf. Eine Tierärztin, die in einem großen Schlachthof arbeitet, erzählte mir von einem Schwein. Abertausende Schweine hätten stets den sicheren Weg gewählt. Dass dieser ihren Tod bedeuten würde, konnten sie natürlich nicht wissen. Und dann nach vielen störungsfreien Betriebsjahren das erste Tier, das nicht den scheinbar sicheren Weg wählte, nicht dem Licht am Ende des Ganges zutrabte, dem sicheren Tod. Dass dieses Schwein eine der Absperrungen übersprang, muss sich wohl einer Verkettung von Zufällen verdankt haben. Eine banale Irritation wie ein lautes Geräusch oder ein aufblitzendes Licht mag dabei eine Rolle egspielt haben. Ich muss immer wieder an diese Geschichte denken. Ein Schwein unter Hunderttausenden, Millionen. Unser Programm wurde von zahllosen Experten entwickelt. Es kennt keine Fluchtwege. Ja selbst die Vorstellung einer Flucht ist undenkbar. Yo Stern unterlief bislang als einzige das Programm. Es ist zu bewundern, behauptet sich jemand gegen so viel Gedankenarbeit, gegen zahllose Sinnstiftungen, Anreize, räumliche Anordnungen. Sie ist für uns verloren, ein großer Verlust angesichts ihres Potentials.“
„Ist das Ende des Schweins bekannt?“
„Zwei Tage später wurde es von einem Jäger in der Meinung, ein Wildschwein vor sich zu haben, am Rande eines Maisfeldes erschossen. So oder so, das Leben dieses Tieres war nur gestundet. Zwei Lebenstage. Womöglich, sogar sehr wahrscheinlich, ein schmerzhafter Tod. Ein fraglicher Gewinn.“
„Ist das Aufbegehren eines Individuums nicht auch als Akt zu sehen, mit dem es seine Würde erlangt?“
„Das Schwein folgte bestenfalls einem Instinkt. Eine freie Entscheidung, und das ist eine entscheidende Voraussetzung für das, was Sie unter Würde verstehen, hätte es nur dann treffen können, hätte es Kenntnis, zumindest eine vage Vorstellung der beiden Möglichkeiten gehabt. Mit Begriffen wie Würde, also mit dem von allen Äußerlichkeiten unabhängigen Wert des Menschen, befasse ich mich nicht. Würde wäre erst dann von Bedeutung, schlüge sie sich im Umsatz und im Gewinn nieder. Bislang ließ sich Würde noch nie verkaufen.“
„Ist Yos Ornat im Museum zu sehen?“
„Nein, noch fehlt eine Abteilung der Abweichungen.“
„Was geschah mit ihm?“
„Er hängt in meinem Schlafzimmer. Übrigens handelt es sich um eines der schönsten Stücke. Die Künstlerin hat gute Arbeit geleistet, nicht nur handwerklich. Zumindest intuitiv begriff sie etwas. Unter all den Ornaten eine Ausnahme. Kunstwerke, die einem beim ersten Hinsehen gefallen, verbrauchen sich oft rasch. Auf Yo Sterns Ornat trifft das nicht zu. Die Kühe, die darüberzulaufen scheinen, wirken sehr lebendig. Eine seltsame Ironie. Den Kühen verdanken wir tatsächlich vieles, mag die Milch für uns auch von untergeordneter Bedeutung sein. Unsere Kühe wirbeln mit ihren Klauen keinen Staub mehr auf. Dafür sie sind viel zu träge, zu schwer geworden. Auch bewegen sie sich in einer möglichst staubfreien Umgebung.“
„Sind Sie Yo je begegnet?“
„Ja. Ich muss es gestehen, ich war der junge Arzt, von dem Sie Ihnen sicher erzählt hat.“
„Wie haben Sie diese Geschichte in Erinnerung?“
„Zuchtmütter betrachtete ich stets als Objekte meiner Arbeit. Eizell- oder Embryonenentnahmen, all das war für mich wie für meine Kollegen Routine. Man ist als Arzt zwischen aufgeklappten Schenkeln beschäftigt. Zuchtmüttern gegenüber regte sich nie das geringste Begehren in mir. Und dann Yo Stern. Sie war ganz anders als all die anderen, mit denen ich bis dahin zu tun hatte. Kein passives Geschöpf. Ihr Körper war nicht beliebig austauschbar. Es gab einen Punkt, an dem mir bewusst wurde, dass ich sie begehrte, sexuell, auch als Frau, mochte sie noch so jung sein. Ich hatte kein schwammiges Gebilde vor mir. Sie verfügte, das finde ich heute noch erstaunlich, über eine klare Kontur, die Mädchen in diesem Alter sonst nicht eigen ist. Ich musste mich von diesem Begehren befreien. Und ich tat dies durch eine Flucht nach vorne. Eigentlich geschah genau das, was ich nicht wollte. Ohne lange zu sprechen oder Zärtlichkeiten auszutauschen, ohne auf Zeichen eines Eiverständnisses zu warten, nahm ich sie. So, wie sie auf dem Behandlungsstuhl lag. Ich nahm sie auf eine sehr grobe Art, und das in der Hoffnung, mir dieses Begehren auszutreiben.“
„Sie begehrten also die junge Frau?“
„Zweifellos, mag auch die Geschichte, die sie Ihnen erzählt hat, dagegen sprechen. Eine Beziehung zu einer der Zuchtmütter zählt zu den absoluten Tabus. Es darf zwischen ihrer und unserer Welt keine Überschneidungen geben, nichts, was den klaren, den sachlichen Blick trüben könnte. Noch heute erstaunt es mich, dass gerade mir so etwas passierte. Sie war schön. Aber das waren auch all die anderen. Es lag also weniger an ihrer Schönheit. Sie unterschied sich durch ihre Neugier, durch ihre Fähigkeit, in Kontakt zu treten. Da gab es noch etwas anderes als die Aufgabe, auf die man sie vorbereitet hatte.“
„Und heute?“
„Sie beschäftigt mich noch immer. Vielleicht hätte sich mein Begehren gelegt, wären wir uns wirklich nahegekommen. Außerhalb hätte es vielleicht nur weniger Abende oder Nächte bedurft, um mich von ihr zu befreien. Übrigens verdankt sich ihr heutiges Leben nicht zuletzt dieser Erinnerung. In einem gewissen Sinn sorge ich für sie.“
„Schuldgefühle?“
„Nennen wir es den Versuch, etwas wiedergutzumachen. Hätte ich mich damals nicht so dumm, so unbeherrscht benommen, sie wäre uns wohl erhalten geblieben. Erst ab diesem Zeitpunkt entwickelte sie ihren Eigensinn.“
„Trafen Sie sich mit ihr später?“
„Wo denken Sie hin. Da müsste ich aus dem Unternehmen ausscheiden. Aber manchmal trieb es mich in Lokale, in denen sie verkehrt.“
„Hatten Sie Glück?“
„Einmal sah ich sie. Sie saß an einer Bar und unterhielt sich mit einem Mann. Manchmal legte er seine rechte Hand auf ihre Schulter oder strich ihr über den Rücken, ohne dabei das Gespräch zu unterbrechen. Ich beneidete diesen Mann. Gerne hätte ich seinen Platz eingenommen.“
„Können Sie sich an den Mann erinnern?“
„Er war wesentlich jünger als sie. Sie dagegen schien mir älter geworden, wirkte aber immer noch sehr anziehend. Auch wusste sie sich zu kleiden.“
„Sie haben also nicht mit ihr gesprochen?“
„Nein. Als ihr Gesprächspartner allein das Lokal verließ, dachte ich kurz daran. Ich hätte mich neben Yo Stern setzen und mit ihr eine Unterhaltung beginnen können. Womöglich hätte sie sich gar nicht mehr an mich erinnert. Ich verbot es mir. Nur zu gerne hätte ich nicht um ihre Geschichte gewusst. Möglicherweise wäre sie mir dann gar nicht aufgefallen und ich hätte keinen einzigen Gedanken an sie verschwendet.“
„Wie betrachtet Ihre Frau den Ornat mit den Kühen, der in Ihrem Schlafzimmer hängt?“
„Sie weiß weder um seine Bedeutung noch um seine Geschichte. Sie betrachtet ihn als schönes dekoratives Stück. Ich fürchte, sie weiß wenig mit ihm anzufangen. Manchmal, wenn ich abends im Bett liege, fällt mein Blick auf den Ornat. Ich denke an den vergangenen Tag, an das, was gelungen ist, was nicht. Ich fühle mich dann ganz fern, in einer anderen Welt. So als spürte sie es, kann meine Frau an solchen Abenden das Bedürfnis entwickeln, mit mir zu schlafen. Aber ich denke an Yo Stern.“
„Haben Sie ihrer Frau gegenüber nie davon gesprochen?“
„Warum sollte ich? Würde ich es tun, ich könnte den Ornat nicht mehr so betrachten, wie ich es heute tue. Ich verbinde ihn zwar mit Yo Stern, darüber hinaus hat er für mich noch eine andere Bedeutung. Die Himmelskühe lassen mich an lange zurückliegende archaische Vorstellungen denken. Kühe haben über Jahrtausende zahllose Metamorphosen erfahren. Weitere werden folgen, von denen wir heute bestenfalls eine vage Ahnung haben. Vielleicht werden sie dereinst aus dem Profanen herausgehoben und wieder zu Himmelskühen.“
„Da müssten Sie sich doch mit Yo verstehen. Sie sucht stets nach Himmelskühen, unternimmt lange Reisen in der Hoffnung, Kühen zu begegnen, die das Göttliche repräsentieren. Allerdings hegt sie große Abneigung gegenüber enthornten Rindern, noch mehr gegenüber solchen, die mit Passivsendern ausgestattet sind.“
„Verständlich. Aber wir würden uns nie verstehen. Wir leben in zu unterschiedlichen, zu unversöhnlichen Welten. Und dann bin ich in einem Alter, in dem die Vernunft den Menüplan des Begehrens schreibt. Sollte ich mich etwa nachts auf Rinderweiden herumtreiben? Ich will mir ihre Klagen nicht anhören.“
„Sie teilen mit Ihrer Frau ein Schlafzimmer, das ein Geheimnis kennt.“
„Wo liegt das Problem? Ich habe meine Geheimnisse, meine Frau wird die ihren haben. Soll ich anfangen, ihre Unterwäsche zu deuten?“
„Mögen Sie Ihre Frau?“
„Wir kennen uns schon lange. Wir haben uns aneinander gewöhnt, wir schätzen uns. Uns verbindet die Sorge um unsere Kinder.“


Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] Hörner will ich haben, / nicht zu schwer am Euter tragen, / springen und laufen / und aus dem Bache saufen, / mich drängen und raufen, / still liegen und schaun. / Eine Kuh möchte ich sein.