Kapitel 5

Ich war etwa zehn Jahre alt, als ich erstmals an der großen Feier, auch das Fest der zusammenprallenden Steine genannt, teilnehmen durfte. Vom Zentrum des Raumes, also von dort, wo an einer jungen Frau, fast ein Kind noch, unter feierlichen Gesten und wohlklingender Musik die erste Insemination vollzogen wurde, ging ein Sog aus. Alle Blicke waren auf diesen Punkt gerichtet. Wir alle dachten uns an die Stelle des Mädchens, das im Mittelpunkt stand und nun ihre Anerkennung als Geweihte fand. Wie habe ich es später selbst erlebt? Zweifellos war es ein ganz besonderer Tag für mich. Ich trug einen besonders schönen Ornat. Auf ihm waren Himmelskühe zu sehen, die zwischen Wolken dahin galoppieren.[1] Ich fühlte mich beneidet von all den jüngeren Mädchen, die dichtgedrängt in den Reihen saßen. Ich war aufgeregt. An den Eingriff selbst kann ich mich nicht erinnern. Dass an meinem Geschlecht manipuliert wurde, nahm ich kaum wahr. Ich war zu sehr damit beschäftigt, möglichst ruhig zu liegen. Meine Hände sollten weder zu weit aus den Ärmeln ragen, noch in diesen verschwinden.


Ob ich mich an die Wände der Großen Kammer erinnern könne? Erinnern Sie sich an die Wände der Schulklassen, in denen Sie saßen? Hingen an den Wänden Landkarten, Kinderzeichnungen oder andere Schülerarbeiten? Ist denn auf die Erinnerung Verlass? Wir sagen, dies und das hing an den Wänden. Sind Sie sicher, dass all das dort hing? Oder haben Sie es erst nachträglich hinzugefügt? Nun, ich kann mich gut an die Wände des Raumes erinnern, in dem die Feiern stattfanden. Da hingen große Gemälde, in ihrem Stil irgendwo zwischen Nazarenern und Symbolisten anzusiedeln. Nur einmal sah ich ähnliche Gemälde. Ich war in einer Kirche eines Nonnenklosters, in dem nun seit nahezu zweihundertdreißig Jahren, man muss sich das einmal vorstellen, ohne Unterbrechung eine Hostie in einer Monstranz angebetet wird, Tag und Nacht in stetem Wechsel. Generationen von Nonnen, die hier gebetet haben, sind schon lange tot. Heute leben nur noch wenige Nonnen in diesem Kloster. Trotzdem sei das Gebet noch nie unterbrochen worden, selbst während jener bangen Nächte nicht, als Bomben fielen und alles in Schutt und Asche legten, die Nacht taghell war und es nach verbranntem Fleisch roch. Wenn sie über die Hostie reden, die sie anbeten, sprechen sie vom Allerheiligsten. Sie sagen, das Allerheiligste sei ausgesetzt. "Ausgesetzt", aus dem Tabernakel genommen. Das Wort gefällt mir. "Aussetzen", "sich selbst überlassen", "töten". Kinder wurden ausgesetzt, damit sie verhungerten oder von Raubtieren gefressen wurden. In der Wüste, in einem Wald, an einer Autobahn. Wäre ich zu einer anderen Zeit zur Welt gekommen und hätten die Ältesten meine Ohrläppchen für zu kurz, mein Geschrei für zu zaghaft befunden, man hätte mich in eine Ablage, eine Spalte des Taygetos gelegt.[2] Aussetzen, der Betrachtung preisgeben. Preisgeben. Die, die ihre Keuschheit preisgeben, werden bei der porta Collina lebendig begraben.[3] Wie das Allerheiligste, nicht viel anders wurde ich während der großen Feier ausgesetzt. Erst lange später sollte ich das und vieles andere verstehen. Heute betrachte ich das Fest als Aufspießung[4] , die am Beginn einer lang andauernden Manipulation an Körper und Geschlechtsteilen stand. Ich war ergriffen. Tatsächlich wurde ich ergriffen, ausgeliefert wie eine Gefangene, ausgeliefert wie eine Ware, also dem Tod preisgegeben, überantwortet, buchstäblich ausgesetzt. Es ging kein Geisthauch in mich ein. Wie in einem Theater, und es war Theater, erschien ich auf der Bühne, allerdings als vollkommen passives Geschöpf, dem jedes Tun untersagt ist, an dem dies und das durchgeführt wird, die Füße dem Himmel zugewandt.[5] Man wird vom Altar, einer Theatermaschine, aus Untergeschoßen, die den Blicken der Besucher verborgen bleiben, emporgehoben auf die Bühne und verschwindet, ist das Ritual, der Akt, die Besamung vollzogen, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben wieder in den Tiefen der Kellerräume. Nun sollte mein eigentliches Leben beginnen, tatsächlich kam dieser Akt einem Begräbnis gleich. Unsere Körper, nicht Behältnisse des Lebens, nein, Behältnisse des Todes. Einmal von Schlupfwespen aufgespießt, ist an ein Entrinnen nicht mehr zu denken. Es bedeutet den Tod.[6] Verbrennen bei lebendigem Leib. Mit jedem Embryo, die halbe Zeit ist man voll davon, gibt man Hitze ab, verglüht letztlich wie eine Sternschnuppe in der Erdatmosphäre.[7]

Gerne hätte ich gewusst, ob die Hostie noch die desjenigen Tages ist, an dem das ewige Beten begann. Schwer vorstellbar. Formaldehyd gab es damals noch nicht, auch keinen flüssigen Stickstoff. Es wäre ja zu komisch, würde die Hostie in einem Glasbehälter schwimmen wie eine Missgeburt in einem der Regale eines pathologischen Instituts, vielleicht wie jenes Präparat, das ich deutlich vor Augen habe, ein voll ausgereiftes Kind mit schneeweißer Haut und rötlichen Haaren, die im Nacken entlang der Wirbelsäule dünn auslaufen, so als hätte jemand hier einen feinen roten Strich gezogen, ein Kind, nahezu makellos, hinge da nicht am Unterleib eine formlose Masse, ein großes Gewächs, durch das ein tiefer Schnitt führt. Betrachtet man das Gesicht dieses Kindes, so meint man, es würde nur schlafen, es könnte jeden Augenblick aufwachen. Dabei kauert es seit Jahrzehnten in seinem Glasbehälter, und das in einem dunklen, fensterlosen Raum, umgeben von anderen zumeist absonderlichen Geschöpfen. Ein Ständer mit Haken auf Rollen, wie wir solche aus Bekleidungsgeschäften kennen, mit dem Unterschied, dass an den Haken nicht Hemden oder Jacken, sondern präparierte Arme hängen. Um zu den Missgeburten zu gelangen, musste ich zwischen zwei eng aneinandergerückten Ständern durchschlüpfen. Unmöglich, nicht an den Armen anzustreifen. Ich habe das Geräusch verdorrter gegeneinanderschlagender Arme noch im Ohr. Übrigens ist das Glas mit dem Kind nicht beschriftet. Man hatte es beiseitegestellt und vergessen, es zu inventarisieren. Ein namenloses Grab. Es kennt keine Geschichte, auch die Mutter blieb namenlos. Abfall menschlichen Lebens, von einem Pathologen zu Anschauungszwecken in Formaldehyd gelegt. Gerne wäre ich diesem Kind Mutter gewesen. Gerne hätte ich den mit Formaldehyd gefüllten Glasschrein in meine Obhut genommen, diesem Kind, das nie an einer Mutterbrust trank, Platz eingeräumt. Gerne hätte ich es herausgenommen aus all den Missgeburten und verstaubten Präparaten, aus der Gesellschaft ausgedorrter Arme, von denen jeder einzelne, wäre es möglich, sie zum Sprechen zu bringen, vieles zu erzählen wüsste. Frauen- und Männerarme. Auch Namenlose haben ihre Geschichte.[8] Ich wäre diesem Kind gerne Mutter gewesen, selbst dann, hätte es nur eine Leerstelle bezeichnet, diesem kleinen Gott. Sollte es einen Gott geben, so kann ich ihn mir nur in solchen Gestalten denken. Gott, abgestellt, vergessen auf einem Kasten in einer Rumpelkammer eines anatomischen Museums. Namenlos, nicht im Jordan, nein, mit Formaldehyd getauft. Der kleine Gott, dessen Fleischwerdung sich vielleicht, aber nur vielleicht der Liebe, womöglich einem falschen Versprechen, trügerischen Hoffnungen oder einem Gewaltakt verdankt. Gerne hätte ich ein Paar Kinderschuhe vor den Schrank gestellt, um dem kleinen Gott das Gehen zu erlauben.

Im Kloster der Ewigen Anbetung musste ich an den kleinen Gott denken. Dort ein schlichter Glasbehälter, ein Industrieprodukt, da eine reich verzierte und vergoldete Monstranz, ein Schrein mit einem Fensterchen. Die Hostie schwimmt in keiner Flüssigkeit. Sie wurde auf andere Weise konserviert. Vielleicht wurde sie mit Wachs überzogen. Aber darf man den Leib des Herrn, so sprechen sie von der Hostie, behandeln wie ein Ausstellungsstück in einem Museum, das es vor Museumskäfern, Motten, Pilzen oder Feuchtigkeit zu schützen gilt? Natürlich nicht. Die Konservierung der Hostie ist wohl nur durch regelmäßigen Verzehr, erneute Wandlungen möglich. Sollte dies der Fall sein, dann stellt sich die Frage nach dem Anlass. Einer der immer wiederkehrenden hohen Festtage könnte so ein Anlass sein, der Tod einer Nonne, oder die Einführung einer jungen Nonne, ihre rituelle Vermählung. Leider konnte ich dies nicht in Erfahrung bringen. Wird die Hostie vom Priester allein gegessen oder wird sie von den Nonnen gemeinschaftlich verspeist? Wird sie der Eingeführten gereicht? Verspeist sie, auf dem Boden kniend (an eine Rückenlage wurde hier nie gedacht), den, den sie liebt oder zu lieben meint? Welche Gebete werden dabei gesprochen? Ich musste an Riten von Kopfjägern denken. Poetische Theologie. Der Verzehr des Fleisches kann mit folgenden Worten beginnen: "Freund, ich will jetzt essen, lasst uns speisen. Hiermit gebe ich dir im Voraus zu essen; dann esse ich selber. Dies gebe ich dir zuerst, um dich zu speisen, (dich) der du mich gerne hast. Denn warum sonst bist du zu mir gekommen und bist du mir begegnet, wenn du mich nicht gerne hättest. Da wir nun Freunde sind, gebe ich dir zu essen. Hast du mich etwa nicht gerne? So speise ich dich mit Hirse und Wein; das ist unsere Speise und unser Trank."[9] Ist doch schön.
Nicht viel anders als die Nonnen im Kloster der ewigen Anbetung wurde auch ich auf eine mystische Vermählung vorbereitet. Wir gingen in der Vorstellung auf, ein Leben als Geweihte zu führen. Wir durchliefen ein bestens durchdachtes Curriculum, das in sich aufbauend uns auf jenen Tag vorbereiten sollte. Man nannte das nicht Exerzitien, aber Loyola hätte gewiss seine Freude damit gehabt.[10] Stets wurde uns vermittelt, etwas Besonderes zu sein. Es gab zwar keine Religion, aber doch gab es so etwas wie Gebete und Betrachtungsübungen. Heute erstaunt es mich, aber damals konnte mich eine tiefe Rührung ergreifen, las man uns Geschichten von Geweihten oder Schicksale von Frauen vor, die minderwertige Geschöpfe zur Welt gebracht hatten. Als Kind ist man empfänglich für allerlei Bilder, fehlt es doch an Erfahrung, bleibt vieles der Phantasie überlassen. Ich malte mir in lebhaften Bildern aus, wie es sein würde, würde ich die große Feier erleben. Nein, es war keine Vermählung, kein Vermählungsakt. Da gab es keinen Gottessohn, den ich herbeisehnte, wurde uns doch beigebracht, wahre Hingabe als etwas Abstraktes zu betrachten. Es gab keine leibliche Gemeinschaft, kein Zergehenlassen einer Hostie auf meiner Zunge, auch keine Vertauschung von oben und unten. Diesbezüglich ließ man uns nie im Unklaren. Es ging um Befruchtung, Besamung. Organe wie der Mund oder das Ohr kommen dafür nicht in Frage.
Über die Anzahl der nach der großen Feier aus meinem Körper ausgespülten und anderen Frauen eingepflanzten Embryonen wurde mir nie etwas mitgeteilt. Und doch ging es einzig darum. Womöglich galten die so gewonnenen Embryonen als besonders kostbar, verdankten sie sich doch einem sakralen Akt. Auch haftete ihnen etwas von einer Erstlingsfrucht an. Ich verstand erst lange später, warum all die großen Feiern nie vorab bekanntgegeben, stets überraschend angesetzt wurden. Das hormonelle Geschehen lässt sich nicht Wochen im Voraus planen. Eine Laune des Körpers, von Stimmungsschwankungen oder sonstigen Einflüssen abhängig, und schon kann sich der Eisprung um Tage verschieben. Ich erinnere mich noch gut an all die Untersuchungen, denen ich mich in den Wochen zuvor zu unterziehen hatte. Da ich als Novizin galt, wurden sie bereits im Garten durchgeführt, von Zurüstern. Sie waren es, die nach den Zeichen meines Körpers den Zeitpunkt der großen Feier festlegten. In einem Nonnenkloster machte eine solche Planung keinen Sinn, ist es doch nicht nötig, Rücksicht auf ein wie immer geartetes Körpergeschehen zu nehmen. Wenn es etwas Verbindendes gibt, dann findet sich dies, im Kloster der ewigen Anbetung fiel es mir wie Schuppen von den Augen, im Seriellen, ganz gleich, ob es sich um eine Vermählung oder Begattung handelt, in der Folie, die das weitere Leben bis in die kleinsten Gedanken, mögen diese auch sündhaft sein, festschreibt. Es gilt vom Zeremoniellen abzusehen und das Augenmerk auf das Banale, das Praktische zu legen. Einführung, auch so ein Wort. Man muss es in seiner doppelten Bedeutung betrachten, nicht nur an die Einführung in eine zugedachte Aufgabe, in eine neue Rolle denken. Einführen meint auch, einen Gegenstand in einen Raum, einen Hohlraum, eine Höhlung, eine Öffnung schieben, einen Schlüssel in ein Schloss, eine Sonde in einen Magen, eine Hostie in einen Mund, das Glied in die Scheide, oder auch Sperma.

Ich kann nicht leugnen, dass manch seltsame Dinge auf mich eine gewisse Anziehungskraft ausüben, katholische Messen etwa. Ich denke an Messen, die noch nach altem Ritus gefeiert werden, in lateinischer Sprache, die niemand versteht, an das Schwenken von Weihrauchfässern, an eingeübte Gesten, die das Zeremoniell verlangt, an die Waschung der Hände, ein seltsames Fingerspiel, an das Hantieren mit Altargeräten, an das Öffnen und Verschließen des Tabernakels. Üppig die Gewandung mit all den Röcken und Unterröcken. Altar und Tabernakel. Das kleine Häuschen, in dem der Leib des Herrn aufbewahrt wird. Die Stiftshütte, das himmlische Jerusalem, das Zelt Gottes, mitten unter den Menschen. All das lässt mich an die große Feier denken. Mit welcher Ehrfurcht, vermutlich war sie nur gespielt, mit welch weihevoller Gestik dem Zurüster Sperma in einer goldenen Schale gereicht werden konnte! Es war der oberste Zurüster selbst, der die ausgespülten Embryonen zur Stiftshütte trug. Nein, er machte keine Kniebeuge. Anders als ich es in katholischen Kirchen beobachten konnte, schließt sich das Türchen von selbst. Es war keine Stiftshütte, mehr ein Lifthäuschen, ein Ausgabe- oder Einschubfach. Kostbares, lebendiges Gut, das keinesfalls verderben darf, rasch von einem Raum in einen anderen gelangen soll. Nicht so einfach aufzubewahren wie der Leib des Herrn, es sei denn, es wird bei minus 196 Grad Celsius tiefgefroren. Der eigentliche Tabernakel, die eigentliche Stiftshütte, das eigentliche Behältnis, dessen wurde ich mir in einer katholischen Kirche bewusst, befand sich in meinem Inneren. Ein solches Stiftshäuschen, ein solcher Tabernakel benötigt weder Silber noch Gold, nicht die geringste Ornamentierung, nicht einmal ein kleines Schlüsselchen. Und doch ist es kostbarer als jeder Tabernakel, ein Ort der Wandlung, eine Höhle, in der buchstäblich aus Brot (Daten) Fleisch wird. Glattrasiert.
Gerne hätte ich mit einer der Nonnen gesprochen, über all das, was sich zwischen ihrem Kopf und dem Geschlecht abspielt, über die Hingabe und ihre Vermählung mit dem stattlichen jungen Herrn, über das Eingemachte. Zum Ausgesetzten fügt sich das Eingemachte, also das, was in Kellern konserviert wird, was zwischen den Beinen liegt, über das nicht gesprochen werden darf, das Sprachlose. Freilich hätte es einer Gelegenheit bedurft, die es mir erlaubt hätte, mit einer jungen Nonne, deren Knie noch nicht verhornt sind, zu sprechen. Ich wüsste nur zu gerne. wie sie den göttlichen Geliebten betrachten, der an ein Kreuz genagelt über dem Altar hängt, den Bräutigam. Wie waschen sie sich? Welche Unterwäsche tragen sie? Was denken sie, sehen sie aus ihren Zellenfenstern den Gärtner zwischen den Blumenbeeten? Was geht in ihnen vor, haben sie die schweißgetränkte Arbeitskleidung des Gärtners zu waschen? Leider ließ man mich nicht in das Klostergebäude ein. Und in den Kirchenraum, in dem einige weißgekleidete Nonnen kniend beteten, durfte ich nur durch ein schmiedeeisernes Gitter blicken. In dieser Kirche hängt ein Gemälde, das mich an die Große Kammer denken ließ. Auf dem Gemälde, es ist von erstaunlicher Größe, ist eine offene Landschaft zu sehen, eine blühende Wiese, die im Hintergrund in einen Hügel mit einigen Bäumen übergeht. Vorne in der Bildmitte betrachten zwei junge Frauen, Mädchen noch, ihr Spiegelbild in einer Quelle. Die beiden tragen weite Kleider, die bis zum Boden reichen. Über ihnen und dem Hügel des Hintergrundes ragt aus einer Wolke der Oberkörper eines jungen Mannes. Es ist, als habe er eben sein Hemd (blaues Karomuster) aufgeknöpft. Mit seiner linken Hand deutet er auf die breite und offene Wunde seiner rechten Brustseite, aus der ein feiner Blutstrahl in einem eleganten Bogen direkt in die Quelle fällt, das Wasser aufschäumen lässt, ohne es zu trüben. Der sanfte Gesichtsausdruck schien mir im Widerspruch zur klaffenden Wunde zu stehen.
In der Großen Kammer hing ein ähnliches Gemälde. Auch hier wurde ein Opferritus vollzogen, ein Opfer dargebracht, nicht nur symbolisch. Wir mussten makellos und unberührt sein. Auch war das Opfer nur dann gültig, fügten wir uns aus eigenem Antrieb in unsere Opferung, so wie der stattliche junge Herr sich selbst als Opfer darbrachte. Auf dem Gemälde in der Großen Kammer, es war in ähnlich weichen und leuchtenden Farben gehalten wie jenes im Nonnenkloster, war auf einem Wolkenband eine Gruppe junger Frauen zu sehen, die mit Pflanzenornamenten reich bestickte Ornate trugen, sehr schöne junge Frauen mit lächelnden Gesichtern, buchstäblich herausgehoben aus der Masse, aus dem alltäglichen Leben. Sie hielten sich mit ihren Händen an Hüften und Schultern umfasst. Unschuldige Gesten. In der Tiefe des Gemäldes waren Straßenschluchten zu sehen, die gleichsam in einem dunklen Abgrund zu versinken drohten. Oft genug habe ich diese Häuserschluchten mit den vielen Menschen, all den Schaufenstern, Autos und Straßenbahnen betrachtet. Dem Heil dieser Stadt sollten wir uns opfern. Wie würde ich heute dieses Gemälde betrachten?

Einige Jahrhunderte zuvor hätte ich als Prinzessin zur Welt kommen können, dank eines grotesken Züchtungsprogramms mit herabhängender Unterlippe. Meine einzige Aufgabe hätte darin bestanden, eben diesem Züchtungsprogramm zu dienen. Dies hätte noch größere Unterlippen zur Folge gehabt. Und hätte man mich mit einem Schwachbrüstigen, einem Lahmen, einem Krüppel oder einem boshaften Greis vermählt, zweifellos hätte ich die mir eingedrillten Worte gesprochen: "Ich bedanke mich für die mir erwiesene Ehre." Zur Trauung hätte man mich in weißen Atlas gekleidet. Was für eine Mühe wäre es gewesen, um nicht unter dem Gewicht meines langschleppigen, violetten, üppig mit Hermelin besetzten und mit goldenen Lilien bestickten Samtmantels zusammenzubrechen. Bei einbrechender Dunkelheit hätte man mich in einen Prunksaal geführt, um mahnende Worte meiner künftigen Schwiegermutter, der Königin, zu vernehmen: "Meine liebe Tochter, hier führe ich Ihnen Ihren Gemahl zu. Empfangen Sie ihn freundlich und lieben Sie ihn von Herzen." Und ich hätte geantwortet, dass es mein einziger Wunsch sei, ihm, einem mir vollkommen unbekannten Mann, zu gehorchen. Sie hätte mich ihm übergeben, damit er unter den Blicken des versammelten Hofstaates auf einem mit hellgrüner Seide überzogenen Paradebett die Ehe, also mich, konsumiere, vielleicht als Kind noch, spätestens dann, hätten sich die ersten Brustansätze gezeigt, all das im Schein von Fackeln, unter Fanfarenklängen und dem nicht enden wollenden Geläute zahlloser Kirchenglocken, die weniger Gottes Segen gegolten hätten als dem Bemühen, mich zum Schweigen zu bringen. Man hätte die Vorhänge des Himmelbettes zugezogen, mich mit meinem Gatten und zwei Hebammen, die schon wenige Augenblicke später den Vollzug der Ehe bestätigt hätten, allein gelassen.[11] Das Freudengeläute hätte wieder eingesetzt, kaum wäre ich in den Wehen gelegen, um meine Schreie wie den ersten Schrei des Knaben, des Gottes- und Königssohnes zu ersticken. Mein Leben unterschied sich nicht sehr von dem adeliger Prinzessinnen, deren Funktion einzig darin bestand, Nachkommen zu gebären, um so den Wohlstand des Geschlechts zu wahren, womöglich zu mehren. Der Park, der mir Vater und Mutter war, mochte um einiges gerechter sein. Aber ist etwas schon menschlicher, nur weil es gerechter ist? Unser Leben wurde nicht von greisen Monarchen entschieden. Meine Existenz, wie auch jene meiner zahllosen Nachkommen, verdankt sich einem Rechenprogramm. Und doch bin ich immer wieder sehr berührt, so als spiegle sich meine Geschichte darin, besuche ich eine Porträtgalerie, in der über drei Stockwerke Gemälde von königlichen Töchtern zu sehen sind, die sich alle in das ihnen zugedachte Schicksal fügten.[12] Die meisten Besucher sehen nur den höfischen Pomp. Nur wenige begreifen etwas von den Schicksalen der abgebildeten Frauen. Dabei sind bereits die Gemälde beredt. Zuerst wurden Bilder getauscht. Kam ein Ehekontrakt zustande, dann traten die Mädchen an die Stelle der Gemälde, die man nach ihrem Körper angefertigt hatte. Klagen? Nur wenige sind überliefert.

Natürlich kann ich mich an die große Feier erinnern, aber das Wesentliche, nämlich die Wandlung, der sakrale Akt der Besamung, die Einsamung, das, was an meinen Geschlechtsorganen vollzogen wurde, all das ist mir höchst unscharf in Erinnerung geblieben. Man erinnert sich doch stets nur an die Rahmung. Ich habe noch niemanden kennengelernt, der mir die Empfindungen seiner ersten Liebesnacht beschreiben hätte können. Stets tauchen andere Bilder auf (das Ehebett der abwesenden Eltern). Man denke an Menschen, die Schlimmeres als ich erlebt haben. Wie oft hat doch Nebensächliches die eigentliche Erfahrung überlagert (ein Blick aus dem Zugfenster in eine Landschaft, die überall sein könnte). Und doch ist mir eine körperliche Empfindung in Erinnerung geblieben. Sie hat sich mir eingeschrieben, mag ich sie auch schwer in Worte fassen können. Ich mag mich irren, konnte ich doch bei all den Feiern, bei denen ich zugegen war, nichts Vergleichbares beobachten, aber es ist mir heute noch, als habe man mir eine Flüssigkeit eingeflößt, eine bittere Flüssigkeit, die nach Myrrhe roch und ein Würgegefühl zur Folge hatte. Damals geschah etwas, was für mich erst später von Bedeutung sein sollte. Der Altar begann verrückt zu spielen. Er soll eigenartige Bewegungen ausgeführt, sich aufgerichtet haben, so wie ein Liegender sich aufrichtet, dem man gewaltsam eine Flüssigkeit einflößt. Man habe mich festhalten müssen. Es habe längere Zeit gedauert, bis sich der Altar wieder beruhigt habe. So wurde es mir später erzählt. Die Unpässlichkeit des Altars schien seine Ursache in mir zu haben. Er habe meine Empfindungen zum Ausdruck gebracht, der Altar, bei dem es sich um nichts anderes als um eine Maschine handelt, eine Maschine, die Bewegungen ausführt, die ihr eingeschrieben, die festgelegt sind. Der Altar, so lehrte man uns, sei ein lebendiges Wesen, das die Empfindungen jener, die auf ihm ruhten, zum Ausdruck bringe. Einen solchen Glauben streifte ich früh ab, sicher vor jenem Tag, als man mich auf ihn bettete. Ich betrachtete den Altar als Maschine, selbst dann, sollte er tatsächlich in der Lage sein, was nicht unmöglich ist, Empfindungen, sei es Angst oder Freude, aufzunehmen und in Bewegungen umzusetzen. Aber bei all den Feiern, bei denen ich zugegen war, ist mir diesbezüglich nie etwas Besonderes aufgefallen. Was aber, ist man von Menschen umgeben, die zutiefst davon überzeugt sind, dass der Altar so etwas wie ein Eigenleben führe. Und dann doch noch eine andere, ganz deutliche Erinnerung. Auf einem thronartigen Gebilde, wohl auch von einer Theatermaschine in die Höhe gehoben, war eine seltsame Figur zu erkennen, ein knabenhafter Körper mit dem Gesicht eines müden alten Mannes, auf dem Kopf eine Bischofsmütze, aber mit einem Knabenkostüm angetan - Kriegsmarine. Der Bischof von Aleppo. Er wippte mit den Beinen. Sein Gesicht, punktgenau beleuchtet und wie von Rembrandt aus dem Dunkel des Hintergrundes gehoben, schien mir freundlich zuzulächeln.



Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Die "Himmelskühe" könnten sich einem Besuch des Kirchner-Museums in Davos verdanken, zweier Aufnahmen einer vorbeiziehenden Kuhherde, die Ernst Ludwig Kirchner im Sommer 1919 auf der Stafelalp über Davos gemacht hatte. Auf der ersten Aufnahme ist eine Kuhherde mit Hirten zu sehen. Bei der zweiten Aufnahme wählte Kirchner eine so lange Belichtungszeit, dass die Kühe nicht mehr zu erkennen sind und wie Nebel in der alpinen Landschaft wirken. Denkbar wäre auch Tosa Hirokatas um 1450 entstandene Zeichnung "Himmlische Rinderherde", die sich im Museum für ostasiatische Kunst in den Staatlichen Museen zu Berlin befindet.]

[2] [Plutarch, "Lykurg".]

[3] [Plutarch, "Numa".]

[4] "Der Prinz steckte dem Mädchen, das die Aretusa spielte, die Stecknadel von vorne durch den Musselin unter dem Leib durch und spießte sie so vor den Augen ihres eingekerkerten Geliebten an den Apfelbaum. Aretusa schlug eine Weile mit den Flügeln, zappelte mit den Beinen, dann verdrehte sie die Augen und starb", aufgespießt auch durch das Publikum, das sich daran ergötzt. All dies nimmt bereits jene Vergewaltigung vorweg, jene "ungeheuerlichen Überraschungen", die das Aussetzen der hilflosen Mädchen zur Folge hat, das Volksfest, das sie binnen weniger Tage "zu völlig anderen Geschöpfen" umgestaltet. [Vgl. Frank Wedekind, "Mine-Haha".]

[5] ["...die Füße dem Himmel zugewandt": In seinem Tagebuch notiert Frank Wedekind am 7. August 1889 bezugnehmend auf ein Dystichon Goethes: "Wende die Füße zum Himmel ..." Wedekind stellte sich ein Mädchen vor, das "auf den Händen hereinspaziert kommt und Geld einsammelt, indem es die Füße um weniges auseinanderhält. Dann läßt es sich durch Affen auskleiden, wobei die Hauptsache eine vollkommene Passivität ist ..." Tatsächlich heißt es bei Goethe: "Kehre nicht, liebliches Kind, die Beinchen hinauf zu dem Himmel." Bei Wedekind wird das Mädchen durch das Gehen auf den Händen gezwungen, Geschlecht und Kopf zu vertauschen, sich also vollkommen preiszugeben, während ein Mann mit einer Gerte als Dompteur des weiblichen Körpers auftritt.]

[6] [Schlupfwespen (Ichneumonidae) legen ihre Eier mit Hilfe eines Legebohrers zumeist in Käferlarven und Schmetterlingsraupen ab. Diese entwickeln sich im Inneren des Wirts, nähren sich von diesem. Die Larven der Schlupfwespe entwickeln sich außergewöhnlich schnell. In wenigen Tagen durchlaufen sie alle Larvenstadien. Der komplizierte Vorgang der Wirtsfindung setzt hochentwickelte Sinnesorgane voraus, gilt es doch das für die Eiablage geeignetste Entwicklungsstadium des Wirts zu erkennen. In der Regel stirbt der Wirt, sobald die Larve sich verpuppt.]

[7] Die Natur scheut die Leere, ich scheue die Fülle.

[8] Muss an die reichhaltige Sammlung präparierter Geschlechtsteile denken. Während die farbenfrohen Penisse, Trockenpräparate, in erigiertem Zustand zu bewundern sind, schwimmen die weiblichen Genitale ausgebleicht, oft mit krankhaften Wucherungen versehen, in trüben Flüssigkeiten.

[9] [Dominik Schröder, Anton Quack, "Kopfjagdriten der Puyuma von Katipol".]

[10] Ignatius von Loyola, "Die Exerzitien".]

[11] [Heiraten von Adelstöchtern, mochten sie auch mit großem Pomp gefeiert werden, versprachen diesen wenig Glück. Über ihr Leben wurde entschieden. Im Wesentlichen kam ihnen die Funktion von Gebärmaschinen zu. Man denke etwa an Margarita Theresa (1651 - 1673), Tochter des spanischen Königs Philipp IV., erste Gemahlin Kaiser Leopolds I. Die Verbindung der beiden war lange geplant, weshalb der Madrider Hof drei Gemälde von Diego Velázquez anfertigen und nach Wien schicken ließ. Diese zeigen die Infantin im Alter von drei, fünf und acht Jahren. Der Heirat mit Leopold, dessen Nichte und Cousine sie war, gingen lange Eheverhandlungen voraus. 1666 traf Margarita Theresa fünfzehnjährig in Wien ein, wo die Hochzeit stattfand. Sie nannte ihren Gemahl "Onkel". Er sagte "Gretl" zu ihr. Sechs Jahre später starb Margarita Teresa, geschwächt von vielen Schwangerschaften, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, darunter zwei Fehlgeburten, im Alter von 21 Jahren.]

[12] [Bezieht sich auf die Porträtgalerie in Schloss Ambras in Innsbruck.]