Kapitel 18

Es war kein Zufall, gerade hier dem Bischopf von Aleppo wiederzubegegnen. Ich hätte es wissen müssen. Nur jemand wie der Bischof von Aleppo kann Direktor eines solch seltsamen Museums sein. Als ich die Tür zu seinem Arbeitszimmer behutsam öffnete, hörte ich eine Fistelstimme in unterschiedlichsten Sprachen zusammenhangloses Zeug rezitieren: „Schönstes und heiligstes aller erschaffenen Wesen / unverwesliches Holz / mater puríssima / mater castissima / mater invioláta / mater intemeráta / verschlossener Garten, in dem Bäume reife Granatäpfel tragen / virgo veneránda / virgo praedicánda / Bundeslade der göttlichen Herrlichkeit / weichgepolsterte Retorte, mit Flimmerhärchen besetzt / eingeschlafen nach der Ernte auf dem Feld / hingestreckt auf einer Getreidegarbe / speculum sine macula / grenzenlose Auswahl / bedingungslose Liebe / bindungslose Liebe / una mujer jóven / roja y tan blanca como la nieve / una mujer jóven / así como tú / no la he encontrado en ningun lado[1] / porta clausa / porta coeli / domus aurea / eine junge Frau / sie wird bald eintreten / so blütenweiß und rot / eine junge Frau, die dir gleicht, hab ich nirgends gefunden / lilia inter spinas / fons signatus / was nur auszusprechen bereits ein Frevel ist / neporotschnaja dotsch vjetschnowo otza / unbefleckte Tochter des ewigen Vaters / unbeschriebenes Blatt / leere Festplatte des neuen Menschen / escasea el tiempo? cada vez escasea más el tiempo[2] / wird die Zeit knapper / wir haben keine Zeit mehr ...“
Ich schob die Tür etwas weiter auf. Mein Blick fiel in einen schlecht beleuchten, zum Bersten gefüllten Raum. Stöße von Zeitschriften und Büchern. Da eine verstaubte Druckerpresse, dort eine rotierende gusseiserne Maschine, die vor langen Jahren dazu dienen mochte, aus groben Fleischstücken Wurstmassen zu bereiten, daneben zu großen Bündeln verknotete Wursthäute, prall gefüllte Mehlsäcke. Eingeweide früher Computer. Heiligenstatuen. An einer schweren Kassettendecke eine Schweineschlachttrommel mit nach unten hängender Entleerungsklappe. Da so die Gesetze der Schwerkraft auf den Kopf gestellt waren, konnte die Klappe nicht in die Ausgangsstellung zurückfallen. Gleichfalls an der Decke hängend ein ausgestopftes Krokodil, dessen Rücken nach unten wies. Daneben, ohne rechte Ordnung, mehrere Kugelfische als leuchtende Lampions. Spielautomaten, deren Lämpchen sinnlos blinkten. Plötzlich schwieg die Fistelstimme, legte eine Pause ein, um dann zu sagen: „Treten Sie doch näher. Ich habe Sie erwartet, ich habe lange auf Sie gewartet ...“
Ich trat näher, was gar nicht so einfach war, hatte ich doch da einem stählernen Arm auszuweichen, der mir den Weg versperrte, einem Roboterarm, der auf- und niederfuhr und wie andere solcher Arme seltsamste, ballettartige Bewegungen ausführte, musste dort unter einem anderen Hindernis durchschlüpfen. Die Roboterarme, mit viel mehr Gelenken ausgestattet als menschliche Arme und Hände dies sind, aber doch solchen nachempfunden, stießen in diesem Durcheinander zu meinem großen Erstaunen nirgends an, gerieten sich nicht in die Quere, wichen sich vielmehr aus, mochten sie sich manchmal auch zärtlich berühren, wie dies Elefanten mit ihren Rüsseln tun. Nicht einer der vielen Bücherstapel fiel um. Stieß ich irgendwo an, dann gerieten zahllose, in allen Farben blinkende Lämpchen in helle Aufregung.
Es war mir, als bewegte ich mich selbst in einem Spielautomaten. Bei jeder Berührung erklangen die absonderlichsten Geräusche, waren Sprachfetzen, Maschinenlärm, Küchenmaschinen, vorbeifahrende Züge, Bombeneinschläge zu hören. Hörte ich wirklich die Detonation von Bomben oder klang es nicht eher wie zwei mächtige Felsen, die gegeneinander schlugen? Ich weiß es nicht. An eine permanente Berieselung mit Hühnergegacker, Kuh- und Kirchenglocken, Volks- und Kirchenliedern, Trauermärschen und so fort, alles zu einem akustischen Brei verarbeitet, wie wir es aus Museen kennen, hat hier niemand gedacht. Keine Endlosschleifen. Nein, es handelte sich um einen lebendigen Organismus, mochte er auch strombetrieben sein und weder über Empfinden noch über Bewusstsein verfügen. Wenn ich mir da auch gar nicht so sicher bin. Keine der Bewegungen war vorherzusehen, auch klangen all die Geräusche wie ein ständiges Geplapper. Aufeinander bezogene Stimmen und Reden. Ein stetes Zusammenziehen und Ausdehnen. Zweifellos hätte sich der Raum mit seinem Inventar an einem anderen Tag, etwa bei Neumond, zu anderer Stunde, so am frühen Morgen oder spätabends, ganz anders verhalten. Vielleicht würde sich dann, träte ich ein, nicht so eine Aufregung zeigen.
Plötzlich sah ich ihn, den Bischof von Aleppo. Ich hatte ihn größer in Erinnerung. Er saß auf einem thronartigen Sessel hinter einem mächtigen Tisch, der mit allerlei Plunder überhäuft war. Seine Beine, er ließ sie geschäftig vor und zurückwippen, reichten nicht auf den mit Maschinenöl imprägnierten Parkettboden. Der Bischof von Aleppo trug ein Kinderkostüm. Kriegsmarine. Auf dem Kopf, so gar nicht zu diesem Kostüm passend, eine Bischofsmütze, wohl aus dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert stammend.
„Ich habe auf Sie gewartet. Schon lange. Ich wusste, Sie würden kommen. Leider kann ich Ihnen keinen Stuhl anbieten. Wie Sie sehen, hat hier niemand an Stühle gedacht. Es verirrt sich nur selten jemand in diesen Raum. Wenn Sie sitzen wollen, dann müssen sie mit dem Fußboden vorlieb nehmen. Nein, setzen Sie sich doch auf den Bücherstapel dort. Ich könnte Ihnen meinen Sessel anbieten. Aber da ich sitzen möchte, müssten Sie mich auf den Schoß nehmen, so wie mittelalterliche Madonnen den Jesusknaben. Ich bin nicht schwer. Haben Sie die Madonnen betrachtet? Ich wusste, Sie würden kommen. Zu sehr sind unsere Geschichten miteinander verknüpft.“
„Das verstehe ich nicht. Ich habe Sie doch nur einmal gesehen. Und damals waren meine Gedanken mit anderem beschäftigt.“
„Wir sind uns öfter begegnet, als Sie denken. Ich war es, dem Sie zuwinkten, als Sie am Rande der Gemüsefelder nach Veilchen suchten. Ich habe ihnen zurückgewinkt. Sie hofften, mich auf dem Parkplatz zu sehen. Erinnern Sie sich noch an das Museum, in dem sich ein schweres, schräg gehängtes Gemälde aus der Verankerung löste und herabstürzte? Das Gemälde hätte Sie erschlagen können. Ich war es, der Sie in diesem Augenblick zur Seite riss. Sie konnten mich nicht erkennen, war ich doch ganz gewöhnlich gekleidet. Das Gemälde zeigte die Verwandlung der Io in eine Kuh. Zwar ist der Körper einer jungen Frau zu sehen, aber sie trägt bereits den Kopf eines weißen, gehörnten Rindes. Füße und Hände haben sich zu Klauen geformt, wie sich auch der Schwanz bereits abzeichnet. Wie Sie wissen, schreiben manche das Gemälde dem alten Tizian zu. Dafür spricht die grobe Pinselführung. Ich habe mich oft gefragt, warum der Künstler die Verwandlung nicht in der Mitte des Leibes ansetzen, stattdessen bei den Extremitäten beginnen ließ. Übrigens verdanken Sie es mir, dass Sie mit Paul zusammentrafen. Ich war es, der schützend seine Hand über die verbotene Liebe hielt. Ohne mich hätten Sie ihn nie kennengelernt, wären Sie ihm nie begegnet. Bedauerlicherweise konnte ich ab einem gewissen Zeitpunkt keinen Einfluss mehr darauf nehmen. Ich war es, der Ihnen in einsamen, menschenleeren Gassen zurief. Allerdings haben Sie meine Rufe immer falsch verstanden. Nie rief ich: ‚Du hast uns enttäuscht!’ Nein, stets rief ich: ‚Täusche dich nicht!’ Ich wäre dir gerne entgegengelaufen, aber das war nicht möglich. Denken Sie an Ihren Ornat, an die Himmelskühe. Ich habe sie der Künstlerin eingegeben, da ich hoffte, Sie würden die Kühe betrachten. Oder denken Sie an Deborahs Begräbnis, an die Aufnahmen. Ich habe sie gemacht und in Ihren Briefkasten gesteckt. Es sind keine besonders guten Aufnahmen. Ich wagte nicht, mich aus dem Glockenstuhl zu lehnen. Ich bin nicht schwindelfrei.“
„Welchen Sinn sollten diese Aufnahmen haben?“
„Hätte ich das Geschehen nur vom Kirchturm aus verfolgt, ohne an Aufnahmen zu denken, mir wäre das Entscheidende nicht aufgefallen. Nicht einer der Trauergäste sprach Sie an, alle verhielten sich, als seien Sie nicht anwesend. Schon allein wegen Ihrer Kleidung waren Sie nicht zu übersehen. Und doch verhielten sich alle so, als gäbe es Sie nicht. Gut möglich, dass all die Menschen, die auf dem Friedhof waren, Sie gar nicht sehen konnten, waren sie doch in ihren Gedanken bereits mit dem beschäftigt, was auf sie warten würde, und seien es Stühle, die in einen Lieferwagen zu stapeln sind. Das verbindet mich mit Ihnen. Für die meisten Menschen bin selbst ich unsichtbar. Während all der Feiern, ich habe viele erlebt, haben nur Sie mich wahrgenommen, mich gesehen.“ „Ich habe Sie nur sehr undeutlich in Erinnerung. Vor allem größer.“
„Vielleicht werden Sie es einmal verstehen. Manche, es sind ganz wenige, können sich zusammenziehen, um anderen oder anderem Platz zu machen, zum Beispiel all den Dingen, die Sie in diesem Raum hier sehen. Sollte mich mein Gefühl nicht täuschen, dann zählen Sie zu den wenigen, die über diese Begabung verfügen, daran leiden. Sie haben sehr viel Platz geschaffen für andere. Das kann nur jemand, der fähig ist, sich zusammenzuziehen ...“[3]
Der Bischof von Aleppo redete in diesem Ton weiter. Er sprach über Dinge, die mir völlig fremd waren. Was sollte uns schon verbinden?
Nach einer längeren Pause, während der mich der Bischof von Aleppo, sein Knabengesicht, freundlich, aber schelmisch anblickte, meinte ich:
„Ich habe im Museum so seltsame Dinge gesehen. Einem der Jesusknaben fiel ein vergoldeter Apfel aus der Hand.“
„Nehmen Sie es nicht persönlich. Auch ich bin immer wieder überrascht. Als ich letzthin den Madonnensaal betrat, sah ich einen der Jesusknaben in meiner Kleidung. Kriegsmarine. Auf dem Kopf eine Bischofsmütze.“
Es hätte mich nicht erstaunt, hätte der Bischof von Aleppo nur eines leichten Seufzers oder eines Schnalzers mit der Zunge bedurft, um einen der Automaten in Bewegung zu setzen oder zur Ruhe zu bringen. Plötzlich sprang er, und das ohne die geringste Anstrengung, geradezu geschmeidig, von seinem Thron und stieg auf einen vor einem Schaltpult stehenden Schemel. Er drückte Tasten, drehte an Knöpfen, verschob diesen oder jenen Regler: „Ich muss meine Schüler zum Schweigen bringen und ihnen einige Stunden Schlaf verordnen.“
Die Wurstmaschine drehte sich nicht länger, die Roboterarme sanken schlaff zu Boden. Manche von ihnen verschwanden im Bauch der Maschine, wohl vielfach zusammengeklappt. Die Spielautomaten hörten auf zu blinken. Die Geräusche, die den Raum erfüllt hatten, verstummten. Erst in diesem Augenblick nahm ich den Straßenlärm wahr, der von draußen hereindrang. Der Raum war nur noch von einer einzigen Schreibtischlampe erleuchtet, deren mattes Licht groteske Schatten warf. Sich mir zuwendend meinte der Bischof von Aleppo:
„Manches lässt sich nur schwer erklären. Warten Sie einen Augenblick. Schließen Sie die Augen! Denken Sie nicht an mich. Vergessen Sie das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit, denken Sie einzig an das, was Ihnen durch den Kopf geht. Haben Sie die Weinberge aus dem vorbeifahrenden Zug betrachtet? Schließen Sie Ihre Augen.“
Ich schloss meine Augen, stand da, sehr unsicher, irritiert, minutenlang. Es war mir unmöglich, nicht an das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit zu denken, an all die verwirrenden Eindrücke, die ich seit dem Betreten empfand. Ich sah die groteske Sammlung im ehemaligen Parlatorium vor mir, den Mantel und den Altar, musste an das Geplapper all der Maschinen, vor allem aber an den Filmprojektor denken, der mein Leben abspulte, mich gleichsam aus den Stoffbinden meiner Vergangenheit wickelte.
Die nun sehr tiefe Stimme des Bischofs von Aleppo riss mich aus solchen Gedanken:
„Nein, Sie denken immer noch an das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit. Behalten Sie Ihre Augen geschlossen. Keine Angst. Vertrauen Sie mir ...“
Ich blieb stehen. Mit geschlossenen Augen. Der Bischof von Aleppo, er stand hinter mir, sagte nichts. Ich hörte ihn atmen. Sehr lange stand ich so da. Sein gleichmäßiger Atem, ich hielt mich daran fest, ließ mich allmählich zur Ruhe kommen. Plötzlich spürte ich in meinem Nacken eine sanfte Berührung. Der Bischof von Aleppo schien mir größer geworden, mehr noch, nun größer als ich selbst zu sein. Dann legte er eine Hand auf mein Schädeldach. Eine eigentümliche Hitze ging von ihr aus. Schwer lag sie auf meinem Kopf. Ich hörte den Bischof von Aleppo atmen. Nun berührte er mich da und dort, mein Steißbein sei nicht vergessen, drückte manche Stellen, und zwar kaum merklich, einmal in diese, dann in jene Richtung. Ich verlor jedes Zeitgefühl. Einmal war es mir, als würde ich größer, würde bis zur Decke reichen, dann wieder schien ich zu schrumpfen, kleiner zu werden. Waren es wenige Minuten oder stand ich bereits Stunden da? Es müssen Stunden gewesen sein. Ich fühlte mich von Kopf bis Fuß auf seltsame Weise belebt. Alle Müdigkeit war von mir abgefallen.

Aufgewacht, liege ich hingestreut
gleich einer Nürnberger Gliederpuppe,
ein Stäbchenorakel, mutwillig geworfen von der Nacht.
Da lese, da deute einer!

„Sie können Ihre Augen wieder öffnen. Aber sprechen Sie nicht.“
Der Bischof von Aleppo stand vor mir, wieder auf die Größe eines Knabenkörpers geschrumpft. Er trug immer noch sein Kinderkostüm, Kriegsmarine, auf seinem Kopf die Bischofsmütze. Über sein Gesicht huschte ein Lächeln, es strahlte Glück aus. Ein Knabengesicht mit glatter Haut.
„Folgen Sie mir.“
Der Bischof von Aleppo öffnete hinter seinem Arbeitstisch eine Tapetentür, eine Tür, die man weder erkannte noch vermuten würde. Es war eine schmale Tür, durch die ich mich zwängen musste, als ich dem Bischof von Aleppo folgte. Mein Blick fiel in einen großen, nahezu leeren, von einem warmen Licht durchfluteten Raum. Und dann sah ich ihn. An der Stirnwand hing der Ornat, den ich vor langen Jahren anlässlich des Festes der zusammenprallenden Steine getragen hatte.

Die Himmelskühe schienen nun noch leichtfüßiger zu laufen, als ich sie in Erinnerung hatte. Dieser Ornat war mir einmal zweite Haut. Er hat sich mir eingeschrieben. Und dann handelte es sich um das einzige Objekt, das meine Geschichte, letztlich meine Existenz belegt. Ich habe keine Eltern, die mich mit meinem Namen rufen könnten, und Dokumente wie mein Pass verdanken sich einem Schattenreich, zu dem ich keinen Zugang habe und welches mir jede Geschichte versagt. Unsicher schritt ich auf die Wand, auf den Ornat zu. Ich betrachtete ihn, die Stickereien, die Farben, Braun- und Grüntöne, das Weiß der Wolken, das Grau der Erde, den aufgewirbelten Staub. Lange. Dann schloss ich meine Augen. Ich wollte ihn spüren, mich erinnern. Ich wollte die Stickereien blind, mit meinen Fingerspitzen sehen, so wie die Blinden des alternden Rembrandt, nicht anders als sein blinder Homer. Ich musste an die Badedienerinnen denken, die mir mein Körperhaar abrasierten, mich ölten, mich kleideten, mir den Ornat umlegten, an den Zurüster und seine Gehilfen, an den Altar. Als ich die Augen wieder öffnete, stand der Bischof von Aleppo neben mir. Ihm schien mein Erstaunen großes Vergnügen zu bereiten.
„Und ...?“
„... das macht mich glücklich. Aber ...“
„Sie fragen sich wohl, wie Ihr Ornat in das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit gelangte. Ihr Schicksal hat mich lange zuvor beschäftigt, aber dass Ihr Ornat hier zu sehen ist, das verdankt sich einer Übereinstimmung, die ich bei jener Feier empfand. Oft genug nahm ich an solchen Feiern teil, die mit einer Feier nicht das Geringste zu tun haben. Stets hoffte ich, der Altar möge sich gegen seine Programmierung verhalten, ein Abgrund möge sich auftun, um die Maskenträger zu verschlingen, vor allem das REGISTER, das Sündenregister, dem Abweichungen vom Ideal bereits als Sünden gelten, das Sünden registriert, noch ehe eine Frucht ihr Bewusstsein erlangt hat, derer sich niemand schuldig gemacht hat. Damals wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich bemerkte, dass sich der Altar anders als sonst verhielt. Ohne Ihre Hingabe hätte er, wie all die Jahre zuvor, völlig mechanische, durch und durch berechenbare Bewegungen ausgeführt, nicht anders, als läge auf ihm ein totes Werkstück, das es zu bearbeiten gilt. Es ist nicht jedermanns Sache, sich zusammenzuziehen, um anderen Geschöpfen Raum zu geben. Auch nicht, den damit verbundenen Schrecken zu ertragen. Die Geschöpfe, Sie wissen es, die der frei gewordene Platz, die durch Hingabe geschaffene Leere gebiert, können hässlichste Gesichter zeigen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Mein oftmaliges Zusammenziehen hat zumeist nur Gefälliges, Markttaugliches zur Folge. Manche schreiben mir besondere Kräfte, manche sogar eine große Macht zu. Ich verfüge über keine besonderen Begabungen ... Es gibt niemanden, der ohnmächtiger ist als ich. Verfügte ich über Macht, manches würde sich ändern. Es schmerzt mich vieles. Vieles ertrage ich nicht. Deshalb verlasse ich nur selten das Haus. Du warst die einzige, die mich gesehen hat. Ich dachte damals, diese junge Frau, also Sie, könnten mir Mutter sein, ich ihr Vater, Sohn, Bruder, Freund, Diener.“
„Wie kam der Ornat in diesen Raum?“
„Ich habe ihn gekauft. Geld macht vieles möglich.“
„Wer verkaufte ihn?“
„Das Unternehmen. Champell. Das Unternehmen verkauft vieles. Nicht nur Sperma, Eizellen, Embryonen. Der Zurüster, dieser Geizhals. Er ließ sich eine Kopie anfertigen. Und diese Reproduktion hängt in seinem Schlafzimmer über seinem Bett. Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, warum er sich gerade für diesen Ornat interessierte.“
„Was haben Sie mit all dem zu tun?“
„Eigentlich nichts. Mein diesbezügliches Engagement verdankt sich einem Fluch. Zugegeben, auch meiner Neugier.“
„Waren Sie je im Museum mit den Ornaten?“
„Ich war öfters dort. Ein totes Museum, ohne Leben. Aber an solchen Orten habe ich die besten Einfälle.“
„Besuchen Sie manchmal ein Sakralmuseum?“
„Ich bin so etwas wie ein Experte auf diesem Gebiet. Freilich schmerzen mich all diese Museen.“
„Kennen Sie kein gutes Sakralmuseum?“
„Kirchliche Museen sind ein Unding. Man kann nicht gleichzeitig den einen Gott behaupten und sich mit der Geschichte mit all ihren Verwerfungen beschäftigen. So tritt denn auch an die Stelle der Erbauung der Erlebnisparcours. Ist man an manch bedeutsamen Kunstwerken vorbeigewandert, hat man sie mit großem Staunen betrachtet, so landet man am Ende statt bei einer neuen Weltsicht bei Aquarellen, die der letzte Bischof in seiner Freizeit angefertigt hat, bei Bauernhöfen, Waldseen und Berglandschaften. Herbstbäume scheinen besonders beliebt.“
„Denke ich an die vielen Madonnen, die zahllosen Darstellungen von Martyrien, dann scheint mir das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit ein sehr katholisches Museum zu sein.“
„Katholizismus in seiner höchsten Steigerungsform! Lassen Sie die vielen Maschinen nicht außer acht.“
„Glauben Sie an Gott?“
„Gut möglich, ja sogar sehr wahrscheinlich, dass es keinen Gott gibt. Aber gerade deshalb muss ich von seiner Existenz ausgehen. Ich sah einmal in einem Gebirgssee einen kleinen Tempel. Man nennt ihn ‚Haus des Gottes, den es nicht gibt’. Dieser kleine Tempel, der so gottverlassen und leer in diesem Bergsee stand, hat mir sehr gefallen.“
Und dann noch eine Überraschung. Auf einer Stele ruhend, in der Mitte des Raumes, bestens zur Wirkung gebracht, der kleine Gott, der kleine Gott im Formaldehydbad. Das Kind hatte sich nicht im Geringsten verändert. Der kleine Gott, dessen rötliches Haar im Nacken, so als hätte jemand einen Federstrich gezogen, auslief, hatte seine Augen immer noch geschlossen, war immer noch in seinen Träumen gefangen. Wovon der kleine Gott wohl an diesem Abend träumen mochte? Nun, herausgenommen aus dem Pandämonium seltsamster Missgeburten, berührte er mich noch mehr. Der kleine Gott schien zu lächeln.

Der Bischof von Aleppo lud mich ein, bei ihm zu übernachten. Gerne nahm ich die Einladung an. Ich war sehr müde. Auch war es bereits spätabends. Warum noch den Weg ins Hotel auf mich nehmen? Wir gingen durch lange Gänge. Die groteske Ansammlung von Maschinen, Madonnenstatuen, nur von Notlicht beleuchtet, all das schien mir in der gespenstischen Ruhe nun noch lebendiger. Wir schritten auch an jenem Raum vorbei, die Tür stand offen, in dem der Filmprojektor immer noch surrend meine Gesichter, meine Geschichte an die Wand warf. Ich wollte nicht hinsehen. Als ich mir meiner hallenden Schritte bewusst wurde, musste ich an Novizinnen denken, die vor langer Zeit, war es Nacht geworden, lautlos durch diese Gänge huschten, an ihre Angst, ertappt zu werden, wollten sie sich in einer anderen Zelle, in den Armen einer anderen ausweinen oder schüchterne Zärtlichkeiten tauschen. Manche von ihnen waren wohl noch Kinder, noch nicht zur Geschlechtsreife gelangt. Zweifellos liefen sie barfuß, sich in der Dunkelheit an Wänden forttastend, Zellentüren zählend. Damals gab es noch keine elektrische Notbeleuchtung, war die Nacht noch dunkel, mochte da und dort auch eine Kerze geflackert haben.
„Warum ein Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit?“
Wände und Seitengänge warfen meine Stimme zurück. Es war mir unangenehm, mich so laut sprechen zu hören. Den Bischof von Aleppo schien das nicht im Geringsten zu stören. Auch schien er es eilig zu haben. Ich vermochte kaum mit ihm Schritt zu halten.
„Womöglich bin ich etwas verrückt. Vielleicht verdankt sich alles nur dem Hormonhaushalt. Von den Mücken bis hin zur Krone der Schöpfung. Auf jeden Fall scheint mir das Begehren die einzig wirkliche Triebfeder. Ob geliebte Person, Gott, Maschinen oder Marktwirtschaft, überall finden sich dieselben Gesetze. Sehr klare Gesetze. Trotzdem bringen es nur wenige zur Meisterschaft. Die kostbarste Energie wird sinnlos verschwendet. Übungen der Hingabe wären vonnöten. Zur Meisterschaft gelangt nur, wer den Tod mitdenkt. Deshalb interessiere ich mich für Maschinen, für Gerüche und Sekrete, für Bewegliches wie Erstarrtes. Auch für diesbezügliche Bilder und Ideen in all ihren Spielarten.“
War ich es, die den Bischof von Aleppo bei der Hand nahm? Oder hatte er nach meiner Hand gegriffen? Führte ich ihn oder führte er mich? Wie auch immer, es war eine zärtliche Geste. Wir verließen das Museum durch eine kleine Seitentür, querten Hand in Hand, so als begleitete ich einen kleinen Jungen auf seinem Schulweg, eine vielbefahrene Straße und bogen in eine schmale Seitengasse ein. Der Bischof von Aleppo trug immer noch sein Knabenkostüm, Kriegsmarine, seinen Bischofshut. Er blieb vor einem der heruntergekommenen Häuser stehen und öffnete eine schwere Tür. Wir traten ein. Hinter uns fiel die Tür mit einem lauten Krach ins Schloss.
Ein Innenhof. Eine Anlage, die einen Meister der Gartenbaukunst erahnen ließ, streng gesetzte Flächen, aufeinander abgestimmte Farben. Ein begehbarer Garten, aber dazu geschaffen, in der Aufsicht betrachtet zu werden, von einem der Balkone oder aus einem der vielen Fenster. Räumlichkeit, der Musik nahe. Töne, in Farben gesetzt. Die Schönheit dieses Gartens konnte ich freilich erst am nächsten Morgen sehen. Aber ich nahm den Duft wahr, als wir ihn durchschritten. Es war mir, als hätte der Garten den ganzen Lärm der Stadt zum Schweigen gebracht.
Der Bischof von Aleppo führte mich in den ersten Stock. Eine alte Holzstiege knarrte unter unseren, vor allem meinen Schritten. Da kein Licht brannte, führte er mich nun wirklich. In der Dunkelheit war ich auf seine Hand angewiesen.
„Eine Zwischentreppe. Stolpern Sie nicht ... Obacht! Die letzte Stufe.“
Oben angekommen schritten wir einen Korridor entlang. Der Bischof von Aleppo öffnete eine Tür. Mein Blick fiel in ein hell erleuchtetes Zimmer. Ein Tisch, zwei Gedecke. Eine zwergwüchsige Nonne, eine junge Frau, dem Mädchenalter bereits entwachsen, deren weiße, vielfach gefaltete Kopfbedeckung an einen modernen Museumsbau denken ließ. Bewegungslos, so als handle es sich um ein Möbelstück oder eine Skulptur, stand sie neben dem schweren, weiß gedeckten Tisch. Zweifellos hatte sie diese Haltung erst eingenommen, als sie uns im Treppenhaus nahen hörte. Ganz anders, als ihre Kleidung dies erwarten ließ, war ihr Mund, dessen sinnliche Lippen durch die seltsame Kopfbedeckung noch mehr zur Geltung kamen, sorgfältig geschminkt.
„Agnes, was macht die Küche?“
„Habe ich Sie je enttäuscht?“
Agnes verschwand in einem der Nebenräume.
„Bitte setzen Sie sich. Wählen Sie den Platz. Heute sind Sie mein Gast.“
Ich setzte mich auf einen der beiden rot gepolsterten Stühle. Obwohl hier alles seine Ordnung zu haben schien, gab sich der Bischof von Aleppo weder steif noch förmlich. Er bewegte sich völlig ungezwungen. Es hätte mich nicht erstaunt, wäre er auf einen am Boden liegenden Ball zugelaufen, um ihn mit einer kräftigen Beinbewegung auf den exakt gedeckten Tisch zu katapultieren. Stattdessen stieg er auf die Leiter einer Bücherwand, die bis zur Decke reichte, um nach einem Buch zu suchen. Er fand es, schlug es auf, an einer (mit einem Mikadostäbchen) markierten Stelle, und begann, ganz oben auf der Leiter stehend, nicht ohne Übertreibung daraus vorzulesen:
„... Sie saget, daß wenn sie der Pater Girard in ihrer Kammer besuchet, und solche nach sich zugeschlossen, es öfters geschehen sey, daß er ihre Geburts-Glieder berühret, davon sie sich angefeuchtet befunden, in Ohnmacht gesuncken, und nicht gewußt, wie ihr geschehen sey ... Sie füget hinzu, daß, als sie der Pater Girard einstens im Hemde auf ihrem Bette niederlegen lassen, mit Vermelden, daß sie wegen des Fehlers, den sie begangen, weil sie sich ihme nicht überlassen wollen, müßte gestraffet werden, sie gefühlet hätte, angefeuchtet und geküzelt zu werden. Zu anderen Zeit habe er ihr eine Disciplin auf die Hinterbacken gegeben, und solche geküsset. Da habe sie sich gleichfalls wieder angefeuchtet und gekützelt gefühlet. Füget auch noch hinzu, daß, als sie eines Tages, dessen sie sich nicht mehr so eigentlich erinnern kann ...“[4]
Agnes, die zwergwüchsige Nonne, trat ein, ein Wägelchen mit Suppe vor sich herschiebend.
„Sie lesen schon wieder unzüchtiges Zeug. Angefeuchtet und gekützelt, ich kann das nicht mehr hören ...“
„Agnes, beruhige dich. Bist du eifersüchtig? Heute erwarte ich Haltung von dir. Denk an unseren Gast.“
Zu mir gewandt:
„Agnes ist ein Glück für mich. Sie hat mich vieles gelehrt. Sie kennt Abgründe, von denen ich keine Ahnung habe. Ich wollte Ihnen etwas vorlesen. Eine Geschichte, eine von vielen, die mich an Sie denken ließ, an das Unternehmen, an den Park ...“
Agnes servierte. Mit grazilen Gesten goss sie Wein ein und schöpfte Suppe auf unsere Teller, wobei sie sich auf ihre Zehenspitzen stellte. Ich starrte auf ihre sehr gepflegten und rot lackierten Fingernägel. Eine leichte Geflügelsuppe. Drei Erbsen, ein Broccoliröschen, sieben Flusskrebse. Darüber ein Schaumkrönchen, das fein nach Zitronengras duftete. Die Suppe war so schön angerichtet, dass es mich Mühe kostete, meinen Löffel in sie zu tauchen. Um unser Schweigen zu unterbrechen, fragte ich:
„Was hat die Geschichte, die Sie mir vorlasen, mit mir zu tun?“
Der Bischof von Aleppo, er hatte seine Suppe noch nicht ausgelöffelt, sprang, da seine Beine nicht bis zum Boden reichten, von seinem Stuhl, griff nach dem Buch und warf es gegen einen großen Spiegel, der klirrend zersprang. Kaum war der Spiegel in tausend Scherben zerbrochen, trat durch eine der Türen eine Dienerin mit Kehrschaufel und Besen. Sie muss gewusst haben, dass der Spiegel zerbersten wird. Es war, als hätte sie auf diese Szene gewartet und träte nun, wie in einem Theaterstück, im richtigen Augenblick auf die Bühne. Das Gesicht der Frau schien mir bekannt, auch ihr kostbares, bis auf den Boden reichendes blaues Kleid mit geschlitzten Ärmeln, die mit gelbem und rotem Stoff gefüttert waren. Aber ich vermochte weder das Gesicht noch die Kleidung einem Ort oder einer Begebenheit zuzuordnen. Ich dachte nicht länger darüber nach, da sie sich mir gegenüber verhielt, als habe sie mich noch nie gesehen. Während sie die Scherben zusammenkehrte, beruhigte sich der Bischof von Aleppo und kletterte wieder auf seinen Stuhl.
„Das war jetzt notwendig ... Niemand vermochte Ihre Begabung zu sehen. Solche Dummköpfe. Der Zurüster! Ein dummer Mensch. All die Gehilfen, die Badediener, die Maschinenobergefreiten, nichts als Statisten, Schauspieler, Darsteller, ohne geringstes Empfinden, ohne jedes Einfühlungsvermögen. Selbst Witz ist ihnen fremd.“
„Meine Existenz soll sich bestem Erbmaterial verdanken. Besondere Begabungen wurden mir nicht mitgegeben.“
„Das sage ich auch immer wieder von mir.“
Als ich den Knaben, der mir gegenüber saß, er trieb allerlei Scherze, betrachtete, da dachte ich mir, ich könnte ihm, so wie vielen anderen, Mutter sein. Aber das war unmöglich, war er doch während des Festes der zusammenprallenden Steine anwesend gewesen, damals, als ich meine erste Insemination erfuhr. Und dann schien mir, als würde mich aus dem Knabengesicht ein Greis anblicken. Die glatte Haut, vielleicht nur eine Maske. Womöglich ist der Bischof von Aleppo schon hunderte Jahre alt, vielleicht tausende von Jahren. Vielleicht saß er in jener Nacht, als der Großkönig Šuppiluliuma seine Ehe mit Hintiš vollzog, am Fußende des Lagers. Wie auch immer. Auf jeden Fall war der Bischof von Aleppo sehr vergnügt, besonders dann, ließ er Agnes, die ihm wie mir nach jedem Gang mit einem Tuch den Mund abtupfte, ein neues Gericht auftragen. Stets kleinste, kunstvoll angerichtete Portionen.

Jetzt auf dem Teller, hübschest angerichtet und garniert, kleine Vögel, mit einer dünnen Speckschicht ummantelt, mit Bratensauce beträufelt. Die kreuzweise durch die Augenhöhlen der kleinen Köpfchen gestoßenen Beinchen irritierten mich.
„Wacholderdrosseln. Ich pflege noch den traditionellen Stil. Benutzen Sie ruhig die Finger. Wozu gibt es Servietten? Agnes wird sie vor dem nächsten Gang wechseln. Die Eingeweide, Wacholderdrosseln nimmt man nicht aus, werden üblicherweise nicht gegessen ...“
Die Gerichte und deren Abfolge hatte sich wohl der Bischof von Aleppo höchstpersönlich ausgedacht. Vermutlich ging es ihm dabei nicht nur um Geschmack, nicht nur um den Genuss. Und so schien mir denn auch jedes Gericht von symbolischer Bedeutung zu sein. Der Bischof von Aleppo muss sich lange auf unser Zusammentreffen vorbereitet haben. Womöglich ließ er sich, an diesen Abend denkend, in den Monaten zuvor jedes der Gerichte mehrfach auftragen, um es auf seine Tauglichkeit zu prüfen und der Köchin oder dem Koch diese oder jene Änderungen ans Herz zu legen. Womöglich hatte er das Buch, um die Wirkung der Geste zu steigern, wiederholt gegen den Spiegel geschleudert und diesen jeweils erneuern lassen. Was zählt ein zerbrochener Spiegel in einem Haushalt, in dem zwei Granatäpfel aus purem Gold auf dem Tisch liegen? Wohl wenig. Gut denkbar, dass Agnes an anderen Tagen alles andere als eine Nonnentracht trägt, stattdessen mit offenem Haar, nur mit einem weißen, sehr eng anliegenden Korsett bekleidet, den Wein eingießt, Speisen vorlegt, Münder abtupft.
„Was haben Sie mit dem Unternehmen zu tun? Mit dem Park?“
„Ich sagte es Ihnen bereits. Es verdankt sich einem Fluch.“
„Einem Fluch?“
„Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Dose geöffnet, die Ihnen anvertraut wurde unter dem Versprechen, auf keinen Fall einen Blick hineinzuwerfen. So war es natürlich nicht. Und dann war es doch nicht anders. Ob ich wollte oder nicht, ich musste für ein gebrochenes Versprechen büßen. Man hat mir meine Seele geraubt und sie dem Park eingepflanzt.“ „Und nun warten Sie auf eine Prinzessin, die Sie erlösen soll ...“
Mein Scherz hatte ein bitteres Lachen zur Folge, das alles andere als das eines Knaben, eines Kindes war. Ein abgründiges Lachen. So kann nur jemand lachen, der schon vieles erlebt hat. Einige Tränen flossen über die Wangen des Knaben. Der Bischof von Aleppo gewann jedoch rasch seine Beherrschung wieder.
„Fest der zusammenprallenden Steine ... Wie finden Sie den Wein? Er ist doch köstlich? Ich hab lange danach suchen müssen. Brunello di Montalcino. Muss ein gutes Jahr gewesen sein. Das Fest der zusammenprallenden Steine, ich muss es gestehen, verdankt sich meinen Einfällen, wie manches aus dem Inventar Ihrer Vergangenheit. Ich kann nicht ohne ein gewisses Grauen daran denken.“
„Was ist damit gemeint?“
„Man soll nicht alles erklären. Sonst verliert es seine Wirkung.“
„Ich kann mich an vieles erinnern, nicht aber an zusammenprallende Steine.“
„Das Fest, das gar kein Fest ist, verdankt seine Bezeichnung mir. Nein, Steine prallen nicht zusammen. Und doch geschieht etwas Ungeheuerliches, so als würden Eisberge geboren, Eis, berstend, sich losreißen, um in den Ozean zu treiben und zu töten.[5] Denken Sie an das Essen. Ich habe mir Mühe gegeben, an viele Gerichte gedacht. Und damit zwangsläufig an deren Bedeutungen. Ein Koch, der nicht um die Bedeutung der Dinge weiß, dem zu einer Erbse nur grün und Erbse einfällt, kann kein guter Koch sein. Letztlich versteht er auch nichts von seinen Gästen, nichts von der Welt.“ In diesem Augenblick servierte Agnes, sie hatte zum wiederholten Mal unsere Münder abgetupft, ein weiteres Gericht. Feinblättrig geschnittene Scheiben einer mir unbekannten Speise, auf den Tellern überlappend in einem Halbrund angeordnet.
„Lammherzen, mit Trüffeln und frischen Kräutern. Unsere Köchin ist eine wahre Künstlerin. Kennen Sie die Geschichte des Mannes, der in seiner Eifersucht den Geliebten seiner Frau tötet, dessen Herz zubereiten und seiner Frau als Eberherz auftragen lässt? Eine schöne Geschichte. Hätte er es nur dabei belassen! Aber was tat er? Kaum hatte sie das Herz gegessen, erklärte er ihr, wessen Herz sie soeben verzehrt habe. Die ganze Anstrengung umsonst. Die Frau stürzte sich aus dem Fenster und wurde mit ihrem Geliebten begraben. Das ist doch banal. Man muss Dinge in der Schwebe halten. Deshalb soll man nicht alles erklären. Das gilt für das Essen, es gilt für den Park, auch für das Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit. Heute will ich eine Ausnahme machen, haben Sie sich doch so lange bemüht, dieses oder jenes zu erfahren. Erinnern Sie sich an die Raumpflegerinnen.“
„An die Taubstumme, an die Blinde, an die, die keinen Tastsinn besaß.“
„Das Unternehmen hätte Ihnen irgendeine Raumpflegerin geschickt. Ich habe in all diesen Dingen mit dem Unternehmen zwar nicht das Geringste zu tun, konnte es aber einrichten, dass genau diese Frauen dafür angestellt wurden. Da ließ ich den Strom ausfallen, dort läutete ein Wecker nicht, wieder jemand erhielt ein besseres Angebot. Was die Raumpflegerinnen betrifft, hatten sie es mit besonderen Frauen zu tun. Das müssen Sie doch zugeben. Ich habe mir damals ebenso viel Mühe gegeben wie für die Gerichte, die wir jetzt essen.“
„Ich verstand es erst später.“
„Weil all diesen Frauen ein Sinn fehlt, sei es nun von Geburt an oder infolge eines Unglücks, verfügen sie über eine besondere Begabung. Ich dachte damals, Sie würden es verstehen. Sie haben Agathe nicht wiedererkannt. Dabei habe ich Agathe gebeten, sich heute so zu kleiden, wie sie damals gekleidet war, als sie in Ihr Leben trat. Ich habe damals lange über ein passendes Kleid nachgedacht, weniger über ein Kleid, mehr an eine Geschichte, die mit der Kleidung zum Ausdruck gebracht werden sollte. Meine Wahl fiel auf Cecilia Gallerani[6], auch deshalb, weil sie bereits zehnjährig mit einem gewissen Visconti vermählt wurde. Das Kleid, ich ließ es nach dem bekannten Gemälde von Leonardo da Vinci von einer der besten Maßschneiderinnen anfertigen, ist voll von symbolischen Andeutungen. Denken sie an die geschlitzten Ärmel, die wie das Hermelin auf Geschlechtlichkeit verweisen. Dass man damals dachte, das Hermelin begatte sich durch den Mund und gebäre durch das Ohr, sei nur nebenbei erwähnt. Seine weiße Farbe bezeichnete Jungfräulichkeit und Makellosigkeit. Und dann hat es immer noch etwas Raubtierhaftes an sich, was besonders in seinen gespreizten Krallen zum Ausdruck kommt. Und nicht zufällig greift eine der Vorderpfoten in den geschlitzten Ärmel. Zur Entstehungszeit des Gemäldes war Cecilia etwa dreizehn Jahre alt, also in jenem Alter, in dem Sie das Fest der zusammenprallenden Steine erlebten. Freilich war nur eine Annäherung möglich, sind doch wesentliche Teile des Kleides auf dem Gemälde nicht dargestellt ...“
Ich konnte mich plötzlich erinnern, an Agathe, die Raumpflegerin, an das Kleid, das sie stets mit einer Hand hochhob, wischte sie kniend den Boden, an das Rauschen des Kleides, wechselte sie von einem Raum in den anderen, an Agathes Gestik, mit der sie etwa zum Ausdruck bringen konnte, ich möge neben den Teppich treten, wollte sie diesen reinigen. Und schließlich erinnerte ich mich auch an das Gemälde, das ich in Krakau gesehen hatte. Ein Gefühl von Scham überfiel mich. Der Bischof von Aleppo schien es zu bemerken, suchte dies aber zu verbergen. Stattdessen fuhr er fort:
„Auch von Agathe habe ich vieles gelernt. Sie vermag Dinge zu sehen, die üblichen Menschen verborgen bleiben. Nein, sie spielte nicht eine Taubstumme, sie ist tatsächlich taubstumm. Dagegen hat sie die Rolle der Raumpflegerin gespielt. Auch in Ihrer Kindheit durfte manches nicht zur Entfaltung gelangen. Vermutlich haben sich manche Ihrer Sinne gerade deshalb entwickelt.“
„Ich wüsste nicht, über welch besonderen Sinne ich verfügen sollte.“
„Sie haben im Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit doch den Film gesehen. Erschreckt verließen Sie den Raum.“
„Ich hätte nicht länger hinsehen können.“
„Unter Hunderttausenden findet sich nur einer, der etwas auf der Leinwand sieht. Sie zählen zu diesen wenigen Menschen. Übrigens waren dem Unternehmen diese Raumpflegerinnen völlig gleichgültig. Sie hatten keinen besonderen Auftrag, wurden also nicht dafür bezahlt, über Sie Berichte zu schreiben.“
„Und Deborah?“
„Ich wusste, dass sie Sie nicht nur betreuen, sondern auch Berichte über Sie verfassen sollte. Aber ich ließ sie damit in Konflikt geraten.“
„Haben Sie mit ihr gesprochen?“
„Nein. Aber ich hatte Gelegenheit, sie zu beobachten. Mir gefielt die Art und Weise, mit der sie den kleinen Gott betreute, der sich selbst zu Tode schlug.“
„Hätten Sie den kleinen Gott nicht bewahren können?“
„Ich kann doch nicht für alles verantwortlich sein.“
„Aber für das Fest der zusammenprallenden Steine?“
„Meine Bosheit! Unter der dann wieder andere zu leiden haben. Denken Sie an den Altar, die fleischfressende Maschine. Um die Opfer gefügig zu machen, bedarf es eines Kults, sinnstiftender Bilder, so das Fest der zusammenprallenden Steine. Ich muss wohl sehr betrunken gewesen sein. Kennen Sie die Geschichte der heiligen Euphemia, der Beschönigung? Sie sollte nach manchen Torturen am siebenten Tag wie eine Olive zwischen zwei riesigen Steinen zerquetscht werden. Die Steine zerfielen zu Staub. Es ist nur eine Geschichte, eine Geschichte, die sich in vielen Kulturen findet. Denken Sie an das Wasser des Lebens. Ein Junge hat eine Reihe von Prüfungen zu bestehen. Er besteht sie. Und dann noch eine letzte Prüfung. Agnes, bitte noch etwas Wein für unseren Gast. Und diese Prüfung kennt nur noch + oder -, leben oder sterben. Um in den Besitz des Wasser des Lebens zu gelangen, muss der Junge, gerade geschlechtsreif geworden, mag er auch ein Kinderkostüm, Kriegsmarine, eine Bischofsmütze tragen, durch zwei Felswände schlüpfen, die sich gleich einer Maschine öffnen, um schon im nächsten Augenblick wieder zusammenzuprallen. Stellen Sie sich einmal den ohrenbetäubenden Lärm vor, den zwei Felsen verursachen, die Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, gegeneinanderschlagen. In manchen dieser Geschichten scheinen die beiden Felsblöcke fest verankert und seit undenklichen Zeiten unverändert dazustehen. Dabei prallen sie zusammen wie ein Fangeisen oder eine Venusfliegenfalle, berührt der Junge, was sich gar nicht vermeiden lässt, auch nur einen der beiden Felsblöcke. Er könnte die Prüfung nie bestehen, vertraute ihm nicht ein Mädchen ein Geheimnis an, von dem niemand erfahren darf. Das Mädchen bezeichnet die Erde, die wieder befruchtet werden und keimen soll. Auch wenn das Mädchen um die beiden Felsen weiß, so versteht es das eigentliche Geheimnis nicht. Ich habe darüber lange nachgedacht. Agnes, schenk mir bitte noch etwas Wein ein. Ach ja, die zusammenprallenden Felswände sind unschwer als weibliches Geschlecht zu deuten. An solch archaische Bilder und Vorstellungen dachte ich. Es hat mir großes Vergnügen bereitet, dies einem gewinnorientierten Unternehmen einzupflanzen, welches von sich stets behauptet, jede Entscheidung sei sachlich begründet. Agnes! Sag Gno, sie möge mit dem Klavierspiel aufhören. Die Köchin braucht sie nicht mehr. Sicher stehen die minni di virgini[7], die Brüste der Jungfrau, zum Auftragen bereit. Gno soll sich um meine Schultern kümmern.“
Seltsam. Oft genug wird man sich etwas erst dann bewusst, bricht es ab. Ich hatte das Klavierspiel, welches aus einem unteren Stockwerk während unseres Essens zu hören war, kaum wahrgenommen. Auftritt Gno. Eine Tänzerin. Sie wirkte, als sei sie einem Gemälde von Degas entstiegen. Ein Schmetterlingswesen mit abstehendem Seidenröckchen, in zierlichen Schläppchen. Ihre Schritte lautlos. Agnes, sie hatte in der Zwischenzeit abgeräumt, servierte nun die erwähnten minni di virgini. Auf dem Teller zwei der weiblichen Brust nachempfundene weiße Halbkugeln, als Brustwarze jeweils eine rot leuchtende kandierte Kirsche aufgesetzt. „Auch so eine Geschichte. Die schöne Agathe ließ sich lieber die Brüste abschneiden, als sich körperlichen Genüssen hinzugeben. Die beiden Brüste sind doch hübsch. Die Köchin hat sich alle Mühe gegeben.“
Gno, das Mädchen mit dem abstehenden Röckchen, stand nun hinter dem Bischof von Aleppo und massierte mit leichten Bewegungen seinen Nacken, seine Schultern. Der Junge gab sich diesen Bewegungen hin, ließ sich aber nicht davon abhalten, die minni di virgini, die köstlich schmeckten, mit einem Löffelchen zu verspeisen. Gnos Hände nahmen jede seiner Bewegung auf und setzten sie fort. Die Bischofsmütze auf seinem Kopf wies einmal in diese, dann in jene Richtung. Agnes, sie hatte den Tisch bis auf die Weingläser abgeräumt, trat neben den Bischof von Aleppo, hob ihr langes Kleid, schwang das eine Bein über die Knie des Knaben, stieß sich mit dem anderen Bein ab und saß auf seinem Schoß, legte ihre Arme um seinen Nacken, drückte ihn an sich, küsste ihn, zuerst so wie eine Mutter es macht, hat sie ihren Jungen zu Bett gebracht, dann wie eine Geliebte, Mund auf Mund, während der Bischof von Aleppo, ohne sich von Gnos Bewegungen ablenken zu lassen, seine Arme um ihre Hüften legte und sie zärtlich an sich drückte. Nun öffnete Agnes Knopf um Knopf ihr Kleid, griff nach ihren Brüsten, die ganz an die eben verzehrte Süßspeise denken ließen ...

Später fand ich mich allein in einer Kammer mit einer Bettstatt aus längst vergangener Zeit. Die Polster waren sorgfältig gerichtet, die weißen Bettdecken zurückgeschlagen. Ich streifte meine Kleidung ab, ließ sie auf dem Vorleger liegen und schlüpfte unter die Bettdecke. Mein Blick fiel auf ein großes Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Es zeigte die Heilige Agathe, einen Knecht damit beschäftigt, ihre Brüste mit einer Zange zu zerreißen, einen anderen, der ansetzt, diese abzuschneiden. Im Hintergrund ein zauberhafter Garten mit weiß leuchtenden Lilien und tiefroten Rosen, begrenzt von einem Bach, der sich unter Bäumen dahinschlängelt und in der Ferne verliert. Im Vordergrund, zwischen den Beinen der Knechte, zwei balgende Hunde, ganz aus dem eigentlichen Geschehen gefallen. Zweifellos sah ich vor mir jenes Gemälde, welches einst in der Zelle der Äbtissin hing. Ich dachte an die minni di virgini, war aber zu müde, um mich weiter damit zu beschäftigen. Ich löschte das Licht und schlief ein.
Plötzlich, mein Schlaf war wohl nicht sehr tief, spürte ich eine Hand, die über meine Brüste strich, einen Knabenkörper neben mir, der sich unter der Bettdecke einrichtete, sich an meinen Körper schmiegte.
„Vergessen wir doch alle Förmlichkeiten. Darf ich dich Yo nennen?“
„Und wie soll ich dich nennen?“
„Sag einfach Bischof zu mir. Lass das von Aleppo weg. Ich denk ohnehin nicht gern an den Großkönig Šuppiluliuma seine Gemahlin Hintiš.“
Der Bischof von Aleppo, alles andere als ein Zurüster, der sich nur mit Stäbchen oder Klappmäulern, die an Rabenmasken der Kwakiutl denken lassen, den Körpern anderer zu nähern, sich ihrer zu bedienen weiß. Legte er seinen Kopf in meinen Nacken, drückte er seine Nase in meine Achselhöhlen, suchte sein Mund meinen Mund, strich eine seiner Hände an den Innenseiten meiner Schenkel entlang, suchte eine Hand mein Geschlecht, öffnete sie es, es hatte nicht das Geringste mit all den Untersuchungen zu tun, die ich unzählige Male über mich ergehen ließ, auch nichts mit jenen Erfahrungen, die ich später mit Männern in Autos, Hotelzimmern, Toiletten oder auch auf Rinderweiden gemacht hatte, mit Männern, die stets dachten, ich hätte mich ihnen hingegeben, obwohl sie mich in Wirklichkeit nahmen. Stattdessen wirkliche Neugier, eine große Lust, meinen Körper zu erkunden. Darin erinnerte der Bischof von Aleppo an einen Knaben, der zum ersten Mal in seinem Leben den Körper einer Frau untersucht. Zwiesprache zweier Körper, Zuneigung, vielleicht sogar die Spur eines Verliebtseins. Ich antwortete, legte meine Arme um ihn, der sein Kinderkostüm, Kriegsmarine, seine Bischofsmütze in der Dunkelheit abgestreift hatte, drückte ihn an mich, genoss es, liebkoste und untersuchte er mit seinem Mund meinen Körper, musste kichern, biss er mich scherzhaft an dieser, dann an jener Stelle, saugte er an meinen Brüsten. Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick Maria lactans gespielt, dem Jungen meine Brust gereicht, meine Brustwarze zwischen Zeige- und Mittelfinger genommen, ihm Milch in den Mund gespritzt, ihn genährt, mit Strömen von Milch, um ihn größer zu machen, ihn stark werden zu lassen.
„Ich kann durch dein Haar streichen. Wo ist die Bischofsmütze geblieben, wo dein Kinderkostüm, Kriegsmarine?“
„Agnes hat mich ausgezogen, mich gewaschen. Wer weiß, womit sie mich morgen kleiden wird? Agnes ist die Großmeisterin dieses Hauses.“
„Besucht sie dich im Museum der geschlechtlichen Frömmigkeit?“
„Natürlich nicht. Wozu sollte sie? Ich bin mit Agnes durch unsichtbare Fäden verbunden. Blute ich aus der Nase, dann blutet auch sie. Und blutet sie, dann blute auch ich.“
„Ich habe immer noch das Klavierspiel in meinen Ohren.“
„Es klingt auch in meinen Ohren nach. Das Ende des Stücks fügt sich exakt an den Beginn, es kennt weder ein Ende noch einen Anfang. Man könnte es endlos spielen. Die Anschläge verdanken sich einem Würfelspiel, letztlich der Mathematik. Ober- und Unterstimme sind in ständiger Zwiesprache. Übrigens handelt es sich um die Komposition eines österreichischen Komponisten, der in Vergessenheit geraten ist. Es war seine letzte Arbeit. Yo, du musst noch etwas wissen. Er schrieb sie, den Tod vor Augen. Nein, eine seiner Schülerinnen notierte sie nach seinen Anweisungen.[8] Gno spielt das Stück manchmal über viele, viele Stunden. Dann ist es Aufgabe der Köchin, ihr Wasser, manchmal auch Cognac einzuflößen. Wie sehr sich doch ihr Anschlag nach langen Stunden verändern kann. Ich höre Gnos Harndrang, ich höre ihre Erschöpfung, auch die Klarheit, die sich dieser verdanken. Und dann gibt es einen Augenblick, in dem Gno und das Klavier buchstäblich in Zwiesprache treten, das Instrument antwortet, Widerreden führt, anfängt, sich höchst eigenwillig zu benehmen, das Klavier Gno spielt, ihre vielen, vielen Saiten zum Klingen bringt. Aber es ist Gno, die das Klavier zum Leben erweckt. Erinnere dich an den Altar. Auch er wurde lebendig, als du auf ihm lagst. Nur du hast das bislang geschafft.“
Während ich dem Bischof von Aleppo zuhörte, war er zärtlichst mit meinem Geschlecht beschäftigt. Die Hand eines Knaben. Lange gaben wir uns solchen Erkundigungen hin. Plötzlich, ich lag auf dem Rücken, spürte ich eines der Knabenbeine zwischen meine Schenkel drängen. Und schon lag der Bischof von Aleppo auf mir, nun alles andere als der Körper eines Knaben, dessen dünne Beine, sitzt er auf einem Sessel, nicht zum Boden reichen, ein alles andere als kindliches Geschlecht. Er drang tief in mich ein, gab sich hin, wie ich mich ihm hingab. Schließlich schlief ich mit einem großen Lustgefühl und Glücksempfinden ein. Es war mir, als hörte ich den Bischof von Aleppo sagen: „Einen Himmel gibt es nicht mehr, alles ist ein graues weißes Schneien. Eine Luft gibt es auch nicht mehr, sie ist voll Schnee. Eine Erde gibt es auch nicht mehr, sie ist mit Schnee und wieder mit Schnee zugedeckt ... Und still ist es, warm ist es, weich ist es, sauber ist es ... Das Schneien hat alles Geräusch, allen Lärm, alle Töne und Schälle eingeschneit. Man hört nur die Stille, die Lautlosigkeit, und die tönt wahrhaftig nicht laut. Und warm ist es in all dem dichten weichen Schnee ... Und rund ist es, alles ist rundherum wie abgerundet, abgeglättet. Schärfen, Ecken und Spitzen sind zugeschneit. Was kantig und spitzig war, besitzt jetzt eine weiße Kappe und ist somit abgerundet ...“[9]
Als ich am nächsten Tag aufwachte, die Sonne stand bereits hoch, fand ich mich allein im Bett. Hatte ich alles nur geträumt? Das zerwühlte Bett, vor allem die vielen Spuren von Körperausscheidungen, sagten etwas anderes. Das Gemälde hing noch immer an der Wand. Meine Kleidung lag noch so auf dem Vorleger, wie ich sie abgestreift hatte.
Auf dem Tisch lag ein kleines Billett. Ich öffnete es. Kunstvoll gesetzt in goldenen Buchstaben stand da zu lesen: „Yo, verzeih mir meine nächtlichen Anzüglichkeiten. Du könntest mir Mutter sein, ich dein Vater, Sohn, Bruder, Freund und Diener. Es darf nicht sein. Du hast mich von meinem Fluch erlöst. Wir werden uns nicht mehr sehen. Denk an mich, so wie ich an dich denken werde. Vergiss das Zusammenziehen. Dehne dich aus. Vergiss die Schneedecke, unter der du Trost zu finden hoffst. Mit größter Zuneigung.
Bischof von Aleppo.“


Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] „Eine junge Frau / so blütenweiß und rot / eine junge Frau / die dir gleicht / hab ich nirgends gefunden.“

[2] „Wird die Zeit knapper? Die Zeit wird knapper.“

[3] [Wohl eine Anspielung auf die kabbalistische Vorstellung vom Zimzum, nach der die Erschaffung der Welt ein Zusammenziehen Gottes, einen leeren Raum zur Voraussetzung hatte.]

[4] [„Vertheidigungs-Schrifft Marien Catharinen Cadiere Wider Den Pater Johann Baptist Girard.“]

[5] [Boris Pilnjak, „Im Nebelland“.]

[6] Cecilia Gallerani (1473 – 1536), eine der Mätressen von Ludovico Sforza. Sie war eine gebildete Frau, schrieb Poesie, konnte sich mit den Mailänder Philosophen in lateinischer Sprache unterhalten.

[7] Agatha von Catania, laut Legende wies sie die Brautwerbung des Statthalters Quintianus zurück. Daraufhin ließ dieser ihre Brüste mit Zangen zerreißen, schließlich abschneiden: „Du ruchloser, grausamer und schrecklicher Tyrann, schämst du dich nicht, an einer Frau das zu verstümmeln, woran du selbst bei deiner Mutter gesogen hast? Ich allerdings habe in meinem Innern unversehrte Brüste, mit denen ich alle meine Sinne nähre und die ich von Kindheit an dem Herrn geweiht habe.“ – „Minni di virgini“: sizilianische Süßspeise in Form von Brüsten zu Ehren der Heiligen Agathe. Ähnlich auch das sogenannte Agathenbrot.]

[8] [Hermann Markus Preßl (1939 – 1994), „Finstersonnen“.]

[9] [Robert Walser, Kleine Prosa, 1917.]