HEIMAT
Annäherung an einen schwierigen Begriff in fünfzehn Objekten
Bernhard Kathan
Kröte, Wendland
17. - 28. Mai 2007



weißt du daß die heimat | dein tod sein kann | nicht weil du zurück willst | (diese zeiten sind vorbei) | sondern erlebt hast | daß keiner dich liebt | weißt du daß die heimat | dich töten kann | weil alle dich mögen | du wirst sterben unter ihren erstickenden küssen | du der sie nie liebte | geh fort | doch kehr wieder.
Norbert C. Kaser


Foto: Bernhard Kathan


In einem berühmten Traumfragment von Simone Weil findet sich diese in einer Dachkammer wieder mit einem, der sie Dinge lehren will, von denen sie nichts ahnt. Durch das offene Fenster fällt der Blick auf die Stadt, hölzerne Baugerüste, den Hafen mit den Schiffen: "Es war nicht mehr Winter. Es war noch nicht Frühling. Die Zweige der Bäume waren kahl, ohne Knospen, die Luft kalt und voller Sonne. Das Licht nahm zu, wurde strahlender und schwand, dann traten die Sterne und der Mond ins Fenster. Dann stieg von neuem das Morgenrot herauf. Zuweilen hielt er inne, holte aus einem Schrank ein Brot, und wir teilten es. Dieses Brot schmeckte wirklich nach Brot. Niemals mehr habe ich diesen Geschmack wiedergefunden. Er schenkte mir und schenkte sich Wein ein, der nach Sonne schmeckte und nach der Erde, auf der diese Stadt gebaut ist." Eines Tages wird sie aus der Dachkammer verstoßen, die Treppe hinabgeworfen. Das geteilte Brot, Brot, das wirklich nach Brot schmeckt, das man sonst nirgends findet wie auch die Dachkammer sich nicht mehr finden lässt. Die Dachkammer als verlorene HEIMAT.

HEIMAT meint allemal eine überschaubare Welt. Da die Küche, dort die Kirche mit dem Friedhof. Wer dächte schon an HEIMAT, gäbe es nicht das Fremde, fände man sich nicht in der Fremde oder unter Fremden. In den Phantasmen schrumpft die als bedrohlich erlebte Wirklichkeit, das Fremde und Unübersichtliche, zur Gemütlichkeit einer "Wohnküche" (Ludwig Giesz), zum stimmungsvollen, eindeutig HEIMATLICHEN: It is not real, but it is familiar.

Es treten auf: der Vertriebene, der Rastlose, der Dorfflüchtling, einer, der seine Dachkammer nicht mehr verlässt, sich aber doch in die Fremde wünscht, einer, der in das Dorf seiner Kindheit zurückkehrt, ein Soldat der Wehrmacht, der während des Russlandkrieges einen Reiseführer bei sich trägt, ein Autor, der ein von Heimat- und Fremdenklischees strotzendes Kinderbuch schreibt, dann aber die Erfahrung machen muss, dass auf die HEIMAT kein Verlass ist, eine Kuh, die auf die Rufe eines Bauern in den Stall drängt, sich aber statt am gewohnten Platz im Anhänger eines Metzgers wiederfindet, eine englische Miniaturbibel, 1859 ein Geschenk der East Indian Company an einen gewissen Mr. Davis in Bangalore, seit dem aber durch die Welt irrend wie das Knie in einem von Christian Morgensterns Gedichten: Es ist kein Baum! Es ist kein Zelt! Es ist eine Bibel, sonst nichts. Auch eine Näherin. Mag sie auch an Mann und Kind denken, so wünscht sie sich doch in die Ferne. Weitere Geschichten von Menschen und Dingen. Immer sind sie in Bewegung, wurden sie oder werden sie ihrer Herkunft entrissen, entwurzelt.

Simone Weil beschäftigte sich in ihren letzten Lebensmonaten mit Fragen des entwurzelten Menschen. Sie stellte die Verpflichtung des Einzelnen über seine Rechte: "Ein Mensch für sich betrachtet hat nur Pflichten, unter denen sich gewisse Pflichten gegen sich selbst befinden. Die andern haben, von ihm aus gesehen, nur Rechte. Er wiederum hat Rechte, wenn man ihn vom Standpunkt der anderen aus betrachtet, die ihm gegenüber Verpflichtungen ihrerseits anerkennen. Ein Mensch, der in der Welt allein wäre, hätte nicht ein einziges Recht, aber er hätte Verpflichtungen." In der Spiritualisierung der Arbeit sah sie die entscheidende Voraussetzung einer (Wieder-)Einwurzelung. Arbeit und Bildung sollten sich die Waage halten, das Ganze organisiert in überschaubaren ländlichen Kleinbetrieben mit angeschlossenen Arbeiterhochschulen. HEIMAT: "... Wenn der junge Arbeiter, von Vielem und Verschiedenem gesättigt und erfüllt, nun beabsichtigte, sich festzusetzen, dann wäre er reif für die Einwurzelung. Eine Frau und Kinder, ein Haus und ein Garten, der ihm einen großen Teil seiner Nahrung lieferte, eine Arbeit, die ihn an ein Unternehmen knüpfte, das er liebte, auf das er stolz wäre und das für ihn ein offenes Fenster in die Welt hinein bedeutete - das ist genug für das irdische Glück eines menschlichen Wesens." Heute wird mehr Geld für Bildung gefordert, lebenslanges Lernen sei nötig. Während Simone Weil Bildung als Voraussetzung für die Entfaltung des Einzelnen wie eine humane Gesellschaft sah, dient nun Bildung einzig ökonomischen Interessen. Diese Art von Bildung steht in enger Verbindung zur geforderten Mobilität und Entwurzelung des modernen Menschen. Simone Weil, die Vertriebene, die an HEIMWEH Leidende, starb am 24. August 1943 in Ashford (Kent) an Herzversagen und Lungentuberkulose, nachdem sie sich zu Tode gehungert hatte. Am Begräbnis nahmen nur wenige Personen teil, es fand ohne den Beistand eines Geistlichen statt. Dieser hatte in London (möglicherweise durch einen Fliegeralarm bedingt) den Zug versäumt.


Foto: Bernhard Kathan


Postscript: In diesem Projekt ging ich vom Dorf meiner Kindheit aus. Nun höre ich, dass die Arbeit sehr viel über den Ort Kröte, den ich gar nicht kenne, aussage. Wir sehen also, das HEIMATLICHE ist höchst kompatibel.

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