photo: christian trawöger


Techniken
des Vergessens



Ist eine blinde LIPPENPRODUCTION. Idee & Koordination: Günter Gstrein;
Text: Gisela Steinlechner.
photo folgt tod
Menschen kommen Ihnen auf einem Schneeweg entgegen,
und ihnen ist bei Ihrem Anblick, als sähen sie den Unsichtbaren.
(E.J.)


Auftauen und Verdauen

Die Bildfläche ist ein weißes Schneefeld und der auf ihr Auftauchende ein Insasse, der seinen Ausgang nützt, um endgültig aus allem Inwendigen und Eingesessenen zu verschwinden. Was dabei zum Vorschein kommt, ist eine Figur, ein Fotomotiv, ein Andachtsbild, eine Schreibmetapher.



J.L.: Höchste Fee! Der Tod im Schnee!

R.W.: Passen Sie auf, wir geraten in wüstes Fahrwasser.

Wenn nämlich der Schnee schmilzt, würde die Figur dann nicht auf die Bildfläche hinabsinken, gewissermaßen auf Grund gesetzt werden? Vielleicht auch vom Fahrwasser auf dem Bildgrund hin- und hergeschoben werden? F.B.: - Ja, und da wäre vermutlich eine Art Gehsteig, herausgehoben aus seiner naturalistischen Umgebung, aus dem die Figuren sich herausbewegten, als ob sie Fleisch entstiegen, und zwar Figuren, die, wenn möglich, bestimmte Personen auf ihrem täglichen Rundgang darstellen.

Im Garten vor dem Museum (es ist nicht im Bild) ist eine Figur aufgetaucht, ein Spaziergänger auf seinem täglichen Rundgang, möglicherweise ist er auch schon wieder verschwunden. Stückchenweise, in den Mägen verschiedener Vögel, sein Als-ob-Fleisch hat sich in ein Geschwader fliegender Cassiber verwandelt. E.H.: auch an die Vögel ist gedacht; die in ihren Futterhäuschen das Futter für die Tage der Träume erhalten. Aufnahme in den Wäldern, Fluren und Auen erhalten.

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Während der Insasse in diesem unwiderstehlichen Bild angekommen ist, verschwindet er von den anderen Schauplätzen. In seinem Zimmer (E.J.: Hätte es mich nicht wittern müssen, zurückhalten, als ich in den Schnee hinauswollte?) versinken die Gegenstände, mit denen er umgegangen ist. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Streichholzschachtel, ein Teller.

Man kann in das Futterhäuschen nicht hineingehen, nur von außen hineinschauen (sich sattsehen).
Jemand fragt:
Wie lange wird es dauern, bis das Eis schmilzt?
Bis wieder Blicke getauscht werden?
Bis die Leiche freigegeben wird?

Wir haben Zeit, meine Liebe, mein Lieber.
E.H.: Der Schnee kann auch mit Musikstimmung betrachtet werden.

Inzwischen aber: Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat von den Flaschen aus meinem Gebinde genommen? Wo mich das Eis doch noch gar nicht freigegeben hat. Wo ich doch erst aus meinem eigenen Fleisch herauswachsen wollte, mit Melone und Regenschirm? (F.B.)

Sieht so aus, als würde er weniger, der Spaziergänger. Die Geflügelten verstehen sich aufs Abräumen und aufs Entkernen, in ihren Kröpfchen verschwindet der ganze Christbaumschmuck, das herausgehängte Innere. E.J.: - Soso, eine Göttin soll also für Sie die Arbeit übernehmen und die rauhe Schale Ihres Äußeren endlich durchstoßen? O je, sie ist ja ein wahrer Geier, pickt plötzlich nach der gerösteten Leber auf Ihrem Teller!

Das Samenkorn ist die Anstalt, in der die Blumenkinder zurückgezogen leben.

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Stellvertreter, plastisch

Zum Beispiel die Vogelscheuche: eine der menschlichen Erscheinung nachgebildete Schreckgestalt. Sie soll die zum Fressen Gekommenen, aber nicht Geladenen, vertreiben. An ihren Platz gestellt (gepflockt) vertritt sie den Feldwebel bei der Arbeit. Sein Körper ist durch eine alte Hose und ein im Wind flatterndes Hemd vertreten. Das Knirschen und Klappern loser Materialien vertritt seine Stimme, Habt Acht! raschelt es im Feld. Doch für wen findet das alles statt? Wessen Fantom ist die Vogelscheuche?

Sehen die Vögel im Aufgestellten den Abwesenden? Oder ist der für sie an einem Gestell aufgehängte Schrecken nicht vielmehr jener, der die Menschen anfällt, wenn sie sich in ihren verlassenen Hüllen gegenübertreten. Nimmt doch die auf den ersten Blick erfaßte Leere unter der baumelnden Kleidung unverzüglich und unweigerlich das fantasmatische Dunkel des eigenen uneinsehbaren Körpers in sich auf.
M.M.: I know quite well that back there is only"darkness crammed with organs".

Da, wo bei der Vogelscheuche nichts ist, ist unser Landeplatz, dort sitzen wir unserem eigenen Bildnis auf.

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Stellvertreter, verwandelt

Nichts flattert mehr an der Figur, die losen Hüllen sind ganz und gar in einer kompakten Gestalt aufgegangen. Vögel nehmen auf ihr Platz, angezogen vom Fett und den Körnern zerreißen sie das Bild. Sie fressen sich satt am Augenscheinlichen, dem Futter. Wir befinden uns im Freien,nichts ist hier sicher. R.W.: Man nennt das, glaube ich, Erde, auf dem ich stehe. Ich glaube unsere Magd macht sich nicht viel aus mir. Über mir dieser Himmel.

So greifen Sie doch zu! Machen Sie sich etwas aus der Figur – ein Fotomotiv, einen Popanz, ein memento-mori-Bild. Doch passen Sie auf, wir geraten in ein Leichenbegängnis: hier das Denkmal des Unbekannten Soldaten, dort das Bildnis eines Unbedankten Abtrünnigen oder das eines Aussichherausgewachsenen Unsichtbaren. Man kann sie zurücktragen wie ein Leergut, nur wohin? C.L.: Ein Ei sehen behauptet sich nie in der Gegenwart. ... Wenn man das Ei sieht, ist es schon zu spät: Gesehenes Ei, verlorenes Ei.

Gesehen – Verloren – Gefunden: dafür müßte es doch eine Stelle geben, ein Auffangbecken, das noch nicht übergelaufen ist von Bedeutungen. Dort wollen wir ablegen, bitteschön. Den Hut, den Mantel, die menschliche Gestalt. Eßbar, aber undurchschaubar.


Mitwirkende SprecherInnen:

Elfriede Jelinek: er nicht als er. (zu, mit Robert Walser). Ein Stück. Frankfurt/M. 1988

Jürg Laederach: Roberts Wille. In: W.H.Gass/J.Laederach: Über Robert Walser. Zwei Essays. Salzburg 1997. (Die Metapher des Dichters, der auf eine Schneepapierfläche fällt und sie mit seinem Körper beschriftet, ist unwiderstehlich. So hoch denke ich selber nie.)

Robert Walser in: Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser. Frankfurt/M 1990

Francis Bacon, in: David Sylvester: Gespräche mit Francis Bacon. München 1982. (Ich hoffe Figuren machen zu können, die aus ihrem eigenen Fleisch herauswachsen, mit Melone und Regenschirm, und ich hoffe, sie zu Figuren zu machen, die so ergreifend sind wie eine Kreuzigung.)

Ernst Herbeck: Im Herbst da reiht der Feenwind. Gesammelte Texte. Salzburg 1992

Maurice Merleau-Ponty: The Prose of the World. 1973

Robert Walser: Felix-Szenen. In: Aus dem Bleistiftgebiet. Bd. 3. Frankfurt/M. 1992

Clarice Lispector: Das Ei und das Huhn. In: Die Nachahmung der Rose. Frankfurt/M. 1993



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