Energiewende: Lässt sich Verzicht produktiv sublimieren?




Allgemein ist klar, nur durch eine Abkehr von einem ständig sich beschleunigenden Wirtschaftswachstum werden sich die drohenden globalen Katastrophen vermeiden lassen. Mit Hilfe neuer Technologien, die „grüne“ oder „erneuerbare“ Energien oder einen schonenderen Umgang mit Ressourcen („Kreislaufwirtschaft“) versprechen, lassen sich die Grenzen des Wachstums bestenfalls auf einen späteren Zeitpunkt verschieben, nicht aber außer Kraft setzen, wissen wir doch längst, dass es keine wirklich „grüne Energie“ gibt, dass es seltener Erden bedarf, dass auch neue Technologien mit einem Verbrauch an Naturlandschaften einhergehen, dass die bestorganisierte Kreislaufwirtschaft kein Nullsummenspiel ist. Allein mit Hilfe neuer Technologien, so hilfreich sie sein mögen, werden sich die Probleme nicht lösen lassen. Vielmehr muss das gesellschaftliche Zusammenspiel neu gedacht werden.

Gefordert wären Mußegesellschaften. In der Geschichte der Menschheit mangelt es nicht an diesbezüglichen Modellen. Die Puyuma, eine kleine indigene Gesellschaft Taiwans, konnten das Fällen eines großen Baumes oder eine übermäßige Entnahme von Holz aus einem Wald als Krankheitsursache betrachten. Werden heute solche Bilder bemüht, dann haben wir es mit Ökokitsch zu tun, zumal solche Beispiele, herausgelöst aus komplexen Lebenswelten, dank ihrer Verhäuslichung nicht den geringsten Aussagewert besitzen und in keinster Weise mit unserem Handeln in Einklang zu bringen sind. Wir leben nicht mehr in Wäldern wie denn auch unsere Naturvorstellungen vor allem eine grundlegende Entfremdung von der Natur belegen, ganz abgesehen davon, dass es „die Natur“ so gut wie nicht mehr gibt, ist „die Natur“ doch längst vermessen, bewirtschaftet, zumindest aber menschlichen Einflüssen ausgesetzt. Wenn wir etwas von früheren oder anderen Gesellschaften lernen können, dann gilt es Vordergründiges, gemütlich Stimmendes, außer acht zu lassen und sich auf gewisse Strukturelemente, die ein bestimmtes Handeln zur Voraussetzung haben oder ermöglichen, zu konzentrieren, wobei es reichlich naiv wäre anzunehmen, technologische oder ökonomische Tatsachen ließen sich einfach aufheben oder negieren.

Um manches anders zu betrachten, können uns andere gesellschaftliche Modelle nützlich sein. Als illustres Beispiel sei die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit genannt, die den größten Teil ihrer Zeit in Schönheit investierte, in das Schreiben von Briefen und Gedichten, in bunteste Aufführungen von Tänzen und in die Gestaltung von Gartenanlagen. In der höfischen Welt von heian-kyō, dem späteren kyōto, der „Stadt des Friedens und der Ruhe“, sollen Kunst und Sitten eine außerordentliche Verfeinerung erfahren haben. Wie auf einer Insel der Seligen führten die Höflinge ein sorgloses Leben von Anmut und Schönheit. Statt unser Leben mit sinnlosem Tun zu verbringen, immer Neuem hinterherzujagen oder Abfallberge aufzutürmen, könnte auch all unser Streben der Kunst, der Differenzierung unserer Sinne und großartigen Vergnügungen gelten. Die technologischen Mittel, die uns heute zur Verfügung stehen, erlaubten es uns, ein ähnlich luxuriöses Leben zu führen wie die höfische Gesellschaft der Heian-Zeit, und dies ohne anderen abgepresste Arbeit. Es bedürfte nur weniger Arbeitsstunden in der Woche, um sich in einem weit behaglicheren Leben einzurichten. Bedauerlicherweise können wir uns, da sich die Höflinge in einer geradezu grotesk anmutenden hierarchischen Struktur bewegten, diese Gesellschaft nur bedingt zum Vorbild nehmen. Es gab zahllose Ränge, die alle ihre Farben kannten und die jedem seinen Platz zuwiesen. Konkurrenz und die Angst vor einem gesellschaftlichen Abstieg prägten das Leben. Nicht zuletzt wurde dieses durch zahllose Tabus bestimmt, die im Gegensatz zu allen anderen Behauptungen ein wirklich geselliges Miteinander nahezu unmöglich machten. Und was schließlich die Produktion von Schönheit betrifft, so war diese, sieht man von Frauen wie Sei Shonagon oder Murasaki Shikibu ab, die die Literatur in bemerkenswerter Weise erneuerten, am Ende der Heian-Zeit in hohlen Konventionen erstarrt. Ihre artifiziellen Gartenlandschaften gaben vor, Natur zu sein, waren aber genau das nicht. Die Höflinge hatten aller Betonung von Betrachtung zum Trotz einen tiefen Abscheu vor dem wirklichen Leben. Undenkbar war es in einem der Gärten Reis anzupflanzen, wäre damit doch anerkannt worden, dass Nahrungsmittel nicht einfach vorhanden sind, sich vielmehr menschlicher Arbeit verdanken. Und so erstaunt es nicht, dass sie dem Untergang ihrer Welt, die sich über einige Jahrhunderte als höchst stabil erwiesen hat, übrigens wähnten sie sich nicht anders als wir in einer Endzeit, nichts entgegenzusetzen hatten.

Drehen wir also auf der Suche nach einem anderen Modell den Globus. Mein Blick fällt auf Patagonien und einstmals hier lebende indigene Gesellschaften wie die Selk‘nam. In einem krassen Gegensatz zur höfischen Gesellschaft der Heian-Zeit kannten die Selk‘nam bestenfalls flache Hierarchien, wobei sich Prestige weder Besitz noch Herkunft, sondern einzig erworbenen Kompetenzen verdankte. Ihr Leben und Überleben basierte in hohem Maß auf Kooperation wie beachtlichen Anpassungsleistungen an eine höchst unwirtliche Umwelt. Auch sie kannten erstaunliche kulturelle Leistungen und wussten in Schönheit zu investieren. Dabei fragte sich Darwin noch, ob die Feuerlandindianer den Tieren oder den Menschen näher stünden: „Ich habe nichts gesehen, was mich mehr in Erstaunen gesetzt hätte als der erste Anblick eines Wilden. Es war ein nackter Feuerländer. Sein Gesicht war mit Erde beschmiert. Auf einem Felsen stehend stieß er Töne aus und machte Gestikulationen, gegen welche die Laute der domestizierten Tiere weit verständlicher sind.“ Darwin sah in ihnen, obwohl er, auch was Soziales betrifft, ein guter Beobachter war, „die verächtlichsten und elendsten Geschöpfe“ und meinte, man könne sich kaum zum Glauben durchringen, dass sie unsere Mitgeschöpfe und Bewohner der gleichen Welt seien. „Beschmieren“ tun sich Kinder oder geistig Verwirrte. Darwin vermochte nicht zu sehen, dass es sich bei den Ornamenten, die die Selk‘nam auf ihre Körper auftrugen, um komplexe Zeichensysteme handelte, in denen das Mythologische wie Soziale gleichermaßen zum Ausdruck kam. Von einer ähnlichen Ignoranz geleitet, setzten weiße Viehzüchter Kopfprämien aus und zahlten 1 Pfund Sterling für jeden Abschuss eines Feuerlandindianers. Die Abrechnung erfolgte mittels abgeschnittener Ohren. Das Londoner anthropologische Museum soll gar bis zu acht Pfund für einen Kopf bezahlt haben.

So unterschiedlich die beiden hier erwähnten Gesellschaft gewesen sein mochten, so kennen sie doch eine Schnittmenge, sei es, was den Umgang mit Zeit, Mangel, Verzicht, Hitze oder Kälte etc. betrifft. Mühelos ließe sich etwa zeigen, dass wir es da wie dort mit ganz anderen Vorstellungen eines Wärmehaushaltes zu tun haben als wir sie kennen. Wenn sich etwas lernen lässt, dann anderes: Die Transformation unserer Gesellschaft in eine Mußegesellschaft kann nur gelingen, lässt sich der abverlangte Verzicht produktiv sublimieren. Wirtschaftswachstum wie Konsum lassen sich nicht einfach reduzieren, hätte dies doch vielfältigste Konflikte und gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge, wovon die Pandemie oder die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine eine Vorstellung geben. Man denke an die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, an Verteilungskämpfe oder auch an psychische Krisen. Konsum kommt in unserer Gesellschaft eine zutiefst stabilisierende Funktion zu wie denn auch Identität eng mit Konsum verknüpft ist. Der geforderte Verzicht muss also eine Kompensation erfahren. Es mag sich platt anhören, schreibe ich, statt in Konsum müsse in Schönheit investiert werden. Letztlich wird es keinen anderen Ausweg geben, wobei klar ist, dass sich solches nicht einfach verordnen lässt, dass es …, dass es …, dass es etwa eines anderen Bildungssystems bedürfte, dass die Aufmerksamkeit statt dem Fernen wieder mehr dem Naheliegenden gelten sollte.

Was Schönheit in ressourcenschonenden Gesellschaften betrifft, ließe sich ein weiter Bogen spannen. Subsistenzwirtschaftliche Gesellschaften, so sie nicht in absolutes Elend abgesunken waren, wussten in Schönheit zu investieren. Man denke an eine Ornamentik, in der gerade die Leerstelle, die Auslassung zum Ornament wurde, an eine Ornamentik, die oft genug ein Nebenprodukt notwendiger Arbeit war, an eine Ornamentik, die sich dem Zusammenspiel vieler verdankte. Betrachtet man Gesellschaften, die einen schonenderen Umgang mit Ressourcen kannten, dann lassen sich einige Gemeinsamkeiten feststellen: Privateigentum bildete keine oder keine bedeutende Rolle, sie kannten flache Hierarchien und somit auch nur geringe Einkommensunterschiede, soziale Rollen waren weitgehend vorgegeben, dem Gemeinschaftlichen wurde mehr Bedeutung beigemessen als dem Individuellen, und nicht zuletzt waren religiöse Vorstellungen wie entsprechende kultische Praktiken mit ihren Tabus von größter Bedeutung. Wir haben es also mit Gesellschaften zu tun, die unserer Welt geradezu diametral entgegengesetzt sind. Wir leben in einer anderen Welt, haben andere Bedürfnisse, andere Möglichkeiten, sind von anderen Ängsten getrieben.

Festhalten lässt sich: Soll der Energie- bzw. Ressourcenverbrauch deutlich verringert werden, so müsste in symbolische Mehrwerte, die nicht an Konsum und nur bedingt an Geld geknüpft sind, investiert werden. Ein SUV mag zwar als Fortbewegungsmittel sinnlos sein, aber in unserer Gesellschaft kommt ihm die wichtige Funktion zu, vermeintliches oder erworbenes Prestige zum Ausdruck zu bringen. Dass das ökologisch betrachtet höchst problematisch ist, braucht hier nicht weiter ausgeführt werden. Genaugenommen ist ein SUV als Kompensationsleistung für abverlangte Verzichte zu betrachten, ist es doch sehr anstrengend, sich zu Tode zu rackern, ständig in der Welt herumzufahren, andere bestmöglich übers Ohr zu hauen und Leistungsvorgaben zu gehorchen.

Im Zuge der Ökonomisierung des Gesundheitswesens wurden Pflegeberufe zu „Jobs“. Heutige Pflegekräfte haben zumeist einen akademischen Abschluss, gingen aber der gesellschaftlichen Anerkennung, den ihnen ihre Tätigkeit einstmals gewährte, weitgehend verlustig, was insbesondere in der durchschnittlich kurzen Verweildauer im Beruf zum Ausdruck kommt. Schönheit im Sinne einer gelungenen Interaktion ist da nicht mehr gefragt, gilt es doch von Programmen vorgegebene Leistungen fließbandmäßig abzuarbeiten. Unlängst erzählte mir eine längst pensionierte Physiotherapeutin von einem Kind, das abgesehen von einem gesunden Arm mit verkrüppelten Gliedmaßen zur Welt kam. Um dem Kind die Erfahrung einer lustvollen Bewegung zu ermöglichen, sei sie mit diesem regelmäßig ins Schwimmbad gegangen. Da das Kind panische Angst vor dem Wasser gehabt habe, habe sie sich mit ihm stets nur an den Beckenrand gesetzt. Erst nach einem Jahr habe es seine Scheu verloren. Kaum im Wasser, von ihren Händen getragen, habe das Kind lustvoll und laut zu singen begonnen. Als sie mir das erzählte, brach sie in Tränen aus, obwohl diese Erfahrung sehr lange zurück liegen muss. Mit keiner Fernreise, mit keinem noch so großen Auto, ließe sich so eine Erfahrung aufwiegen, die in unserer heutigen Arbeitswelt vollkommen undenkbar ist.

Solches lässt sich für viele andere Berufe sagen. Es ist noch gar nicht so lange her, da konnte der Innhaber einer Fleischerei eine angesehene Persönlichkeit sein. Wer will denn heute noch Metzger werden? Die Kinder von bürgerlichen Fleischereien haben studiert, wurden Rechtsanwälte, Betriebswirtschaftler oder Psychotherapeuten. Undenkbar wäre es für sie wie ihre Großväter und Väter Schweine oder Rinder zu zerlegen oder gar Kunden zu bedienen. Ich kaufe Fleisch in einer kleinen Metzgerei, in einer der wenigen noch verbliebenen Metzgereien. Ganz abgesehen davon, dass das hier angebotene Fleisch von Bauern der Umgebung stammt oder dass man bestens auf die Zubereitung eingestimmt wird, kann man, vor einer Vitrine stehend, in der neben vielem anderen noch Schweinsfüße und Kalbszungen liegen, dem Metzger dabei zusehen wie er mit gekonnten Bewegungen das gewünschte Fleisch auswählt und kunstfertig herrichtet. Kaufen wir vakuumiertes Fleisch in einem Supermarkt, dann bietet sich dieses nach dem Öffnen als bluttriefender Klumpen an. Dagegen ist hier das Fleisch mit gut abgehangen und zeigt seine ganze Struktur. Während dort alles stumm ist, wird hier gesprochen, kommentiert, oft auch erzählt. Dann trägt der Metzger keine Plastikhandschuhe, weiß er doch, dass solche wenig mit Hygiene, viel dagegen mit jenem Unbehagen zu tun haben, das mit heutigen Produktionsformen einhergeht. Keinesfalls haben wir es mit einem Konsumakt zu tun, in dem man als Konsument einer ähnlichen Bewirtschaftung unterliegt wie die angebotenen Waren. Man kennt sich, man unterhält sich. Auf jeden Fall bildet so eine Metzgerei eine Schnittstelle zwischen Produzenten und Konsumenten. Ist in dem Geschäft nicht sehr viel los, dann kann man den Fleischhauer sehen wie er sich auf der Straße oder in einem der Nebengeschäfte, die es alle in wenigen Jahren nicht mehr geben wird, unterhält. Da wird nicht einfach nur Fleisch zerlegt und verkauft. Wir haben es buchstäblich mit einem sozialen Raum zu tun, der nicht zuletzt von nachbarschaftlicher Kooperation lebt. Da klingt das an, was ich mit Schönheit meine. Gelobt seien gute technische Lösungen, aber ohne Rückbindung in das Soziale, das konkrete Leben der Menschen, kann es keine Schönheit geben. Das gilt für Nahrungsmittel wie Fleisch, für Holzbauten und vieles andere.

Eine Supermarktkette pflegt all ihre Filialen nach ein und demselben Grundmuster zu errichten. So lassen sich nicht nur Kosten sparen, was Planung wie Logistik interner Abläufe betrifft. Es scheint auch dem Bedürfnis der Kunden nach Orientierung entgegenzukommen. In jeder dieser Filialen ist im Kassenbereich eine große Spiegelfläche zu sehen. Dabei denkt kein Mensch daran, sich in einem Supermarkt schön zu machen, was auch gar nicht möglich wäre, ist man an der Kassa doch damit beschäftigt, Waren auf das Band zu legen und in der Warteschlange nachzurücken. Was als Spiegel wahrgenommen wird, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Einwegscheibe, die Beobachtung erlaubt, ohne dass sich die Kunden dessen bewusst sind. Jene, die an der Kassa sitzen, wissen darum. Da hängt nicht einfach ein Spiegel an einer Wand. Hinter diesem Spiegel gibt es gar keine Wand, nur eine große Fensteröffnung, von der aus durch eine Einwegscheibe der gesamte Kassenbereich einsehbar ist. Die Angestellten sollen sich doch selbst dann beobachtet fühlen, wenn sich hinter der Einwegscheibe, im Büro des Filialleiters oder der Filialleiterin, gar keine Person befindet oder diese mit ganz anderem beschäftigt ist. Es lohnt sich, auf scheinbare Kleinigkeiten wie das Schuhwerk zu achten, wobei die robusten über die Knöchel reichenden Wanderschuhe, alle Angestellten tragen dasselbe Schuhwerk, nicht nur die anstrengende Arbeit deutlich machen, sondern darauf verweisen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, denen Mobilität abverlangt wird. Wie an allen Nicht-Orten haben wir es mit einer radikalen Entmischung zu tun, die nicht zuletzt ihren Ausdruck dort findet, wo Unterhaltungen zwischen Kunden nur im Konfliktfalle vorkommen, etwa dann, drängt sich ein Kunde oder eine Kundin in einer Warteschlange vor. Latent sind die Kunden als Konkurrenten organisiert, was zu Beginn der Pandemie, man denke an leergeräumte Klopapierregale, deutlich zum Ausdruck kam. Den Menschen, vor allem Frauen, die an einer Kassa sitzend Stunden lang dieselben Bewegungen machen, wird so etwas wie ein symbolischer Mehrwert ihrer Arbeit nicht zugestanden. Als Arbeitskräfte sind sie nicht anders kalkuliert als all die Waren, mit denen sie zu tun haben, nur dass es sich eben um Menschen handelt, die sich nicht einfach stapeln lassen, sondern ohrenstöpselbewehrt einmal diesen, dann jenen Direktiven zu folgen haben. Nach Schönheit wird man hier vergeblich suchen. Und es versteht sich von selbst, dass eine solche Arbeit, die keinen oder nur einen geringen symbolischen Mehrwert bietet, nach symbolischen Kompensationen schreit, die sich in der Regel nur durch Konsumakte befriedigen lassen, durch Fernreisen etwa, die ähnlichen Gesetzen gehorchen wie die Abläufe in einem Lebensmitteldiskontmarkt. Ich gab dem erwähnten Fleischhauer die auf ihn bezogenen Zeilen zum Lesen. Zuerst reagierte er verängstigt, fürchtete, ich könnte schlecht über ihn geschrieben, etwa mangelnde Hygiene oder anderes kritisiert haben, ihm also die letzten Reste seines Stolzes rauben. Als ich ihn zwei Wochen später wieder traf, meinte er, so etwas habe noch nie einer zu ihm gesagt. Er habe die Zeilen gleich seinen Kindern vorgelesen. Auf einem Tablett in der Vitrine lagen, schön angerichtet, zwei Nieren und das Herz eines Lammes. Darauf angesprochen meinte er, drei Jahre habe seine Lehre gedauert, zwei Jahre habe er als Gesell gearbeitet, dann die Meisterprüfung gemacht. Da müsse man schon etwas können, auch etwas von Schönheit verstehen.

Wie weit wir von ressourcenschonenden Gesellschaften entfernt sind, zeigt sich nicht zuletzt in unserer Architektur. Ich denke diesbezüglich weniger an verschwenderisch verbrauchten Beton, an Wohnräume, die weniger zum Wohnen als zum Lagern von Angehäuftem dienen, sondern an die Betonung des Individuellen mit all den Abgrenzungen, die dem Gemeinschaftlichen entgegenstehen. Besonders all die Agglomerate von Einfamilienhäusern, in denen gemeinschaftlich genutzte Flächen so gut wie unbekannt sind, machen dies offensichtlich. In ressourcenschonenden Gesellschaften überwiegen dagegen allgemein genutzte Flächen. Allein mit einer geringen Verschiebung hin zum Gemeinschaftlichen ließen sich nicht wenige Windräder oder Votovoltaikanlagen einsparen. Bekannte in meinem Umfeld, denen es gelingt, durch ihr Tun symbolische Mehrwerte zu generieren, nicht wenige von ihnen engagieren sich in gemeinschaftsorientierten Projekten, scheinen kaum auf symbolische Äquivalente angewiesen zu sein. Einer meiner Freunde engagiert sich in Uganda in diversen Schulprojekten. Ein großes Auto ist ihm kein Bedürfnis. Eine große Befriedigung empfindet er dagegen, ist es ihm gelungen, gemeinsam mit anderen ein Projekt angestoßen zu haben, das von ehemaligen Schülern weiterentwickelt wird, ein Projekt, das nicht nur der Versorgung der lokalen Bevölkerung mit Trink- und Brauchwasser dient, sondern auch noch Arbeitsplätze bietet und Schüler zu Experten macht. Dagegen muss ich an einen Arzt denken, der letzthin meinte, als Arzt müsse man ein großes Haus in einem Speckgürtel haben mit allem was dazugehöre. Das empfinde er schon fast als eine Art Zwang.

In Stadtnähe konnte ich während meiner Spaziergänge die Errichtung von gleichförmigen Fertigteilhütten in einer größeren Kleingartenanlage beobachten. Kaum waren die Parzellen durch Maschendrahtzäune abgeteilt, wurden die Drahtgitter durch Folien oder hölzerne Sichtblenden ergänzt. Um sich vor Blicken der Nachbarn abzuschirmen wurden Hecken gepflanzt, vorwiegend Thuje und Kirschlorbeer. Grundlegend lässt die waben- oder zellenartige Anordnung an ein Gefangenenwesen denken. Wie heißt es doch auf der Internetseite des Anlagenbetreibers: „Fertig eingezäunt, mit Gartenhaus nach allen rechtlichen Möglichkeiten und in höchster Qualität. Sicher gebaut auf eigenem Fundament. Gedämmt nach unten und oben! Wasseranschluss in jedem Schrebergarten mit eigenem Zähler und genauer Abrechnung! Keine Vereinsverpflichtung! Mindestens 10 Jahre Mietsicherheit, gerne aber auch länger möglich! ... Jede Möglichkeit des Zubaus nach österreichischem Kleingartengesetz! Unterschiedliche Parzellengrößen zur Miete, ganz nach Ihren Bedürfnissen! Verschiedenste Finanzierungsmodelle für Ihren Gartentraum auf Anfrage! ...“

Es hätte nur einer gewissen Planung bedurft, um die Häuschen flächensparender zu setzen, und sei es, dass je zwei oder je vier Wand an Wand aneinander gefügt worden wären. Das ginge schon allein deshalb nicht, da sich dann die Mieter der nach Norden ausgerichteten gegenüber den nach Süden ausgerichteten benachteiligt fühlten hätten, fiele doch in ihren überdachten Vorraum kein Sonnenlicht. Aus diesem Grund wurde jedes der Fertigteilhäuschen freistehend errichtet, auf den kleinen Parzellen zwar nicht zentriert, aber doch unter Einhaltung der nötigen Abstandsgrenzen. Hinter jedem der Hüttchen blieb nur ein schmaler, nicht wirklich benutzbarer Streifen. Inzwischen haben die gepflanzten Hecken nicht nur eine Höhe von zwei oder mehr Metern erreicht, sie sind auch in die Breite gegangen, was die Freifläche auf einen kleinen Auslauf reduziert. Jeder erfülle sich seinen Gartentraum! Dabei fehlt so gut wie alles, was einen Garten ausmacht. Die verfügbaren Flächen sind viel zu klein, um etwa Gemüse anzupflanzen. Auch macht der Schatten, den die Hecken werfen, das so gut wie unmöglich. Die Menschen treibt es hinaus ins Grüne. Dabei erfüllen sie sich ihren Gartentraum in fabrizierter Natur. Um es mit Lewis Mumford zu sagen: „Der alte paläolithische Herd ist ein Hinterhof-Picknick-Grill geworden, wo, umgeben von Plastikvegetation, maschinell gefertigte Frankfurter auf offenem Feuer gebraten werden; dieses wird mit gepressten Holzkohlenbriketts genährt, die von einem mit Kabel an eine weit entfernte Steckdose angeschlossenen Glühkörper zur Entzündung gebracht werden, während die versammelte Gesellschaft auf dem Fernsehschirm oder auf einer Filmleinwand den Bericht über eine Reise durch ein afrikanisches Großwildreservat verfolgt.“ Mumford notierte das in den 1960er Jahren.

In so einer Anlage verdankt sich alles dem Konsum. Angefangen von den gemieteten Flächen über die Fertigteilhäuschen, die Bepflanzung bis hin zur Möblierung, wir haben es einzig mit Massenprodukten zu tun. Selbst das vermeintlich Individuelle ist an Kaufakte gebunden. Man kann sich für Kirschlorbeer und gegen Thujen entscheiden. Menschen, die sich einen solchen Schrebergarten leisten, treten als Kunden auf und stehen somit zu ihren Nachbarn in einem Konkurrenzverhältnis. Gemeinschaftliches Tun ist nahezu ausgeschlossen. Bezeichnend sind Trampoline oder aufblasbare Schwimmbecken, die neben einigen der Häuschen zu sehen sind. Dabei wäre es ein Leichtes, etwa für Kinder gemeinsame Flächen zu schaffen. Dann bräuchte es nur ein einziges Trampolin und ein einziges aufblasbares Schwimmbecken. Obwohl unmittelbar an ein Siedlungsgebiet grenzend, hat jedes Häuschen seine eigene Photovoltaikanlage (Licht, Stromsparkühlschrank, Akkugeräte, Radio, TV, große Flachbildschirme, Internet, kleine Pumpen, etc ...). Umweltfreundlich ist das auf keinen Fall. Umweltfreundlich wäre es bestenfalls dann, würde der überschüssig produzierte Strom in ein Netz eingespeist, was auch die Speicherung mittels Batterien überflüssig machen würde. Rechnete man die individuell montierten Solarpaneele zusammen, es ergäbe sich die Leistung eines Kleinkraftwerks. Ins Netz eingespeist, würde sich die Investition innerhalb weniger Jahre rechnen und mit den Einnahmen ließen sich gemeinschaftliche Vorhaben realisieren. Aber wie es so mit Gefangenen ist, sie wollen die Kontrolle über alles haben.

Als Kontrast zu dieser Anlage erstreckt sich in unmittelbarer Nachbarschaft ein von Kleingärtnern organisiertes Gartenprojekt. Der Gegensatz könnte nicht größer sein. Hier fehlen Hütten und Verbarrikadierungen. Zwar ist das Grundstück durch einen einfachen Zaun nach außen abgegrenzt, aber um Sichtschutz geht es nicht. Diesem Zaun kommt nur eine symbolische Funktion zu. An Hecken hat hier niemand gedacht. Man will sich andere nicht vom Leib halten, sondern im Gespräch sein, sich austauschen. Es gibt weder einen Wasseranschluss, nicht einmal eine Photovoltaikanlage. Statt Häuschen bestenfalls Überdachungen für kälteempfindliche Gewächse, errichtet aus einfachsten Materialien wie Stangen und Plastikplanen. Diese temporären Bauwerke können auch dazu dienen, Werkzeuge zu lagern, Regenwasser aufzufangen oder, sofern sie etwas größer sind, als Unterstand bei schlechtem Wetter. Hier wird nicht die Stadtwohnung ins Grüne verlagert, sitzt niemand vor dem Internet oder einem Fernsehschirm. Es werden zwar auch Blumen gepflanzt, Sonnenblumen etwa, aber im wesentlichen sind Nutzpflanzen zu sehen, Bohnen, Kürbis, Salate, Mais, Tomaten, Pfefferoni, Gurken, Kartoffeln. An eine Rasenfläche hat hier niemand gedacht. Während wir es dort mit einer Art Garagierung von Menschen und menschlichen Bedürfnissen zu tun haben, bildet diese Gartenanlage ein höchst organisches Ganzes, in dem Wechselwirkungen, ganz gleich ob es sich um Pflanzen, Gärtner oder Gärtnerinnen handelt, große Beachtung geschenkt wird. Es wird getauscht, ausgeliehen, abgegeben, auch Erfahrungswissen. Manche der Gärtner, unter ihnen einige mit türkischen Wurzeln, verfügen offensichtlich über viel Erfahrung. Bei ihnen spielt Vorratswirtschaft noch eine gewisse Rolle wie auch unübersehbar ist, dass nicht wenige von ihnen bäuerlichen Familien entstammen, was allein schon ihr völlig anderes Verhältnis zu Materialien wie Stangen oder Mist deutlich macht. Dort Uniformität, die sich trotz allen Bemühens, dem fraglichen Gartenidyll einen individuellen Anstrich zu geben, nicht tilgen lässt, hier dagegen eine geradezu verschwenderische Vielfalt. Dabei ist diese Art der Gärtnerei nur zu einem geringen Teil mit Kaufakten verbunden.

Mit Menschen, die sich in der gewinnorientierten Kleingartenanlage eine Parzelle gemietet haben, komme ich so gut wie nie in ein Gespräch. Dem stehen Verbotstafeln entgegen, Hecken und Zäune, hinter denen Menschen verschwinden, sich abschotten. Es soll, ließ ich mir sagen, viel Streit geben, vor allem der Parkplätze wegen. Das ist nur zu verständlich, wird doch jede Nachbarschaft schnell zur Störung. Man beklagt den Lärm von Rasenmähern oder anderer Geräte, ohne im Geringsten daran zu denken, dass der eigene Rasenmäher von anderen gleichfalls als Störung erlebt werden kann. Ganz anders ist es mit den Gärtnern und Gärtnerinnen des Gemeinschaftsgartens. Das verdankt sich ihrem Tun und den dadurch gesammelten Erfahrungen. Worüber könnte man sich mit Konsumenten schon unterhalten? Bestenfalls darüber, das da oder dort Gekaufte entspreche nicht den Erwartungen, sei woanders billiger zu haben oder enttäuschend. Anders ist es, hat man es mit leidenschaftlichen Gärtnern zu tun. Da kommt man schnell in ein Gespräch, zumal sie alle ihre eigenen Erfahrungen machen, sei es mit der Tomatenfäule, Blattläusen oder anderem. Man kann sich über einzelne Gewächse unterhalten, um Saatgut bitten oder solches tauschen, andere bitten, während einiger Tage Abwesenheit die Setzlinge zu gießen. Der Austausch findet auch noch auf ganz anderen Ebenen statt. Manche setzen auf bio, andere haben dagegen kein Problem mit Kunstdünger. Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten treffen aufeinander. Löst sich das Tun dagegen in eine einzige Abfolge von Konsumakten auf, wird das Individuelle über das Gemeinschaftliche gestellt oder dieses weitgehend unmöglich gemacht, dann mangelt es an sinnstiftenden Erfahrungen.

Dort eine extreme Entmischung, die bereits die Architektur deutlich macht, hier dagegen Durchmischung und Durchlässigkeit auf vielen Ebenen. Kürbisse und Gurken mäandern auf benachbarte Flächen. Kinder laufen herum. Am Ende des Grundstücks fließt ein kleiner Bach vorbei. Hier hat sich eine Wasserstelle gebildet. Wer immer dort mit einer Gießkanne oder einem Kübel Wasser aus dem Bach schöpft, muss Gärten anderer durchqueren. Wohl oft Anlass zu Unterhaltungen, und zwar Unterhaltungen sehr unterschiedlicher Menschen. Menschen mit Migrationshintergrund können auf solche treffen, die hier aufgewachsen sind.

Die Kleingärtner müssen sich verständigen. Und wie es scheint, nehmen sie sich den Garten zum Vorbild, in dem eben vieles nebeneinander seinen Platz haben kann. Rücksichtnahme ist gefordert, nicht das Behaupten irgendwelcher Rechte. Ohne dass es eine Vereinsstruktur gäbe, fällt ein gewisser Grad an Selbstorganisation auf. Im Gegensatz zur anderen Straßenseite wird hier sehr vieles improvisiert. Von den folienbespannten Gewächshäusern sind die wenigsten wintertauglich. In der Regel müssen sie, da es sich um eine höchst temporäre Architektur handelt, jedes Frühjahr neu errichtet werden, und zwar aus einfachsten Materialien. Nicht selten finden dabei Abfälle Verwendung, die sich auf Baustellen oder andernorts finden. Auf der einen Seite der Straße riesige Apparate zum Grillen wie sie in Baumärkten erhältlich sind. Auf der anderen sieht man bestenfalls zwischen den Beeten ein kleines Feuer, über dem sich jemand einen Kaffee kocht. Auffallend auch: Dort fällt viel Mull an, hier dagegen wenig. Dort sorgt der Betreiber der Anlage zweimal jährlich für die Entsorgung des Grünschnitts, hier werden Gartenabfälle wieder in die Erde eingearbeitet. Ein Garten verlangt einem eine gewisse Demut ab, schon allein deshalb, weil das Schöne eines Gartens höchst vergänglich ist und uns an die Vergänglichkeit unseres eigenen Lebens gemahnt. Pfingstrosen brechen auf, und schon nach wenigen Tagen ist es mit der Blütenpracht zu Ende. Man sollte sich im Leben wie in der Kunst den Garten zum Vorbild nehmen, ins menschliche Tun übersetzt, nicht an die Ewigkeit denken, sondern anlassbezogen arbeiten. Etwas kurz aufleuchten, dann aber wieder verlöschen lassen. Solches werden die Mieter einer gewinnorientierten Kleingartenanlage wohl nie verstehen, steht doch hier das Trennende über dem Verbindenden.

Ich fürchte, meine Überlegungen zu symbolischen Mehrwerten, die generiert werden müssten, werden ein Gedankenspiel bleiben. Unaufhaltsam bewegt sich das monströse Schiff auf einen Eisberg zu. Es wird sich nicht stoppen lassen. Wir haben es mit einer Eigendynamik zu tun, die sich weder jemand ausgedacht hat, noch jemand in der Lage ist zu kontrollieren. Joseph Conrad hat dies in einem dichten Bild vorweggenommen: Diese Maschine habe sich, so schreibt er, „aus einem Chaos von Eisenschrott entwickelt, und siehe da! – sie strickt. Ich bin entsetzt und erschreckt über die fürchterliche Arbeit. Ich bin der Ansicht, dass sie sticken sollte, aber sie strickt weiter ... Und der wirklich bestürzende Gedanke ist, dass das abscheuliche Ding sich selbst gemacht hat, ohne Plan, ohne Augen, ohne Herz. Ein tragischer Zufall – und er ist geschehen. Man kann sich nicht einmischen. Der letzte Tropfen Bitterkeit ist der Verdacht, dass man die Maschine nicht einmal zerschlagen kann .... Sie strickt uns ein, und sie strickt uns aus. Sie hat Zeit, Raum, Schmerz, Tod, Verderbnis, Verzweiflung und alle Illusionen gestrickt – und nichts ist wichtig. Aber ich gebe zu, dass es bisweilen amüsant ist, dem erbarmungslosen Prozess zuzuschauen.“

Konsum hält die Welt in Gang, ökonomisch wie mental. Bezeichnenderweise wird in Debatten zum Klimawandel der Kapitalismus in all seinen heutigen Spielarten nur selten in Frage gestellt, und wenn, dann bleibt das Soziale wie vieles andere weitgehend ausgeblendet. Sprechen wir von Ressourcen, dann denken wir an Metalle, seltene Erden, Rohöl und dergleichen. Dabei verschüttet die geltende Ökonomie sehr viele andere Ressourcen, unter denen nicht zuletzt vielfältigstes Erfahrungswissen und soziale Kompetenzen zu nennen sind. Sollen wir uns damit trösten, dass so gut wie alle Kulturen, die uns heute bezüglich eines schonenderen Umgangs mit Ressourcen modellhaft sein könnten, mehr oder weniger verschwunden sind?

Es gibt keinen Ausweg. Man blicke sich um. Am rechten Nebentisch unterhalten sich zwei über ein gewinnträchtiges Geschäft, über Container, Häfen, Logistik, Lieferzeiten und dergleichen, am linken Nebentisch geht es um Karrieremöglichkeiten da oder dort. Das Naheliegende scheint abhanden gekommen. Wir lügen uns alle in die Tasche. Konsum ermöglicht uns jeden Selbstbetrug. Schafft man sich einen schweren SUV an, dann kann man ihn mit bestem Wissen und Gewissen fahren, ist er nur elektrobetrieben. Hat man eine Fotovoltaikanlage am Dach, dann lässt sich ein ganzjährig beheizter Whirlpool in den Garten stellen. Ist doch schön, sich nach Einbruch der Dunkelheit, wenn das Farbenspiel besonders zur Geltung kommt, womöglich bei Schneefall, sich von Wasserstrahlen durchmassieren zu lassen. Kauft man Bio, dann kann man sich in das nächste Flugzeug setzen, um ein Wochenende in Mailand zu verbringen. Es genügen bereits einige Bücher aus dem breiten Sortiment „Im Einklang mit der Natur“.

Dass wir es mit einem fragmentierten Denken zu tun haben, sei durch folgendes Bild illustriert: Auf einer großen kahlrasierten Rasenfläche der Stumpf eines abgesägten Obstbaumes, daran befestigt ein Insektenhotel, obenauf ein Geranientopf. Zahllos sind die Möglichkeiten des Selbstbetrugs. Geradezu häuslich richten wir uns in ihm ein. Einer meiner Bekannten hat sich nun auch noch in einem Baumarkt ein Insektenhotel zugelegt. Letztes Jahr ließ er große Flächen um sein Haus teeren. Es solle ordentlich ausschauen, er sei zu alt, um sich mit Laub abzuplagen oder zu jäten. Eine tote Fläche, die nicht einmal Regenwasser aufzunehmen vermag. In so einem Umfeld lässt das Interesse für Wildbienen an Spitzwegs „Schmetterlingsfänger“ oder „Kaktusliebhaber“ denken, an Figuren also, deren Tun in einem völligen Widerspruch zu der sie umgebenden Wirklichkeit steht. Mit Ökologie, also mit der Lehre vom Haushalt, den komplexen Wechselwirkungen von Lebewesen untereinander wie ihrer Umwelt, hat all das wenig zu tun. Dass es notwendig sein wird, sich selbst einzuschränken, den Energieverbrauch zu reduzieren, das scheint noch nicht angekommen. Dabei würde jeder dem zustimmen, so lange es sich um etwas Allgemeines, also Unverbindliches handelt.

PS.: Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, werden heute in Patagonien große Naturschutzgebiete eingerichtet, verschwinden nach einem Jahrhundert Schafe und Rinder wieder, werden hunderte Kilometer an Zäunen abgebaut, die überweideten Böden mit heimischen Pflanzenarten bevölkert, eingeschleppte Tierarten der wieder aufkeimenden Wildnis entnommen, ursprüngliche Tierarten wie Guanakos oder Pumas, die, da sie eine Gefahr für die Tierzucht darstellten, nahezu vollkommen ausgerottet wurden, wieder angesiedelt. Feuerlandindianer wird es nicht mehr geben.

Unlängst begab sich einer meiner jugendlichen Freunde auf eine Hochzeitsreise, die sich zufällig über weite Strecken mit Darwins Reise deckte. In Patagonien sah er dieselben Küsten, dieselben Gletscher wie sie Darwin gesehen oder Martin Gusinde fotografiert hatte. Aber was für ein Unterschied! Statt konkreter Erfahrungen nur noch eine Kulissenwelt, eine Abfolge von Konsumangeboten, ein Abarbeiten vorab über das Internet gebuchter Verkehrsmittel und Unterkünfte. So eine Reise, so ein Urlaub, unterscheidet sich nicht wesentlich von der Arbeitswelt. Wirkliche Begegnungen wie sie etwa Darwin erlebt und ausführlich beschrieben hat, sind so gut wie unmöglich.

Letzthin kam auf einem meiner Waldspaziergänge eine ältere Dame ganz aufgelöst auf mich zu. Wie ich ihrer wirren Rede entnehmen konnte, hatte sie ihren Rucksack auf einer Alm vergessen. All ihre Papiere befänden sich darin, auch ihr Blindenausweis. Ob ich ein Auto hätte, um sie auf die Alm zu fahren? Nach einigen Widerständen ließ ich mich schließlich überreden, obwohl ich noch etwa zwanzig Minuten zu gehen hatte, um zum Parkplatz zu gelangen und mich ins Auto zu setzen, obwohl ich den Weg nicht kannte, nur wusste, dass mein Kleinwagen nicht für solche Straßen gedacht ist, wohl auch deshalb, weil alle, von der älteren Dame um Hilfe gebeten, eine Ausrede hatten und möglichst rasch zu entkommen suchten. Das Fahrverbot missachtend fuhr ich auf die Alm. Die steile, nur schwer befahrbare Straße wollte kein Ende nehmen und ich dachte mir, ich hätte mich auf dieses Abenteuer niemals einlassen sollen. Aus einer vermeintlich kurzen Fahrt wurde schließlich ein ganzer Nachmittag. Ich hörte sehr viel zu. Die ältere Dame erzählte von ihrem Mann, der Polizist gewesen und an einem Knochentumor gestorben sei, vor 23 Jahren, von ihrem Darmkrebs, von ihrer langen Arbeit im Gastgewerbe, von ihrer Einsamkeit, dass sie es nicht ertrage, allein in der Wohnung zu sitzen, warum es sie hinaustreibe, auch im tiefsten Winter, dass sie von ihren Kindern und Enkelkindern nur ganz selten besucht werde. Um es kurz zu machen: Der Rucksack, weswegen ich sie auf die Alm gefahren hatte, war nicht mehr aufzufinden. Er hing nicht mehr am Ast des Baumes, unter dem sie gesessen hatte. Die Fahrt hätte ich mir also sparen können. Aber am Ende löste sich mein Ärger, einen mir völlig fremden Menschen eines Rucksacks wegen auf eine Alm zu fahren, in Luft auf. Wieder im Tal, da erschien mir die ältere Dame ganz sympathisch, meistert sie doch tapfer ihr gewiss nicht einfaches Leben. Als sie meine Kontonummer haben wollte, um sich für die Umstände, die sie mir gemacht habe, kenntlich zu zeigen, meinte ich, Menschen, die in der selben Stadt lebten, müssten sich doch ein Anliegen sein. Auch hätte ich an diesem Nachmittag einiges gelernt. Als ich sie zu einer Bushaltestelle bringen wollte, meinte sie, sie wolle lieber im Wald aussteigen und auf einem der am Wegrand liegenden Stämme sitzend das Glück noch etwas auskosten, das sie jetzt empfinde. Ihren Rucksack mit den Ausweisen, selbst ihre Geldbörse schien sie vergessen zu haben.

© Bernhard Kathan, 2023

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