„Vertraue dem Animator und seinen Badedienern!“






„Statt meinen vergänglichen Leib mit Skalpellen und Sägen in eine ungewisse Zukunft zu retten, habe ich, Walter K., geboren am 23. Dezember 1925, den Freitod gewählt und bin am 28. September 2010 gestorben. Mein vergänglicher Leib wird in dem von meinen Enkelkindern bunt bemalten Sarg der kühlen Waldeserde des Friedhofes anvertraut. Anschließend wird in der wundervollen reformierten Kirche gedankt und jubiliert ob dem überreichen Leben, das mir geschenkt worden ist. Mit Worten von Katharina H., Pfarrerin, ‚Juchzet und singet’ aus der Toggenburgermesse, einem Glas Wein und guten Gesprächen an der alten Kirchenmauer für alle Gäste. Zur schlichten Grabetragung im Waldfriedhof und zur Feier in der reformierten Kirche wünsche ich mir Gäste in farbenfrohen Gewändern und wenigen Wiesenblumen in der Hand.“ Todesanzeige, NZZ, 2011.

Äußert ein unheilbar Kranker den Wunsch, leicht und schmerzlos zu sterben, so hat der Arzt, an den diese Bitte herangetragen wird, an höherer Stelle Meldung zu machen. Darauf besuchen drei Sachverständige einzeln den Patienten. Haben sie ihn untersucht, geben sie ihr Urteil ab: „Stimmen die Gutachten sämtlich darin überein, daß die Möglichkeit der Genesung ausgeschlossen ist, dann erst darf zu jener Prozedur geschritten werden, welche die Erfüllung eines letzten Wunsches bedeutet.“ Die Gutachter, welche die Möglichkeit einer Genesung zu beurteilen haben, arbeiten ehrenamtlich. So sind Interessenskonflikte ausgeschlossen. Sterbehilfe wird nur geleistet, wenn der Kranke, der sich seiner aussichtslosen Lage bewusst ist, einen diesbezüglichen Wunsch äußert. Die beschriebene Regelung bezieht sich nicht auf die heutige Sterbehilfe. Sie findet sich im Roman „Zukunftsmedizin“ (1896) des Arztes Felix Heymann, einem der vielen Romane, die durch Edward Bellamys „Looking Backward“ (1888) inspiriert worden sind.

Ein Arzt findet sich unter suggestivem Einfluss in der Zukunft wieder und führt mit einem Kollegen, in dessen Haus er nach einem Unfall betreut wird, Gespräche über die Entwicklungen der Medizin, unter anderem über Möglichkeiten der Euthanasie. „Euthanasie“ assoziieren wir mit der NS-Zeit, mit der geplanten und gewaltsamen Tötung von Menschen. Um 1900 bedeutete die Vorstellung der Euthanasie dagegen für viele Menschen ein großes Versprechen. Sie dachten an das Recht, im Krankheitsfalle den Zeitpunkt ihres Todes selbst bestimmen zu können und mit den Segnungen der Medizin schmerzfrei aus dem Leben zu scheiden.

Max Haushofer beschreibt in seiner Erzählung „Die Ziffern der Verzweiflung“ (1888) ein Selbstmordasyl für Verzweifelte. Gleichgültig, aus welchen Gründen die einzelnen ihr Leben beenden wollen, ihrem Wunsch wird, haben sie sich überzeugend geäußert, Folge geleistet. In der Erzählung ist es eine entehrte und verstoßene junge Frau, die Zuflucht im Asyl für Selbstmörder sucht. Als die junge Frau trotz der mahnenden Worte des Arztes, das Leben nicht so leicht fortzuwerfen wie ein gebrauchtes Kleid, auf ihrem Wunsch zu sterben beharrt, führt er sie durch eine Türe in einen kleinen hellen Raum, in dem sich einige Ruhebetten befinden und dessen Wände mit Blüten ausgekleidet sind, bis auf eine, die den Blick in eine herrliche Landschaft fallen lässt. Der goldene Becher mit dem tödlichen Gift wird von einer schlanken Frauengestalt gereicht. Kaum hat die junge Frau aus dem Becher getrunken, sinkt sie müde zurück. Ihr Blick verklärt sich. Sie wird von einem unüberwindlichen Schlaf überfallen. Es dauert nicht lang und sie ist tot: „Die Musik verstummt; ein Hauch der Ewigkeit weht durch das Gemacht. Lautlos versinkt das Ruhebett mit der Todten in die Tiefe.“

Die junge Frau, die in Haushofers Erzählung das Selbstmordasyl aufsucht, ist alles andere als krank. Sie sucht den Tod, da sie entehrt und verstoßen wurde. Ihr Tod ist nur die faktische Bestätigung eines sozial erlebten Todes. Sie wird Opfer gesellschaftlicher Konventionen. Max Haushofer sah sich als aufgeklärter Humanist. Dennoch vermochte er dies nicht zu sehen. Er plädiert nicht dafür, die junge Frau vor jenen zu schützen, von denen sie verstoßen wurde. Der Arzt seiner Erzählung erkennt die Gewalt nicht an, die ihr angetan wurde.

Der goldene Kelch, welcher der Hilfesuchenden gereicht wird, ist sakraler Symbolik entlehnt. Allerdings ist Max Haushofers „Heiligtum des Todes“ ein diesseitiges Heiligtum, in welchem der Tod aller Jenseitsvorstellungen beraubt ist und der Körper des Toten entsprechend den Vorstellungen der Biologie in neuen Lebensformen aufgeht: „Das einzige gemeinsame Gefühl der Todten ist das Gefühl der Zerstörung; denn vom Augenblicke des Todes an fühlt jedes Atom, dass der ganze Leib mit unbeschreiblicher Schnelligkeit sich auflöse, dass alle Erinnerung an das Gewesene wie Abendwolken zerfliegt. Das Ganze lebt nur noch im Gedächtnis derer, die einst den lebendigen Menschen kannten und liebten.“ Haushofers Überlegungen verdanken sich dem Monismus, als dessen wichtigster Vertreter der Arzt und Evolutionsbiologe Ernst Haeckel gilt. Die Monisten verfochten die Einheit von Gott und Welt, verwarfen jeden Offenbarungs- und Wunderglauben, auch die Vorstellung von einem jenseitigen Weiterleben nach dem Tode. Weiterleben würden einzig die Atome, die nach dem Zerfall des Körpers Eingang in neue Lebensformen fänden.

Ähnlich wie Haushofer betrachtet auch der Arzt in Gustav Heins Roman „Werner Stauf der Monist“ (1914) den Tod: „Aus dem Toten steigt das Leben empor, zum Toten sinkt es wieder hinab, Spreu, die der Wind verweht; nur das neue, junge Leben, das es ablöste, ist sein letzter Zeuge; bald aber wird auch er spurlos verschwinden, um anderem Leben Platz zu machen, der beste Beweis dafür, daß das Leben im toten Stoff aufgeht. Die toten Energien haben für kurze Zeit die Form dessen angenommen, was wir ‚Leben‘ nennen, so wie der Wassertropfen in der Luft für kurze Zeit die Form der Eisnadel annimmt, wenn eine kalte Luftwelle ihn angerührt hat.“ Unschwer ist Heins Roman als der eines Monistengegners zu erkennen. Wie die Monisten hält auch der Arzt Werner Stauf Aufklärungsvorträge, etwa zum Thema Euthanasie. Hein spielt auf Haeckels „Die Welträtsel“ an, wenn er seine Romanfigur ein Buch mit dem Titel „Das Weltwunder“ schreiben lässt. Aus Haushofers „Geschichten zwischen Diesseits und Jenseits ist bei Hein „Eine Geschichte aus dem Diesseits und Jenseits“ geworden, mehr noch, er lässt Stauf im Jenseits erwachen.

In der von Hein beschriebenen Episode werden Haushofers Euthanasievorstellungen geradezu auf den Kopf gestellt. Statt eines großzügig angelegten Säulenbaus haben wir es mit einer elenden Dachkammer, statt mit einer jungen Frau mit einem todkranken Mann zu tun, statt eines goldenen Kelches wird ein einfaches Glas mit einer trüben Flüssigkeit verwendet, die an schmutziges Wasser erinnert. An die Stelle eines wohl organisierten Ablaufs ist ein Hilfeversuch mit fatalen Folgen getreten.

Der Arzt Werner Stauf betreut einen todkranken Arbeiter. Der Patient äußert wiederholt und entschieden den Wunsch zu sterben: „’Herr Doktor, Sie haben ‘mal gesagt, - ich hab’s selbst gelesen -: arme Kranke, die nun doch einmal unheilbar sind, sollte man sich nicht so unnötig quälen lassen. Herr Doktor, das war ein mutiges Wort, und nun lassen Sie dem Wort auch die mutige Tat folgen. Ich will nicht mehr leben! – Ich will mich nicht mehr weiter so quälen. Helfen Sie mir, Herr Doktor; ein wenig Gift in das Wasser da‘, - dabei zeigte er mit dem Finger auf das Glas, das auf dem Tischchen stand – ‚und es ist schnell vorbei.‘“ Das Leben seiner Frau sei leichter, wenn sie neben den beiden Kindern nicht ihn auch noch ernähren müsse. Nach anfänglichem Sträuben zieht der Arzt doch ein Fläschchen aus seiner Instrumententasche hervor und gießt einige Tropfen in ein Glas Wasser. Irrtümlicherweise trinkt die Frau des Kranken aus dem Glas. Schließlich sterben beide und lassen ihre Kinder als Waisen zurück. Mahnt der Arzt in Haushofers Erzählung die Hilfesuchende, ihr Leben nicht wie ein gebrauchtes Kleid wegzuwerfen, so vergleicht der Kranke in Heins Roman sein sinnlos gewordenes Leben mit einem zerlumpten Schuh. Während das Tun des Arztes hier außerhalb jeden Rechts angesiedelt ist, pochen die Euthanasiebefürworter der Zeit jedoch auf eine dezidiert institutionalisierte Praxis. Sie fordern gesetzliche Regulative wie die Kontrolle durch die Medizin.

Warnend kommt Heymanns Arzt der Zukunft in diesem Zusammenhang auf eine länger zurückliegende Selbstmordepidemie zu sprechen. Es habe einen Apparat gegeben, der jedem einen schmerlosen Tod erlaubt hätte: „Dieser Apparat konnte an jedem Bett angebracht werden. Mittels verschiedener Federn konnten die Füße, die Hände, der Kopf, überhaupt der ganze Körper fixirt werden, und auf die am Gesicht befestigte Maske tropfte die betäubende Flüssigkeit.“ Dieser Apparat sei eingeführt worden, nachdem der Tod dank Medizin seinen Schrecken verloren habe. Allerdings hätten sich Kranke, die sich ganz leicht behandeln hätten lassen, manchmal auch solche, die sich nur für krank hielten oder finanzielle Sorgen hatten, das Leben genommen, sei der Tod doch angenehm gewesen: „Ein großer Teil der zuletzt genannten Todeskandidaten machte aus dem Selbstmord eine edle, hochherzige That: Sie könnten der Menschheit nicht nützen, daher hätte ihr Leben keinen Zweck, und andererseits erleichterten sie ihren Mitmenschen das Fortkommen.“

Für Euthanasiebefürworter wie Heymann steht die Vorstellung eines schmerzfreien Todes im Zentrum ihrer Argumentation. Es sei eine Grausamkeit, unheilbar Kranke am Leben zu erhalten. Nicht das Leben würde verlängert, sondern Schmerzen, Freudlosigkeit und Lebensüberdruß! Wie andere Autoren argumentiert auch Haushofer: „Es ist eine Brutalität, wenn eine kurzsichtige Moral vom Menschen verlangt, dass er leben soll, während Tag und Nacht auf seiner keuchenden Brust der Alp des Schmerzes sitzt, während er hoffnungslos seinen Leib verwesen sieht!“ Während man kranken Tieren den Todesstoß gebe, um sie nicht unnötig zu quälen, tue man alles, um Todkranke trotz ihrer Qualen am Leben zu erhalten.

Die frühe Euthanasiebewegung verdankte sich neben der Einführung der Narkose entscheidend den Anliegen der Tierschutzbewegung. Schmerzbehauptungen bildeten und bilden noch heute den Drehpunkt all ihrer Argumente. Bezogen auf die von Tieren während eines vivisektorischen Experimentes empfundenen Schmerzen schreibt Bertha von Suttner in ihrem Roman „Schach der Qual“ (1898): „Töten verhält sich zu Quälen, wie 1 zu 1000.“ Der Tod an sich sei nichts Furchtbares, nichts Höllenhaftes – wohl aber sei dies die Todesangst und die physische Qual: „Sterben ist nichts Entsetzliches [...], das gefolterte Geschöpf sehnt sich danach, schreit danach, und der mildeste, barmherzigste Mensch wird nicht zögern, einem unrettbaren, martyrisierten Tier den Todesstoß zu geben, der ja ein Gnadenstoß ist.“ Zum Gnadenstoß fügte sich bald die Vorstellung eines medikalisierten, also schmerzfreien Todes. Ernst Haeckel in den „Lebenswundern“ (1904): „Treue Hunde und edle Pferde, mit denen wir jahrelang zusammen gelebt haben und die wir lieben, tödten wir mit Recht, wenn sie in hohem Alter hoffnungslos erkrankt sind und von schmerzlichen Leiden gepeinigt werden. Ebenso haben wir das Recht, oder wenn man will die Pflicht, den schweren Leiden unserer Mitmenschen ein Ende zu bereiten, wenn schwere Krankheit ohne Hoffnung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich macht und wenn sie selbst uns um ‚Erlösung vom Uebel‘ bitten.“ In Romanen, die für die Euthanasie plädieren, wird denn auch der Tod als „sanftes Entschlummern“ oder „friedliches Einschlafen“ behauptet. Der Kranke werde „unter angenehmen Visionen betäubt“, „unfühlbar und unbewußt in den Zustand des Todes hinübergeleitet.“ Der Biologe Haldane schreibt etwa, der Tod werde zu einem „dem Schlafe ähnelnden physiologischen Vorgang.“ Zweifellos verstanden viele der damaligen Euthanasiebefürworter ihr Engagement als Ausdruck von Mitgefühl.

Der schmerzfreie Tod ist in der Veterinärmedizin längst Wirklichkeit geworden. Leiden unsere Hunde und Katzen an einer schmerzhaften oder unheilbaren Erkrankung, sind sie altersschwach geworden, so überantworten wir sie dem Tierarzt, um sie einschläfern zu lassen. Wir verstehen dies als Akt besonderen Mitgefühls. Die diesbezügliche Praxis kennt eine breite gesellschaftliche Akzeptanz. Es ist absehbar, dass die hier entwickelte Thanatopraxis zunehmend auch für den Menschen selbst gelten wird, ist es doch ein großes Versprechen, mit Hilfe der Medizin sanft zu entschlummern.

Heutige Todesanzeigen spiegeln sehr gut, dass unter einem guten Tod das friedliche Einschlafen gemeint ist: „Ein reiches und bewegtes Leben hat nach längerer Krankheit zu einem friedlichen und sanften Ende hingefunden.“ – „Unsere Mutter ist nach einem reich erfüllten Leben von ihren Altersbeschwerden erlöst worden und friedlich eingeschlafen.“ - “Unsere treu besorgte Mutter wurde nach einem reich erfüllten Leben im Alter von 94 Jahren von ihren Altersbeschwerden sanft erlöst.” - „Nach einem reich erfüllten Leben durfte sie im 96. Lebensjahr friedlich einschlafen.“ - „Nach kurzer, schwerer Krankheit ist sie friedlich eingeschlafen. In stiller Trauer.“ - „Nach schwierigen und schmerzvollen Monaten wurde er nun von seinen Beschwerden erlöst.“ - „Friedlich durfte sie nach einer langen Leidenszeit von uns gehen.“ - „Unsere liebe Mutter ist heute am frühen Nachmittag in unserem Beisein still eingeschlafen und von ihren lange mit Geduld ertragenen Altersbeschwerden erlöst worden.“ - „Nach langem, reich erfülltem Leben wurde sie von ihren Altersbeschwerden erlöst.“ – „Nach kurzem Spitalaufenthalt ist sie friedlich eingeschlafen.“ - „Nach einem erfüllten Leben durfte er in unserem Beisein friedlich einschlafen. Wir sind von Herzen dankbar für die gemeinsame Zeit.“

In Tierdiskursen finden sich alle jene normativen Kriterien, die in Zukunft dann wirksam werden, wenn es um die Frage geht, zu welchem Zeitpunkt Maschinen abgeschaltet werden, sich die ärztliche Hilfeleistung auf die Schmerzmedikation beschränkt oder Patienten „eingeschläfert“ werden. Die Indikationen, die für die Tötung von Tieren, insbesondere von Beziehungstieren gelten, lassen solche Befürchtungen nicht unbegründet erscheinen. Die Entscheidung, Haustiere einzuschläfern, erfolgt oft dann, wenn sie nicht mehr als beziehungsfähig wahrgenommen werden. Angehörige wie Ärzte und Krankenschwestern neigen, wenn auch in unterschiedlicher Weise dazu, Patienten dann als moribund wahrzunehmen, wenn sie nicht mehr ansprechbar erscheinen. Es finden sich genügend Beispiele, die belegen, dass solche Wahrnehmungen falsch sein können. Gibt es einmal die Vorstellung, der Tod sei nichts anderes als ein friedliches Einschlafen, dann sinkt auch jene Schwelle, die sich einer aktiven „Sterbehilfe“ entgegensetzt.

Unzweifelhaft wird sich die Einstellung gegenüber der Euthanasie grundlegend ändern. Zunehmend mehr Länder werden die medikalisierte Sterbehilfe gesetzlich verankern. Dafür sind eine Reihe von Gründen zu nennen. In unserer Gesellschaft wird es in Zukunft nicht nur wesentlich mehr ältere Menschen geben, auch die Zahl der Pflegebedürftigen, die aus allen sozialen Bindungen herausgefallen sind, wird zunehmen. Das Einkommen vieler Menschen wird nicht ausreichen, die Kosten einer entsprechenden Betreuung zu finanzieren. Angesichts einer zunehmenden Entsolidarisierung steht zu befürchten, dass die gesellschaftliche Akzeptanz für die zunehmend höheren staatlichen wie kommunalen Aufwendungen für Pflegeheime abnehmen wird. Wurde bislang für Euthanasie im Sinne der Schmerzvermeidung plädiert, so taucht nun als weiteres Argument das der Lebensqualität auf. Man könne nicht von Lebensqualität sprechen, sieche jemand Monate oder Jahre in einem Pflegeheim vor sich hin. Eine weitere Unschärfe verdankt sich den Möglichkeiten der Schmerzmedikation. Dies wird allein dort offensichtlich, wo an die Stelle des Sterbens mit all seinen Klagen und Gebärden ein „sanftes Entschlummern“, ein „friedliches Einschlafen“ getreten ist. Wer in einen tiefen Schlaf versetzt, der tötet nicht.

Es gibt gute Argumente, sich für die Euthanasie zu engagieren. Aber es steht zu befürchten, dass die Tötung von Kranken als Akt des Mitgefühls behauptet, letztlich aber anders motiviert sein wird, sei es nun gesellschaftspolitisch oder auch privat. Das Versprechen der Euthanasie, im Krankheitsfalle oder im Zustand höchster Verzweiflung mit Hilfe der Medizin schmerzfrei aus dem Leben zu scheiden, kannte von Beginn an eine dunkle Seite. Die Kehrseite der freien Entscheidung des Kranken findet sich dort, wo gesellschaftlich-normative Kriterien darüber entscheiden, ob das Leben eines Menschen als lebenswert gilt oder nicht. Haeckel forderte 1904, unheilbar Kranke aus Mitleid zu töten. Bereits hier war die Grenzziehung hinsichtlich der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ sehr unscharf. Die NS-Euthanasie sollte bereits wenige Jahrzehnte später zeigen, dass für die systematische Tötung Behinderter und psychisch Kranker trotz aller euphemistischen Behauptungen ideologische und ökonomische Argumente entscheidend waren.

Es fehlt nicht an Zukunftsromanen, die für Euthanasie plädieren, dabei aber geradezu ungewollt eben dies beschreiben. Dies gilt etwa für Ri Tokkos „Automatenzeitalter“ (1931). Ri Tokkos diesseitiges Paradies verspricht Unsterblichkeit, die Erlösung von aller Mühsal und Beladenheit, eben die Aufhebung jenes Fluches, der mit der Vertreibung aus dem Paradies verbunden war. Aber „der Griff nach der Unsterblichkeit schließlich vernichtet die Gegenwart, den kostbaren Augenblick und die ‚heiligende‘ Einzigartigkeit jedes einzelnen. Unsterblichkeit, Aufhebung der Vergänglichkeit, heißt unter den Bedingungen der Knappheit, alles wiederholbar, jeden Verlust verschmerzbar zu machen, weil für alles Ersatz ist: Auslöschung der Antlitze“, so Marianne Gronemeyer (bezogen auf die moderne Konsumgesellschaft). Ri Tokkos Utopie hat tatsächlich die Auslöschung der Antlitze zur Folge, ist dem Menschen doch all das genommen, was ihn zu einem Menschen macht. Letztlich werden die Menschen seines Automatenzeitalters bewirtschaftet (und zwar von einer Megamaschine), in letzter Konsequenz in dem Augenblick dem Tod überantwortet, in dem sie von den Vorgaben des Ideals abweichen. Wer etwa erblindet, und sei es durch fremde Schuld, begibt sich aus eigenem Antrieb in die „Halle des Vergessens“, und zwar nicht in Begleitung von Menschen, sondern einer Maschine: „Behutsamen Schrittes erklimmen die Stufen, welche zu diesem Tor hinaufführen, zwei Gestalten: Geführt von einem Homaten steigt tastenden Fußes eine Erblindete, eine Binde über den erloschenen Augen, langsam die Stufen hinauf. [...] Da öffnet sich das Tor. Langsam drehen sich die gewichtigen Flügel knarrend in verrosteten Angeln. Von dem Lichtschein, der aus der Türöffnung fällt, hebt sich deutlich die Silhouette der Blinden ab. Kein Zweifel, es ist Met, die Erlösung sucht!“ Es kann keinen Verlust geben, wird doch das gelöschte Individuum oder Exemplar automatisch wieder ersetzt. Selbst Trauer ist undenkbar. Ri Tokkos „glückliche“ Menschen fallen in letzter Konsequenz mit jenen Gütern in eins, die von ihnen konsumiert werden. Wie Konsumgüter werden sie hergestellt und entsorgt. Architektonisch lässt die Halle des Vergessens an Haushofers pseudosakrales Selbstmordasyl denken.

Insbesondere Konstantin Mereschkowskijs Zukunftsroman „Das irdische Paradies“ (1903) macht deutlich, dass die Vorstellungen jener, die für das Recht auf einen schmerzfreien Tod eintraten, sich nahezu bruchlos in die Eugenik fügten. Mereschkowskijs Idealmenschen – sie sind das Produkt radikaler Auslesepraktiken – werden, zeigen sie auch nur die ersten Anzeichen von Krankheit oder Alter, mit einem stark wirkenden Gift, welches „den sicheren Tod herbeiführt“, getötet. Fast gleichlautend wie in anderen Romanen wird auf eine entrüstete Feststellung oder Frage eine relativierende Antwort gegeben: „Sollte es denkbar sein, dass ihr dieses Mittel benutzt, um Menschen zu töten?“ – „Wir erleichtern Ihnen damit das Sterben.“ Das tödliche „Heilmittel“ trägt die Bezeichnung „Nirvana“ entsprechend der buddhistischen Vorstellung, am Ende des Lebens bzw. einer Lebenskette in einen Zustand völliger Ruhe einzugehen. Die Tötung wird im Interesse der Opfer begründet, der Tod nicht allein als schmerzlos, sondern als angenehme Erfahrung behauptet: „Je näher der Tod an den Sterbenden heranrückt, desto grössere Mengen des starken Giftes verabreicht man ihm. Das Bewusstsein beginnt sich zu umnachten, aber die Phantasie wird immer reger. Die schönsten Träume umgaukeln ihn, und da er imstande ist, alles zu verstehen, was wir sprechen, bemühen wir uns, ihm die schönsten Bilder vor die Seele zu rufen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schläft er ins Jenseits hinüber. Wie das Abendrot erlischt sein Leben, ganz leise, leise holt ihn der Tod hinweg, und er folgt ihm ohne Widerstreben. Welch eine Wohltat! Wie schwer war in früheren Zeiten das Sterben, wie klammerte sich das Leben an den siechen Körper, welche Folterqualen musste der Sterbende erdulden, ehe ihm die Erlösung ward!“ Tatsächlich jedoch werden die Betroffenen deshalb getötet, weil sie von einem festgelegten Ideal abweichen. Nicht nur dem einzelnen Opfer wird verschwiegen, dass entschieden wurde, seinen Tod herbeizuführen, auch seine Freunde erfahren nichts davon. Der Tötungsakt erfolgt an einem einsam gelegenen Ort, diskret. Die Leiche wird unauffällig entsorgt. Fragen nach dem Verschwinden werden mit einem beruhigenden „Märchen“ beantwortet. Die oben erwähnte Relativierung des Todes findet seine Steigerung bei Mereschkowskij dort, wo er den Eugeniker behaupten lässt, der größte Triumpf werde es sein, wenn man dem neuen Menschen nicht nur die Angst vor dem Tod genommen habe, sondern, wenn es gelungen sei, diesem „die Überzeugung einzuimpfen“, dass es keinen Tod gäbe.

In diesem Zusammenhang lohnt es sich, Franz Werfels Reiseroman „Stern der Ungeborenen“ (1941) zu lesen. Werfel hat nicht nur einige der hier genannten Romane verarbeitet, mehr noch, er stellt deren Diskurse radikal auf den Kopf. Die Astromentalen, Werfels Menschen der Zukunft, leben in einer Gesellschaft, in der alle Bedürfnisse befriedigt sind, jede produktive Arbeit überflüssig geworden ist. Die Menschen verfügen auch nach zweihundert Jahren über einen jugendlichen Körper. Ihr Leben kennt kein Leid, aber auch das Glück der Freiheit nicht. Wem der Tod (das Wort darf nicht ausgesprochen werden) bestimmt ist, der wird tief im Erdinneren, eine Anspielung auf Bulwer-Lyttons Roman „Das kommende Geschlecht“ (1871), durch ein retrogenetisches Verfahren, also in Umkehrung der Evolutionsgeschichte, zurückverwandelt, um schließlich als eine von abermillionen Margariten auf einem Acker zu enden. Max Haushofers Wintergarten im Selbstmordasyl, welches von Menschen aufgesucht werden, die ihres Lebens überdrüssig sind, hat sich nun zu einem düsteren „Wintergarten“ gewandelt. Freiwillig fügen sich die Menschen in ihre fabrikmäßig organisierte Entsorgung. Am Eingang zum Wintergarten Schrifttafeln mit der Weisung: „Vertraue dem Animator und seinen Badedienern!“ Unbehagen überfällt nur den Zeitreisenden: „Ich spürte aber sofort, daß der gute behagliche Empfang einen bestimmten Zweck hatte. Alles sollte hier schnell gehen, ehe man recht zur Besinnung kam. Während man einander anlachte und ankomplimentierte, wurden Herren und Damen und vorzüglich die Ehepaare unmerklich voneinander getrennt. So betrog man sie über den Schmerz des Abschieds hinweg.“ Die einzelnen werden genauestens erfasst, in eine bearbeitbare Abfolge aufgelöst. Bereits dies nimmt ihren Tod vorweg. Als Werfel seinen Roman schrieb, beschäftigte ihn die Vernichtung des europäischen Judentums, das Verschwinden von Angehörigen oder Bekannten in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Immer wieder spielt er darauf an, etwa wenn er die Trennung der Angehörigen beschreibt oder Tafeln mit euphemistischen Aufschriften zitiert, die die Menschen an den Toren des Wintergartens erwarten. Die Antwort auf die Versprechen reinigender Gewalt, auf die Phantasmen einer heilen Welt lieferte die Geschichte selbst, und dies in furchtbarer Weise.

Bernhard Kathan, 2006/2012

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