AB- UND ZUFALL
Eine Arbeit von Sunhild Wollwage


Foto: Bernhard Kathan

"Duftendes Gras meiner Brust,
ich sammle deine Halme, schreibe sie nieder ...
Grabhalme, Leibeshalme, emporwachsend über mir, über dem Tod,
... o der Winter soll euch nicht töten, zarte Halme,
jedes Jahr sollt ihr aufs neue blühen, emporwachsen sollt ihr immer wieder aus eurer Tiefe."
Walt Whitman


Kunst, die sich mit Materialien der Natur beschäftigt, rückt nur allzuschnell in die Nähe des Kitsches. Solche Arbeiten sind einzig deshalb von Bedeutung, weil sie den Erfahrungsverlust des modernen Menschen - wenn zumeist auch unreflektiert - dokumentieren. Unter heutigen Künstlerinnen, die sich auf völlig andere Weise mit Natur, mit Organischem oder auch Amorphem beschäftigen, ist vor allem Sunhild Wollwage zu nennen. In einer ihrer als "Nahaufnahmen" bezeichneten Werkform fixiert sie etwa kleinste Fundstücke aus der Natur wie Samen, Dornen, Fliegenbeine, Knöchelchen oder Eierschalen einzeln auf selbstklebenden Etiketten, die in exakter serieller Reihung auf Papier gesetzt sind. Cornelia Kolb-Wieczorek: "Wollwages Interesse gilt jetzt nicht den Raritäten und nur vereinzelt vorkommenden natürlichen Erscheinungen, sondern jenen, die ihr in Abundanz entgegentreten. Das scheinbare Chaos der Natur, das ihr in der Masse des Kleinteiligen begegnet, wird gebändigt durch einen bewusst scheinwissenschaftlichen Umgang mit dem Gefundenen, indem es akribisch gereiht in Ordnungen und klare Strukturen umgesetzt wird." In irritierender Weise wird Organisches in Strukturen übersetzt, welche die Natur nicht kennt, nicht kennen kann. Der Betrachter ist angehalten, sich von einem zumeist wohltuenden Gesamteindruck zu lösen und seine Aufmerksamkeit auf kleinste Details wie Fliegenbeine zu konzentrieren um dann zu einer völlig anderen Gesamtbetrachtung zurückzukehren. Was auf den ersten Blick wie ein Schriftbild erschien wird nun zur entzifferbaren Textur, einer Textur freilich, die keine Geschichte kennt. Organisches kann dabei in die Nähe des technisch Hergestellten, technisch Hergestelltes wie verbogene Heftklammern in die Nähe des Organischen geraten.

All diese Arbeiten erfordern nicht nur sehr viel Zeit, sie haben stets auch die Zeit selbst zum Gegenstand. Dies gilt auch für das im HIDDEN MUSEUM gezeigte Projekt "Ab- und Zufall", eine sehr persönliche Jahresarbeit (2007). Auf weißen Karten in DIN A6-Format ist gleichbleibend jeweils eine Frottage eines oder zweier Haare zu sehen, darunter ein kleines Foto der täglich anfallenden Kompostabfälle, darunter die Blutdruck- und Pulswerte, daneben ein Haarring, bestehend aus den beim Kämmen ausgegangenen, gewohnheitsmäßig um einen Finger gewickelten Haaren. 365 dieser Karten sind, nach Monaten und Tagen gereiht, ohne Zwischenräume an die Wand genadelt. Man muss näher treten um Details, in den Fotos der Kompostabfälle etwa Kürbisschalen oder abgezupfte Holunderdolden zu erkennen. Betrachtet man die gesamte Arbeit, dann ist nur noch Struktur zu sehen, sind keine Details mehr entzifferbar. Die Arbeit oszilliert zwischen diesen beiden Polen.

Erstmals zeigt Sunhild Wollwage eine Arbeit, in der sie ihre Arbeitsweise auf sich selbst, auf ihren Körper anwendet, und die - zumindest in meiner Lesart - das Älterwerden wie die eigene Vergänglichkeit zum Gegenstand hat. Der Betrachter mag sich denken, was Küchenabfälle mit Haaren, mit Blutdruck- und Pulswerten zu tun haben. Küchenabfälle und Haare lassen sich in ein assoziatives Feld stellen. Menschliche Haare sind höchst ambivalent konnotiert. Man denke an das Haar eines geliebten Menschen, dagegen an Haare oder auch nur ein Haar, welches wir in einem Essen entdecken. Kompostabfälle verweisen wiederum auf das Verzehrbare, auf Verzehrtes. Es geht um Abfall, um nicht Aufgegessenes. Mögen Haare auch dann noch wachsen, hat das Herz zu schlagen aufgehört, so sind sie doch stets absterbender Teil des menschlichen Körpers. Mit jedem ausgefallenen Haar, mag dies noch so unmerklich sein, stirbt auch ein Teil unseres Körpers. Blutdruck- und Pulswerte (von der Norm abweichende Werte sind markiert) wiederum verweisen auf das Faktum, dass unser Herz einmal aufhören wird zu schlagen. Bleibt nur der Kompost als Versprechen oder um es mit Walt Whitman zu sagen: "... o der Winter soll euch nicht töten, zarte Halme, jedes Jahr sollt ihr aufs neue blühen, emporwachsen sollt ihr immer wieder aus eurer Tiefe."

Solche Deutungen sind letztlich müßig, oder um es anders zu formulieren, nicht auf die Deutung kommt es an, nicht einmal auf die Intentionen der Künstlerin, sondern darauf, dass das Werk Denkprozesse in Gang setzt, die unser Leben betreffen. Als kommentierende Betrachter sprechen wir ohnehin stets nur über uns selbst. Was Sunhild Wollwage betrifft, sei sie selbst zitiert: "Dort wo der heiße Teer die Spatzen fängt, wo plötzlich Blindgänger, die am Bach liegen, explodieren, wo zerfetzte Menschen zurückbleiben und Kinder schreien, dort wo die weißviolette Kronwicke an Bahndämmen blüht, wo Pappbecher neben den Geleisen liegen, manchmal aufgeweicht und grau geworden, dort bei den verlassenen Schießständen wo in tiefen Pfützen die Unken rufen und Molche sich vermehren, dort ist meine Kindheit. Dort wo die Schutthalden schwelen und dieses dumpfe Gefühl von Verlassenheit und Tod der Haut so nahe sind, dort wo sich Natur, die Auswirkungen der menschlichen Grenzüberschreitungen in erschreckender Weise mischt, dort wo Frostbeulen, Hunger und Kochkiste Gegenwart sind, dort wo Luftminen schreiende Tiere in Teile zerfetzen und die Kadaver in Obstbäumen hängen, dort bin ich hineingeboren. Ich sah den Vollmond in verdunkelten Nächten und die Schönheit der Sterne auf dem Weg zum Bunker, einer vor Angstschweiß stinkenden Höhle im Steinbruch. Ich sah den Hirschkäfer und die klare Quelle im Wald beim Bucheckernsammeln. Ich empfand den heißen Sommertag im Kräuterduft genauso wie den Gestank des todbringenden Krieges. Grausamkeit und Schönheit mischten sich zu einem Konglomerat, das mich wahrscheinlich ausmacht. Es mischten sich Extreme zu Spannung, bei diesem zeitlichen Ursprung liegt mein Ansatzpunkt in der Wahrheit des Seins in der frühen Kindheit."

Es ist ein Kissen zu sehen, welches einzig mit ausgefallenen Haaren gefüllt ist. Mag sein, dass sich dies einer Kindheit mit all ihren Schrecken und Mangelerfahrungen verdankt, mag auch sein, dass wir es bei all diesem Sammeln und Ordnen mit dem Versuch zu tun haben, einer ungeordneten, bedrohlichen Welt Struktur zu verleihen. Aber nicht darauf kommt es an, sondern auf unsere eigene Lektüre, der sich Sunhild Wollwages Arbeit anbietet im besten Sinn der Gabenökonomie, die durch jede Deutung unmöglich gemacht würde. Abends, nach Einbruch der Dunkelheit, saß ich wiederholt im Ausstellungsraum, der einzig von einer Kerze in ein mattes Licht getaucht war. Betrachtete ich die Wand, so erschien mir alles wieder ganz anders. Die Fotos mit den Kompostaufnahmen wirkten als lange Reihen gleichförmiger kleiner schwarzer Rechtecke, die Frottagen ließen mich an Schriftzüge denken. Fixierte ich die Wand, begann das Bild zu springen. Meine Augen hatten offensichtlich Mühe, das Wahrgenommene zu fokussieren. Die langen Reihen dunkler Rechtecke ließen auch an einen Taubenschlag denken, an Fluglöcher, an Seelenfenster.

Bernhard Kathan, 2008

Lit.: Sunhild Wollwage, andando. materialbilder, objekte, installationen, Benteli Verlag 2002.