100 Bürstenstriche pro Tag bringen ausgelaugtes Haar wieder zum Glänzen.
Dabei empfiehlt es sich, die Arbeit bei herab fallendem Kopf vom Nacken aus
zu beginnen, die Bürste in alle möglichen Richtungen zu führen, den dicht an
der Haut liegenden Strähnen Luft zuzuführen und das natürliche Fett
ordentlich zu verteilen. Schaut man dann in den Spiegel, so hat man den
Eindruck, das Haar falle anders, läge neu, gesunde.
Wie ein Bürstender geht der Kulturhistoriker, Schriftsteller und
Künstler Bernhard Kathan vor, wenn er einen Nachruf auf die verschwindende
(sich damit der Kenntnis entziehende) kleinbäuerliche Kultur verfasst.
Strähne für Strähne wird der bäuerliche Alltag beleuchtet: Ausgehend von 60
Gebrauchsgegenständen (Eisenhaken, Weihwasserkesselchen, Grenzstein,
Gussstück …) werden Geschichten rund um das tägliche Leben, die harte Arbeit
und die damit zusammen hängenden Mythen erzählt, schrittweise enthüllt sich
eine Lebensform, die in ihrer Logik eng mit der Natur und dem Überleben in
der Natur verknüpft ist. Kathan ist nicht ausschweifend, konkret und
reduziert beschreibt er, wie die Kleinbauern gelebt haben und (in nur mehr
seltenen Fällen) heute noch leben. Er zeigt, wie und wozu die Dinge
verwendet wurden. Er will keine Romantik erzeugen, keine Reparatur vornehmen
und schon gar kein fototaugliches, museales Bild herstellen. Er giert nicht
nach dem Glanz dessen, was er beschreibt. Doch wenn sich dieser von selbst
einstellt, hat er nichts dagegen.
Kathan informiert sorgfältig, aber nicht schwerfällig. Langsam und
präzise bringt er die Eigenstrahlung hervor, die die Dinge im logischen
Kontext eines Lebenszusammenhanges entfalten. Indem die Gegenstände auf ihre
Funktion zurück geführt werden, versteht man sie, indem sie mit anderen
Dingen in Beziehung treten, werden sie lebendig. Auf diese Weise erfährt man
sehr viel über Leben und Denken der Klein- und Bergbauern, ohne sich belehrt
oder überfrachtet zu fühlen. Die Informationen fließen aus den Gegenständen
heraus, leicht und meist poetisch.
Es kann einem passieren, dass man plötzlich selbst an der Kreissäge
steht oder in der Stube sitzt. Man hört und spürt, wie es dort ist. Als
Leserin war ich ein paar Mal in den Händen der Bäuerin, in den Schuhen des
Bauern. Ich war das Kind dieser Leute. Ich war für Momente deren Nachbarin,
deren Seelsorger. Sogar ein Traktor war ich, spürte die spezielle Vibration
des Fahrzeugs. Kathan fängt mitunter das Spektrum der Gerüche und Klänge
ein, auch die Beschwerden des Körpers beim Arbeiten, die Kälte, die Hitze.
Das Sinnliche spielt eine wichtige Rolle, aber hier wird nicht
schwadroniert. Weil der Autor über diese Kultur genau Bescheid weiß, kann er
sich Ausflüge in die Imagination leisten. Als Leserin und Leser glaubt man
den Klängen, Gerüchen, Sensationen.
Was in diesem schmalen Buch an sachlicher Information über die
kleinbäuerliche Kultur untergebracht wird, ist enorm. Der Text ist eine
Fundgrube an Detailwissen. Doch das ist nur eine von mehreren Qualitäten. Da
ist etwa noch der poetische Blick, der einnimmt und fesselt. Diese Poesie
ist unaufdringlich, sachlich rückgebunden, zugleich subtil schräg. Mit ihren
Mitteln wird mehr ausgedrückt als durch reines Nennen und Aufzählen,
Vielschichtiges tritt zutage, Atmosphäre verdichtet das Bild. Sie ist
gekennzeichnet von harter Armut, vom Überleben und vom Leiden, von der
Fraglosigkeit des Daseins und von der mangelnden Zeit für Gefühle. Verklärt
wird da nichts.
Es gibt nur wenige Gelegenheiten, die so deutlich anderen Koordinaten des
kleinbäuerlichen Lebens zu vermessen. Einer, der sich seit Jahren mit den
Zeugnissen aus dem kleinbäuerlichen Alltag beschäftigt und diese dem
allgemeinen Verständnis zu öffnen sucht, ist der in Innsbruck lebende
Künstler und Kulturhistoriker Bernhard Kathan. Er hat kürzlich
fünfunddreissig Objekte aus seinem Fundus ausgestellt unter dem Titel
«Strick, Badeanzug, Besamungsset. Ein Nachruf auf die kleinbäuerliche
Kultur».
Johannes E. Trojer, über dessen Nachlass am Brenner-Archiv derzeit geforscht
wird, hätte seine Freude mit diesem Text gehabt! Wie Trojer (Villgrater
Autor, Historiker, Dichter, Volkskundler) lebt auch Kathan als Künstler ganz
nah an der Alltagskultur, verwebt das Kleine, das Konkrete, die
ungeschminkte Wirklichkeit mit dem Hintergründigen und Geheimnisvollen, mit
der Poesie. Er reflektiert den Befund kritisch und nimmt ihm doch niemals
seine Würde. Wie Trojer schafft es auch Kathan, das Verschwindende
verschwinden zu lassen, es nicht aufhalten zu wollen und es doch lebendig zu
halten. Im Benennen wird interpretiert, im Verknüpfen der einzelnen Facetten
steckt schon die Reflexion. Das Wissen um die Dinge spielt eine
Schlüsselrolle, doch dieses Wissen ist nicht nur aufzählend und nie
oberflächlich, es dringt zu den Unterschichten vor.
Kathans Text weist noch eine weitere Dimension auf. In manchen
Passagen reflektiert er die kleinbäuerliche Kultur im Kontrast zur
Gegenwart. Wird aus dem Blickwinkel unserer ‚fortschrittlichen' und hoch
spezialisierten Gesellschaft das ‚einfache' bäuerliche Leben häufig
(klischeehaft) als rückständig und konservativ klassifiziert, so entlarvt
Kathan umgekehrt unsere heutige hoch entwickelte und spezialisierte
Lebensform als vergleichsweise arm und reduziert. Während die Kleinbauern
überhaupt nur überleben konnten, wenn sie untereinander und mit der Natur
auf Tuchfühlung waren, so leben wir Zeitgenossen abgespalten von einem
nachvollziehbaren Sinnzusammenhang. Vielleicht kann man es so sagen: Heute
überlebt man im Allgemeinen ohne Mühe, dafür gerät man leicht in die Gefahr
zu vegetieren.
Dazu ein Zitat: "Die kleinen Bauern bedienten sich vielfältigster
Körpergesten. Sie teilten sich aber auch mit den durch Werkzeuge
verursachten Geräuschen mit, etwa mit Hilfe eines Dengelhammers.
Motorbetriebene Maschinen eröffneten diesbezüglich neue
Artikulationsmöglichkeiten. […] Heutigen Dörfern ist die Musikalität
früherer Jahrhunderte abhanden gekommen. Heute kennen auch sie den Lärm, den
des Straßen- oder Flugverkehrs, den von Traktoren und Rasenmähern.
Irrtümlicherweise wird Lärm vor allem mit Lautstärke assoziiert. Tatsächlich
werden Geräusche nur dann als Lärm empfunden, hat sich das gemeinsame
Sinngefüge aufgelöst."
Bernhard Kathans eigenwillige Dokumentation ist allen zu empfehlen,
die sich für den Alpenraum und seine Kulturgeschichte interessieren, sei es
von innen betrachtet oder von außen, von einem anderen Landstrich, her
blickend. Daneben ist das Buch auch als paradigmatische Reflexion über den
Zusammenhang von Lebensbedingung und Lebensform wichtig. Es ist weiters eine
Geschichte über die Menschen, eine Sammlung von Begebenheiten und
Kuriositäten, die nicht nur schmunzeln lassen, sondern auch die eine oder
andere philosophische Betrachtung anzuregen vermögen. Dieses Buch liest man
nicht nur einmal, man kann es immer wieder aufschlagen und mittendrin zu
schmökern beginnen. Und vielleicht findet man darüber einen Zugang zu
anderen Arbeiten Bernhard Kathans, was sehr lohnend wäre. Kathan entwickelt
schon seit vielen Jahren Projekte im Schnittfeld zwischen Kulturhistorie,
Kunst im öffentlichen Raum, Poesie und Spiritualität, wobei keiner dieser
Bereiche im herkömmlichen, sondern im Kathan'schen Sinn zu verstehen ist.
Bernhard Kathan: Strick Badeanzug Besamungsset. Nachruf auf die
kleinbäuerliche Kultur, StudienVerlag 2006.
Bernhard Kathan: Nichts geht verloren, Libelle Verlag 2006.
Wieland Elfferding, Da kommt nichts weg. Bernhard Kathan leistet mit einer
Studie, einer Erzählung und einer Ausstellung Erinnerungsarbeit. Freitag
2006/41.
| der Freitag |
Wieland Elfferding, Echtheits-Sehnsucht und Erbe der kleinbäuerlichen
Kultur. Gedanken zu Bernhard Kathans Work in Progress, NZZ 27/08/2005
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