Moderne Wiedergänger
Ein Projekt von Bernhard Kathan


Photographie: Bernhard Kathan



An den Außenflächen sind Drahtreifen zu sehen, von denen behauptet wird, sie seien von einem Toten geformt, an die Tür gehängt oder an einer anderen auffallenden Stelle hinterlegt worden. In der bäuerlichen Kultur hat sich die Vorstellung von einem diesseitigen Fortleben nach dem Tod bis heute erhalten. Dabei werden all diese Wiedergänger als bedrohlich wahrgenommen. Mögen sie auch verlorengegangene Dinge hinterlegen, um Helfer handelt es sich nicht. Sie bewegen sich in einer anderen Zeit, sind energetisch und physikalisch anders organisiert. Sie erzeugen Geräusche und hinterlassen Spuren, ohne sichtbar zu sein. Und teilen sie sich mit, dann hat dies meist Tod und Unglück zur Folge. Die kleinen Bauern hatten ein schwieriges Verhältnis zu den Verstorbenen. Sie verdankten ihnen zwar nahezu alles, mussten aber ständig ihre Wiederkehr fürchten.
Erstmals in der Geschichte der Menschheit leben wir in einer Gesellschaft, in der zwar nicht der Tod, aber die Toten ihre Bedrohung verloren haben. Dies verdankt sich nicht nur den Entwicklungen der modernen biotechnischen Medizin, entscheidender ist, dass einst notwendige familiale Bindungen und Verpflichtungen an Bedeutung eingebüßt haben. Aber auch die moderne Gesellschaft kennt Vorstellungen von einem diesseitigen Weiterleben nach dem Tod. Im Innenraum unterhält sich eine illustre Tischgesellschaft über moderne Wiedergänger, über ein diesseitiges Weiterleben nach dem Tod. Zu Gast sind: Alexander Kluge, Waleri Brjussow, Peter Lorenz, Herbert W. Franke, Paul Mantegazza, Cyrano de Bergerac, Franz Werfel, Max Haushofer, Ludwig Wittgenstein, Maurice Renard. Sie haben die Möglichkeit, den Platz all dieser Gäste einzunehmen, sich durch Geschichten zu lesen zwischen einem einfachen, aber doch üppigen Gedeck.


Photographie: Bernhard Kathan



Objekttexte:

HEMD Der Geliebte ist gestorben. Wie noch länger seine Gegenwart spüren? Fotos oder vor langer Zeit geschriebene Briefe eignen sich nicht. Sie verweisen auf Vergangenes. Der Weg führt zum Kleiderschrank. In den Hemden, die er getragen, mag er noch gegenwärtig sein. Die Geliebte drückt ihr Gesicht in das Tuch, reibt sich am Stoff, als würde sie sich an die Haut des Geliebten schmiegen. Als Gachmuret im Kampf fällt, zerreißt Herzeloyde ihr Hemd. Sie will sein Hemd tragen, das zerfetzte und blutbespritzte, so als wollte sie die Schläge und Wunden, die er empfing, auf eigener Haut spüren, Vergangenes in die Gegenwart ziehen. Gerüche verflüchtigen rasch, Erinnerungen und Bilder verblassen, und schon liegt die Geliebte in den Armen eines anderen. Nicht so Herzeloyde. Im Kind, das sie in ihrem Schoß trägt, wird Gachmuret fortleben. Was aber, schlägt das Kind aus der Art?

MESSER Ein Philosoph, alt und des Lebens überdrüssig, lädt seine Freunde zu einem üppigen Mahl. Während des Essens erklärt er, warum er genug vom Leben habe. Stimmen seine Freunde ihm zu, so nennt er jenen, die ihm am nächsten stehen, Ort, Tag und Stunde. Bevor sie ihn aufsuchen, reinigen sie sich, fasten. Dann treffen sie sich vor dem Bett des Philosophen, der einen nach dem andern umarmt. Und während er den zärtlich küsst, den er am liebsten hat, stößt er sich einen Dolch ins Herz. Nun trinken die Freunde so lange vom Blut des Toten bis sie gesättigt sind. Und haben sie sich Schlafen gelegt, führt man jedem von ihnen ein sechzehn- bis siebzehnjähriges Mädchen zu, und so lange sie sich vom Fleisch des Toten ernähren, geben sie sich den Freuden des Körpers hin, in der Hoffnung, ein Kind werde aus dieser Vereinigung hervorgehen. Um sicher zu sein, dass es ihr Freund ist, der da wieder auflebt, essen sie das Fleisch roh. Sokrates, der angesichts seines Todes die um ihn weinenden Freunde beruhigt, trifft sich mit Christus beim letzten Abendmahl. Was aber, hat einer keine Freunde, kein Messer, sich selbst zu töten, was, fehlt es an hübschen Mädchen, was, verschmähen die Freunde warmes Blut und rohes Fleisch!

GEWEBEPROBE Wie für Pflanzen, Insekten, Säugetiere, Zahnräder, Autos und Traktoren, Nägel, Waschmittel oder Düngestoffe lassen sich auch für Wiedergänger Arten und Familien nennen. Da finden sich solche, die nach ihrem Tod aktiv sind, deren Aktivität aber rasch abnimmt. Neben Einzelgängern finden sich Horden, manche sind an Orte oder jahreszeitliche Rhythmen gebunden. Bei all diesen Arten handelt es sich um Auslaufmodelle. Es wird kein Nachtvolk mehr geben, welches sich nachts vor Fenstern drängt, auf Dächern lärmt, Balken knarren oder Türen schlagen lässt. Die Wiedergänger der Zukunft haben sich die Dinosaurier und das Mammut zum Vorbild genommen. Kältekammern sind nötig, um so lange konserviert zu sein, bis es der technische Fortschritt erlaubt, wieder zu neuem Leben erweckt zu werden. Vielleicht wird es die Biotechnologie in der Zukunft ermöglichen, Tote selbst aus dem Speichel, den ein Liebender beim Zukleben eines Briefes an seine Geliebte verschwendete, zu rekonstruieren. Aber was für ein Erwachen würde das sein! Wo bleibt die Geliebte? Gäbe es sie, würden sich die beiden wiedererkennen? Angesichts diesbezüglicher Hoffnungen von Wladimir Majakowski (er nahm sich am 14. April 1930 das Leben) ruft Waleri Brjussow aus: "Erweckt mich nicht!"

HAND Angehörige trösten sich über den Tod des Kindes, Partners, Bruders oder Schwester damit hinweg, dass zumindest sein oder ihr Herz, die Niere oder Lunge überlebe, dass das verpflanzte Organ jemand ein zweites Leben schenke. Nach einem schweren Motorradunfall in ein Krankenhaus eingeliefert, wurde Hans P. für hirntot erklärt. Neben mehreren inneren Organen wurde auch eine seiner Hände (mit großen Teilen des Unterarmes) transplantiert. Den Ring, den er trug, ging im Krankenhaus verloren. Hans P.s Frau Sieglinde beanspruchte ein Besuchsrecht. Ihr Mann lebe in seiner Hand fort. Es seien seine Zellen. Wäre es nicht so, dann bedürfte es keiner Immunsuppressiva. Sie erhält keine Auskunft über den Empfänger des Organs. Sieglinde schafft es nach langen Recherchen, den Empfänger ausfindig zu machen. Die Begegnung mit der Hand erweist sich als ernüchternd. Die einst beweglichen Finger sind ungelenk, verfärbt, am Ringfinger steckt ein anderer Ring.

RING Wird der Körper des Menschen nach dem Tod in seine Bestandteile zerlegt, so lassen sich etwa sieben große Nägel herstellen, 98 Kubikmeter Leucht- und Wasserstoffgas, 20 Kaffeelöffel Salz, fünfzig Stück Würfelzucker, 42 Liter Wasser. Mit dem Fett eines Menschen ließe sich ein großer Saal fünf Stunden lang beleuchten. Ginge es nach A., dann wäre Brahms zu hören. Die Siderofilen wollen nach ihrem Tod weder begraben, noch verbrannt werden. Sie lassen ihren Körper in seine Bestandteile zerlegen. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem dem Eisen, aus dem sie für ihre Freunde Ringe, Medaillen oder Gegenstände des täglichen Gebrauchs anfertigen lassen. Zahngold dient der Oberflächenpolitur. Sich bereits zu Lebzeiten siderofilen Neigungen hinzugeben, birgt Risiken. Wer aus dem Eisen seines Blutes einen Ring für die Geliebte herstellen lässt, kann an Erschöpfung sterben. Und womöglich verschmäht die Geliebte den Ring, wäre ihr doch eine Pendeluhr lieber.

WOLFSMILCHPRÄPARAT Der Gartenliebhaber möchte in seinem Garten bestattet sein, ob begraben, verbrannt und als Asche verstreut, ist von untergeordneter Bedeutung. So oder so gehen Kohlenstoff und Wasserstoff als Kohlensäure und Wasserdampf in die Atmosphäre über. Es bleiben salpeter- bzw. schwefelsaure Salze. Ob Pfingstrose, Salbei oder Wolfsmilch, die Pflanzen des Gartens werden sich davon nähren. Den Kohlenstoff entnehmen sie der Luft. Sie produzieren fotosynthetisch Stärke, Eiweiß und Fett, und werden so wiederum zur Nahrung von Mensch und Tier. Jedes Lebewesen ist so als Gelenk des Ganzen zu sehen. Aber, von Jahrhundert zu Jahrhundert vermehren sich jene Atome, die schon Bestandteile menschlicher Körper waren. Ein immer dichter, immer lebendiger werdender Strom von Menschheitsatomen. Keiner, der unter Menschen lebt, kann der Macht dieses Stroms entrinnen. Jeder schwimmt in seinen Wellen und wird in ihm selber zur Welle. Wir ernähren uns von den Geschlechtern, die vor uns lebten und werden wieder Nahrung für die Nachwelt. Was aber, haben alle Atome ihre Jungfräulichkeit verloren. Den Garten wird dies wenig kümmern, ebenso die Pflanzen, die in ihm wachsen.


Photographie: Bernhard Kathan


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