ANSTALTSTHEOLOGIE
Zu Daniel Paul Schrebers Gotteserfahrungen




"In der Nacht - und zwar, soviel ich mich erinnere, in einer einzigen Nacht - trat der niedere Gott (Ariman) in die Erscheinung. Das glanzvolle Bild seiner Strahlen wurde - während ich im Bette lag, aber nicht schlafend, sondern in wachem Zustande - meinem geistigen Auge [...] sichtbar, d.h. spiegelte sich auf meinem inneren Nervensystem. Gleichzeitig vernahm ich seine Sprache; diese war aber nicht - wie sonst bei dem Gerede der Stimmen vor und nach jener Zeit ausnahmslos der Fall gewesen ist - ein leises Geflüster, sondern ertönte gleichsam unmittelbar vor den Fenstern meines Schlafzimmers in mächtigem Baß. Der Eindruck war ein gewaltiger, so daß wohl jemand, der nicht, wie bei mir der Fall war, auch gegen schreckhafte Wundereindrücke bereits abgehärtet gewesen wäre, bis in Mark und Bein hätte erschüttert werden können. Auch was man sprach, klang keineswegs freundlich; alles schien darauf berechnet, mir Furcht und Schrecken einzuflößen und das Wort `Luder' - ein der Grundsprache ganz geläufiger Ausdruck, wenn es sich darum handelte, einen von Gott zu vernichtenden Menschen die göttliche Macht und den göttlichen Zorn empfinden zu lassen - wurde oft gehört. Allein alles, was man sprach, war echt, keine auswendig gelernten Phrasen, wie später, sondern der unmittelbare Ausdruck der wirklichen Empfindung. Darum war auch der Eindruck auf mich ganz überwiegend nicht der einer bangen Furcht, sondern der einer Bewunderung des Großartigen und Erhabenen; darum war auch die Wirkung auf meine Nerven ungeachtet der in den Worten zum Teil enthaltenen Beschimpfungen ein wohltätiger und ich konnte daher nicht umhin, als die `geprüften' Seelen, die sich eine Zeitlang scheu zurückgehalten hatten, nach einiger Zeit sich wieder vorwagten, meinen Gefühlen wiederholt in den Worten Ausdruck zu geben `O wie rein!' - der Majestät der göttlichen Strahlen gegenüber - und `O wie gemein!' - den geprüften Seelen gegenüber. - Dabei lasen die göttlichen Strahlen meine Gedanken, aber nicht, wie seitdem ausnahmslos geschieht, fälschend, sondern richtig, brachten dieselben auch selbst in wörtlichen Ausdruck in das der natürlichen Bewegung der menschlichen Nerven entsprechende Versmaß, [...] so daß ich von dem Ganzen ungeachtet aller schreckhaften Nebenerscheinungen einen beruhigenden Eindruck empfing und schließlich in Schlaf verfiel."
Daniel Paul Schreber, "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken"

Die menschliche Seele sei in den Nerven des Körpers enthalten. Diese seien von außerordentlicher Feinheit, den feinsten Zwirnsfäden vergleichbar. Auf ihrer Erregbarkeit beruhe das gesamte geistige Leben des Menschen. Durch äußere Eindrücke würden sie in Schwingung versetzt, was Gefühle von Lust und Unlust zur Folge habe. Während ein Teil der Nerven bloß zur Aufnahme sinnlicher Eindrücke diente, bildeten die Verstandesnerven das menschliche Gedächtnis. Solange der Mensch lebe, sei derselbe Körper und Seele zugleich. Mit dem Tod trete für die Nerven ein Zustand der Bewusstlosigkeit ein. Da sich jedoch alle empfangenen Eindrücke in den Nerven eingeschrieben hätten, falle die Seele nur in eine Art Winterschlaf und könne durch Gott wieder zu neuem Leben erweckt werden.

Gott sei nur Nerv, nicht Körper, demnach etwas der menschlichen Seele Verwandtes. Im Gegensatz zu den menschlichen Nerven seien die Gottesnerven in unbeschränkter Zahl vorhanden, unendlich oder ewig. Als "Strahlen" besäßen sie die Fähigkeit, sich in allen möglichen Dingen der erschaffenen Welt zu materialisieren. Auch wenn sich Gott an seiner Schöpfung erfreue, ein unmittelbares Eingreifen Gottes in die Geschicke der einzelnen Menschen und Völker finde in der Regel nicht statt, da dies für Gott mit gewissen Gefahren verbunden sei, da insbesondere die Nerven lebender Menschen im Zustande hochgradiger Erregung eine so große Anziehungskraft auf die Gottesnerven ausübten, dass Gott nicht wieder loskäme, also in seiner eigenen Existenz bedroht wäre. Nur Leichen könne sich Gott ohne Gefahr nähern. Und er mache dies, um die Nerven aus dem Körper heraus- und zu sich hinaufzuziehen. Zu neuem himmlischen Leben erweckt, gingen diese in die Seligkeit ein, einen Zustand ununterbrochenen Genießens, einer hochgesteigerten Wollustempfindung, allerdings erst nach Durchlaufen eines Läuterungsprozesses, der notwendig sei, sollten sie doch als "Vorhöfe des Himmels" in Gott selbst aufgehen, spätestens dann, wenn sie jede Erinnerung an ihre menschliche Existenz abgestreift hätten.

Soweit einige der Grundzüge der von Daniel Paul Schreber in seinen "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" skizzierten Theologie. Unübersehbar verdankt sich diese unmittelbaren Erfahrungen, die er zwischen 1893 und 1902 als Patient in drei Nervenanstalten gemacht hat. Wir haben es mit Anstaltstheologie zu tun. Hinter den beiden von Schreber genannten Gottheiten, nämlich dem oberen Gott (Ormuzd) und dem unteren Gott (Ariman), sind unschwer die behandelnden Ärzte Paul Flechsig, Leiter der Nervenklinik in Leipzig, und Guido Weber, Leiter der Anstalt Sonnenstein, zu erkennen. Nicht vom oberen oder unteren Gott, sondern von ihnen nahm die an Schreber betriebene "Menschenspielerei" ihren Ausgang. Die beiden lassen in vielem an die beiden Götter denken, wenngleich sie im Text nur als "geprüfte Seelen" ihren Unfug treiben. Schrebers Seelen- bzw. Nervenlehre ist alles andere als weithergeholt, befand er sich doch in einer Anstalt für Nervenkranke, galt doch Flechsigs wissenschaftliches Interesse dem menschlichen Gehirn bzw. dem Nervensystem. Anders als von Schreber dargestellt, verdanken sich viele seiner Bilder weniger den Zuflüsterungen von Stimmen, mag er solche auch ständig vernommen haben, als der damals auch für Laien zugänglichen Literatur zum Nervensystem oder technischen Neuerungen wie dem Telefon: "Es liegt vermutlich eine ähnliche Erscheinung vor wie beim Telefonieren, d.h. die nach meinem Kopfe ausgesponnenen Strahlenfäden wirken ähnlich wie die Telefondrähte, so daß die an und für sich nicht allzu kräftige Klangwirkung der anscheinend in sehr bedeutender Entfernung ausgestoßenen Hilferufe in derselben Weise nur von mir empfunden werden kann, wie nur der telefonisch angeschlossene Adressat, nicht aber beliebige dritte Personen, die sich zwischen der Ausgangsstelle und dem Bestimmungsorte befinden, das mittelst Telefons Gesprochene zu hören vermögen." Die beiden Götter Ormuzd und Ariman verdanken sich nicht den Tiefen des Alls, sondern der Lektüre von Büchern, so etwa Lord Byrons "Manfred".

Gott kenne den lebenden Menschen nur in seiner äußeren Erscheinung, sein Innenleben, also seine wirklichen Gedanken und Gefühle, sei ihm völlig unbekannt. Er sei unfähig, den Menschen als lebenden Organismus zu verstehen. Er kenne den lebenden Menschen nicht und brauche ihn nicht zu kennen, da er nur mit Leichen verkehre. Er sehe nur die "pathologische Hülle", die das wahre Geistesleben verdecke. Das galt vor allem für Flechsig, der Nervenkrankheiten an Gehirnen von Leichen zu erforschen suchte. Da aber Gott bzw. Flechsig "mit dem lebenden Menschen nicht umzugehen wußte, sondern nur den Verkehr mit Leichen oder allenfalls mit dem im Schlaf daliegenden (träumenden) Menschen gewöhnt war", hatte sich Schreber "gewissermaßen beständig wie eine Leiche [zu] verhalten". So suchte er möglichst regungslos auf dem Stuhl vor seinem Tisch zu sitzen und wagte es nicht, nachts seine Lage im Bett zu verändern: "Ich hatte die [...] Anschauung gewonnen, daß die Strahlenverluste sich steigerten, wenn ich mich selbst öfters hin und her bewegte (ebenso wenn ein Luftzug durch mein Zimmer ging), und bei der heiligen Scheu, die ich damals den göttlichen Strahlen gegenüber im Bewußtsein ihrer hohen Zwecke noch empfand, und zugleich in der Ungewißheit, ob es denn wirklich eine Ewigkeit gebe oder nicht die Strahlen auf einmal ein plötzliches Ende finden könnten, hielt ich es für meine Aufgabe, jeder Vergeudung von Strahlen, soweit es an mir lag, entgegenzuwirken."
"Hochgradige Nervosität", auch als "Wollustgefühl" beschrieben, übe eine höchst anziehende Wirkung auf Gott aus. "Hochgradig nervös" war Schreber während seiner Unterbringung in der Leipziger Nervenklinik auf jeden Fall. Und so sei denn auch Gott, "der früher in ungeheuerer Entfernung von der Erde lagerte", genötigt worden, sich näher an die Erde heranzuziehen. Gelänge es Gott nicht, genügend Abstand zu halten, so erginge es ihm wie den "geprüften Seelen", die, statt in Gott aufzugehen, von Schreber heruntergezogen, aufgesogen und absorbiert, also vernichtet würden. Schon seines Selbsterhaltungstriebes wegen habe sich Gott immer wieder zurückziehen müssen. Deshalb habe er "alle Hebel in Bewegung [gesetzt], um dem Schicksale, mit immer weiteren Teilen der Gesamtmasse in meinem Körper unterzugehen, zu entrinnen, wobei man auch in den Mitteln keineswegs wählerisch verfuhr". Alle Angriffe auf Schrebers körperliche Integrität, "meine Mannheit und meinen Verstand", hätten stets nur das Ziel gehabt, Gott zu ermöglichen, sich der Anziehungskraft seiner überreizten Nerven wieder zu entziehen.

Es fällt nicht schwer, solche Bilder als Ausdruck des Beziehungsgefüges von Arzt und Patient zu deuten. Aus vielen Gründen muss sich Flechsig, wie später auch Weber, für Schreber als Patienten interessiert haben. Er hatte es nicht nur mit einer prominenten Persönlichkeit zu tun, Schreber war aufgrund seiner Vitalität, seiner Bildung und der Üppigkeit seiner Sprache und Bilder ohne jeden Zweifel ein höchst interessanter Fall. Zunächst dürfte sich Flechsig, Schreber war bereits Jahre zuvor bei ihm in Behandlung gewesen, wie in anderen Fällen wohlwollend um den Kranken angenommen haben. Je erregter und verwirrter Schreber wurde, umso mehr beschäftigte sich Flechsig, sei es aus ärztlicher Pflicht oder wissenschaftlicher Neugier, mit seinem Patienten. Aber dann sei ihm "die Sache sozusagen unheimlich geworden", weshalb er sich zurückgezogen habe. Um die Osterfeiertage 1894 sei "mit der Person des Professor Flechsig eine wichtige Veränderung vorgegangen". Gut denkbar, dass Flechsig den Verkehr mit Schreber bedrohlich fand. Es gibt ja die Angst im Umgang mit psychotischen Patienten, von ihrer Nervosität angesteckt, also selbst verrückt zu werden; um es mit den Worten eines Psychiaters zu formulieren, die mir in Erinnerung geblieben sind: "Der Wahn schwappt über." Die diesbezügliche Angst kommt etwa dort zum Ausdruck, wo sich Schreber als Lepraleiche, also als infektiös erlebt: "Ich bin die erste Lepraleiche und führe eine Lepraleiche", eine Beschwörungsformel, die darauf hinauslief, "daß die an der Lepra Erkrankten sich als dem sicheren Tode verfallen zu betrachten und einander beim Eingraben in die Erde zur Herbeiführung eines mindestens erträglichen Todes behilflich zu sein hatten."

Sich auf Schreber einlassen, das hätte für Flechsig bedeutet, den sicheren Boden der naturwissenschaftlichen Medizin zu verlassen. Einfacher war es, Schreber als Fall unter Fällen, seine absonderlichen Bilder als Ausdruck einer organischen Störung zu betrachten und ihnen jede Bedeutung, jede menschliche Erfahrung abzusprechen. Mit brachialen Medikamentengaben suchte Flechsig Schreber in einen tiefen Schlaf, in einen todähnlichen Zustand zu versetzen, also zum Schweigen zu bringen. Auch das macht die Vorstellung verständlicher, nach der Gott den lebenden Menschen nicht kenne und sich nur Leichen nähern könne, dass Gott, so er sich bedroht fühle, sich in die Tiefen des Alls zurückziehen müsse. Wie der Schreber'sche Gott bediente sich Flechsig zu seinem Schutz verschiedenster Techniken. Hier wäre etwa das "Anbinden an Erden" zu nennen, das Gott erlaube, sich nicht der "hochgradigen Nervosität" aussetzen zu müssen: "Wie schon der Ausdruck besagt, fand dabei ein Anbinden an irgendwelchen entfernten Weltkörpern statt, so daß von da ab die Möglichkeit eines vollständigen Aufgehens in meinem Körper infolge der Anziehungskraft ausgeschlossen, vielmehr der Rückzug durch die damit geschaffene mechanische Befestigung gesichert war." Ein treffendes Bild. Es lässt an ein Sicherungsseil denken, welches davor bewahrt, in einen Abgrund zu stürzen. Um sich wieder zurückziehen zu können, kamen "Störungen", von Schreber als "Wunder" betrachtet, höchst gelegen. Wie willkommen sind doch im Krankenhausalltag vielerlei Störungen, die es erlauben, Dringlicheres vorzugeben, um nicht hinhören oder antworten zu müssen. Spätestens in jenem Augenblick, als Flechsig Schreber als unbehandelbar in die Anstalt Sonnenstein überstellen ließ, konnte er sich ganz zurückziehen, mochten sich die Gedanken seines vormaligen Patienten auch noch lange um ihn drehen.

Umgekehrt strengte sich auch Schreber an, suchte er doch Gott bzw. Flechsig herunterzuziehen und an sich zu binden. Das Leiden schien ihm erträglicher, "lag" Gott in der Nähe: "Alle die erwähnten irrtümlichen Vorstellungen [...] scheinen erst zu verschwinden, wenn Gott in größere Nähe gekommen ist und nun auf einmal an meinem Verhalten, an meinen Beschäftigungen, nach Befinden auch an meiner Sprache im Verkehr mit anderen Menschen usw. wahrnimmt, daß er es immer noch mit demselben geistig vollkommen ungeschwächten Menschen zu tun habe." Das Gegenteil sei der Fall, ziehe sich Gott in eine größere Entfernung, gar in die Tiefen des Alls zurück. Selbst alltägliche Geräusche, jedes in der Nähe gesprochene Wort, jeder Schritt, selbst Geräusche, die aus der Ferne zu hören waren, wie der Pfiff einer Eisenbahn oder ein Böllerschuss, "der etwa bei Vergnügungsfahrten von Dampfern abgegeben wird", steigerten sich ins Unerträgliche. Um Gott in seine Nähe zu ziehen, meinte Schreber ihn von seiner Harmlosigkeit überzeugen zu müssen. Er verharrte möglichst reglos, verhielt sich also leichenähnlich. Auch sein "Denkzwang" ist hier zu nennen. Ständig suchte er zu zeigen, nicht verblödet zu sein, meinte er, "Gott gegenüber den präsenten Beweis der Unversehrtheit meines Verstandes" liefern zu müssen. Letztlich ist auch sein weibliches Posieren, seine Darbietung als liebreizendes und empfangendes Geschöpf, bekanntlich kleidete er sich gerne als Frau und schmückte sich mit bunten Bändern und allerlei Tand, in diesem Zusammenhang zu sehen. Da Gott all diese Bemühungen oft genug abstießen, reagierte Schreber mit Wutausbrüchen und endlosen Beschimpfungen.

Dass Schreber Flechsig gottähnlich erlebte, ist affektiv gut nachvollziehbar. An einer Stelle erwähnt er, wenn auch ambivalent und nicht ohne Ironie, eine geradezu eucharistische Einverleibung dieses Gottes. Vorübergehend habe er die Seele des Professor Flechsig im Leib gehabt: "Es war ein ziemlich umfänglicher Ballen oder Knäuel, den ich am ehesten mit einem entsprechenden Volumen Watte oder Spinngewebe vergleichen möchte, der mir im Wege des Wunders in den Bauch geschleudert worden war, vermutlich, um darin seinen Untergang zu finden. Diese Seele im Leibe zu behalten, sozusagen zu verdauen, wäre bei dem Umfang derselben wahrscheinlich ohnedies eine Unmöglichkeit gewesen; ich entließ dieselbe jedoch, als sie sich zu befreien strebte, freiwillig, einer Art Regung des Mitleids folgend, und sie entrang sich darauf durch meinen Mund wieder nach außen." Die Einverleibung wurde, so als ließe man einen Film rückwärts ablaufen, wieder rückgängig gemacht. Während sich in anderen Körperbildern das Einverleibte auf die Oberschenkel ergießen kann, muss hier die Ausscheidung durch den Mund geschehen. In einem Traum Schrebers bezeichnet sich Flechsig seiner Frau gegenüber als "Gott Flechsig", worauf diese ihren Mann für verrückt hält. Und so werden denn auch die "Heilanstalten für Geisteskranke" zu "Nervenanstalten Gottes", Flechsigs Diagnosen, die eine Rückkehr in die erworbene Stellung unmöglich machten und eine Unterbringung in einer Pflegeanstalt zur Folge hatten, zu "Gottesgerichten".

Üblicherweise sollten sich Ärzte bemühen, Patienten, die sich ihnen anvertraut haben oder ihnen anvertraut wurden, zu verstehen. Tatsächlich sind es die Kranken, die sich in ihre Ärzte hineindenken. Schrebers "Denkwürdigkeiten" illustrieren das sehr gut. Nicht Flechsig hat sich in Schreber, Schreber hat sich in Flechsig und viele andere hineingedacht. So betrachtet erweist sich seine üppige Theologie als ganz diesseitig und höchst konkret. Die unermesslichen Tiefen des Alls, in die sich Gott zurückziehe oder zurückzuziehen drohe, von Schreber wiederholt erwähnt, reichten in Wirklichkeit nicht über den Anstaltshorizont hinaus. Nur wenige Gehminuten trennten Schreber in den Anstalten von Gott. Schreber war tatsächlich bemüht, Flechsig und Weber zu verstehen, suchte er doch ihre "geprüften Seelen" herunterzuziehen und in sich aufzusaugen. Die beiden gingen schließlich in ihm auf. Er begann die Welt mit ihren Augen zu sehen. Seine Bilderwelt trägt dementsprechend Flechsig'sche und Weber'sche Züge. Sie prägten sein Gottesbild. Der Schreber'sche Gott kennt keine Erfahrungen, kann nichts lernen. Vor allem ist er blind. Um die Welt, all das von ihm ins Werk Gesetzte zu sehen, bedarf er der Augen eines lebenden Menschen, der Augen Schrebers. Aus seinen Augen schaut Gott hervor. Der Schreber'sche Gott kennt keine Empathie und wird vor allem von Egoismus beherrscht. Obwohl ein Parasit, so fürchtet er sich doch vor der Nähe jener, von denen er lebt und ohne die er selbst nichts empfinden, nichts sehen könnte. Man muss nur einige Schritte zurücktreten, um hinter den auf den ersten Blick abstrusen Weltvorstellungen die erlebte Sprachlosigkeit zu sehen, Schrebers Bemühen, von jenen gehört zu werden, in deren Macht es lag, über ihn zu bestimmen. Dass sich in den "Denkwürdigkeiten" nicht eine einzige Stelle findet, in der Schreber wohlwollend die Leidensgeschichte eines anderen Mitinsassen erwähnt, mag zwar irritieren, muss dazu aber nicht in Widerspruch stehen.

Schreber muss Flechsigs Rückzug als höchst bedrohlich erlebt haben. Flechsig hatte er sich anvertraut, hatte gehofft, durch ihn von seinen Leiden befreit zu werden. Tatsächlich verschlimmerte sich sein Zustand, da er erleben musste, dass die geltende Weltordnung mit ihrer Sittlichkeit außer Kraft gesetzt war und nur noch "das Recht des Stärkeren" entschied. Mit dem Stärkeren ist zweifellos Flechsig gemeint, mag Schreber auch schreiben, dass sich "Gott [...] selbst außerhalb der auch für ihn maßgebenden Weltordnung gestellt" habe, wozu er durch die Flechsig'sche Seele verleitet worden sei, die sich vermöge ihrer Intelligenz "gewisse technische Vorteile" über die "mit ihr in Berührung kommenden Gottesnerven zu verschaffen gewußt" habe. Gott, also Flechsig, hätte ihm den zu seiner Heilung nötigen Schlaf verschaffen können, hätten nicht andere Interessen eine Rolle gespielt. Deshalb habe man ihn "liegenlassen, d.h. verlassen", und das, obwohl die Hochgradigkeit seiner Nervenüberreizung "die Grundbedingung der Existenz" der ihn behandelnden Ärzte bildete: "Ich selbst war ihnen nur das Mittel zum Zweck, die durch die Anziehungskraft herbeigeführten göttlichen Strahlen abzufangen, mit denen sie dann sich wie der Pfau mit fremden Federn schmückten, Wundergewalt erlangten usw. Daher war es von Wichtigkeit für sie, über meinen Körper eine gewisse Verfügungsgewalt zu behaupten."

Dass sich die beiden Götter Ormuzd und Ariman nicht irgendwelchen mystischen Erlebnissen, sondern unmittelbaren Erfahrungen mit Flechsig bzw. Weber verdankten, machen die vielen Hinweise zur Rivalität der beiden deutlich. Zwar seien die Flechsig'schen und "von W.'schen" Seelen eine Bundesgenossenschaft eingegangen, hätten sich aber wegen des Professorendünkels der einen und des Adelsstolzes der anderen wechselseitig abgestoßen: "Die von W.'sche Seele schwärmte von einer `von W.'schen Haus- und Primogeniturordnung', die sie am Himmel einrichten und worauf sie ihre `Weltherrschaft' gründen wolle, und mochte an der Seele des ihr im Grunde genommen unsympathischen nationalliberalen Professor Flechsig zuweilen kein gutes Haar lassen. Diese hinwiederum glaubte im Gefühl einer vermeintlichen geistigen Überlegenheit auf die v. W.'sche Seele mit einer gewissen Verachtung herabsehen zu dürfen. Die v. W.'sche Seele zeigte auch sonst entschieden aristokratische Allüren, widmete mir z.B. vorübergehend eine größere Hochachtung, als sie bemerkte, daß ich beim Essen die Gabel mit der linken Hand zum Munde führte, gab ein besonderes Interesse für eine wohleingerichtete table d'hôte zu erkennen, zeigte aber dann auch wieder ein größeres organisatorisches Talent als die Flechsig'sche Seele, indem sie mit den von ihr erbeuteten Strahlen besser hauszuhalten wußte als diese, daher meist ein glänzendes Strahlenkleid aufwies und eine Zeitlang ein förmliches `Strahlenmagazin' [...] unterhielt." Oder an anderer Stelle: "Das Verhalten des niederen Gottes ist seitdem stets ein mir im ganzen freundlicheres, dasjenige des oberen Gottes ein sehr viel feindseligeres geblieben. Es äußerte sich dies teils in der Beschaffenheit der beiderseitigen Wunder - die Wunder des niederen Gottes haben im Lauf der Zeit immer mehr den Charakter eines verhältnismäßig harmlosen Schabernacks [...] angenommen -, teils in der Einrichtung des beiderseitigen Stimmengeredes. Die vom niederen Gott ausgehenden Stimmen - zwar ebenfalls nicht mehr der echte Ausdruck unmittelbarer, augenblicklicher Empfindung, sondern ein Sammelsurium auswendig gelernter Phrasen - waren und sind immerhin nach Form und Inhalt von denjenigen des oberen Gottes wesentlich verschieden. Inhaltlich sind dieselben zumeist wenigstens nicht geradezu Schimpfworte oder beleidigende Redensarten, sondern kommen sozusagen auf eine Art neutralen Blödsinns hinaus." Die "von W.'sche" Seele habe im allgemeinen die Führerschaft der Flechsig'schen Seele anerkannt, dabei aber eine gewisse Eigenständigkeit behauptet. Sie habe sogar auf das "Anbinden an Erden" freiwillig verzichtet: "Sie saß dann noch längere Zeit - etwa ein Jahr lang - bei mir hauptsächlich in Mund und Augen, mich wenig mehr belästigend, sondern mir sogar eine gewisse Unterhaltung bereitend, indem ich mit derselben eine Art Gedankenaustausch unterhielt, bei dem freilich ich fast stets der gebende und die von W.'sche Seele der empfangende Teil war." Diese wie viele andere Stellen erweisen sich, bemüht man sich um eine Rückübersetzung, als treffende Beschreibungen der Ärzte Flechsig und Weber, zumindest wie Schreber sie erlebt hat.

Es ist nicht einfach, die Schreber'sche Bilderwelt aufzuschlüsseln. Das geringste Problem bilden die vielen Dehnungen oder Verkürzungen von Raum und Zeit. Wegen der "ungeheuren Entfernungen" kann der Satz "Warum sch... Sie denn nicht?" so daherkommen: "W-a-a-a-r-r-u-m-sch-ei-ei-ei-ß-e-e-e-n Sie d-e-e-e-e-n-n-n-i-i-i-i-cht?" Der Satz oder die Frage ist dennoch erhalten geblieben und lautet nach wie vor: "Warum scheißen Sie denn nicht?" Schwieriger ist es, die vielen Verschränkungen und Partialobjekte, die oft genug voller Widersprüche sind, stimmig zu erklären. Flechsig tritt in den "Denkwürdigkeiten" in unterschiedlichen Gestalten auf. Als erstes ist die ehrenwerte Person des Geheimrats Prof. Dr. Flechsig zu nennen. Schreber bezichtigte Flechsig des "Seelenmords", sah in ihm den Ausgangspunkt zahlloser "Schädigungen", die er erlitten hatte. Er nennt den "Verlust einer ehrenvollen Berufsstellung, [...die] Auflösung einer glücklichen Ehe, [... die] Entbehrung aller Lebensgenüsse, [...] körperliche Schmerzen, geistige Martern und Schrecknisse völlig unbekannter Art", Leiden, die ihn an ein Martyrium denken ließen, "in seiner Gesamtheit nur mit dem Kreuzestode Jesu Christi" vergleichbar. Flechsig habe "so wie manche Ärzte, der Versuchung nicht ganz zu widerstehen vermocht, einen ihrer Behandlung anvertrauten Patienten bei einem zufällig sich bietenden Anlasse von höchstem wissenschaftlichem Interesse neben dem eigentlichen Heilzwecke zugleich zum Versuchsobjekte für wissenschaftliche Experimente zu machen", um sich, von "Ehrgeiz und Herrschsucht" getrieben, auf Kosten des Patienten ein längeres irdisches Leben oder irgendwelche anderen, "über den Tod hinausreichenden Vorteile zu verschaffen", um "persönliche Unsterblichkeit" zu erlangen. Auf jeden Fall hatte Schreber ab einem gewissen Zeitpunkt den Eindruck, dass Professor Flechsig "nichts Gutes mit mir im Schilde führe."

Als nächstes haben wir es mit einem abgespaltenen Teil des Professor Flechsig zu tun, der, ohne sich dessen bewusst zu sein, als "Nervenanhang" oder als "geprüfte Seele" mit Schreber in Beziehung tritt und so auf vielfachste Weise einen schädlichen Einfluss auf ihn ausübt. Freilich sei von solchen Dingen nie die Rede gewesen, sei ihm Flechsig als Mensch gegenübergetreten. In den "Denkwürdigkeiten" wird er zwar oft erwähnt, es finden sich allerdings, was den konkreten Kontakt betrifft, nur wenige Stellen. Wie dem Krankenakt zu entnehmen ist, verlangte Schreber, als sich seine "Wahnideen" voll entfalteten, also in der "grausigsten Zeit meines Lebens", mehrfach Zyankali oder Strychnin, um seinem Leben ein Ende zu machen. Er habe solches von dem mit Flechsig "unterhaltenen Nervenanhang" gefordert, also vom abwesenden Flechsig. Dieser habe sich einem solchen Verlangen gegenüber keineswegs ablehnend verhalten, allerdings die Gewährung immer nur "halb und halb in Aussicht" gestellt, auch von Garantien abhängig gemacht oder in Zweifel gestellt, ob er denn das Gift auch wirklich trinken würde. Sei der Professor als Mensch zu ihm gekommen, habe er von solchen Dingen nichts wissen wollen. Eine Lesart kann also lauten: In den Unterhaltungen mit dem Nervenanhang hat Schreber all das durchgespielt, was ihn beschäftigt hat. Dabei können unmittelbare Erfahrungen oder auch Gesprächsfetzen, die er tagsüber aufgenommen hat, ihren Eingang gefunden haben. So bezeichnet der bösartige Nervenanhang, mit dem sich Flechsig geradezu bei Schreber einnistet, die tatsächliche Abwesenheit des Professors. Wir haben es mit einem Puzzle zu tun, bei dem sich viele Teile mühelos zusammensetzen lassen, andere aber wirken, als seien sie durch einen dummen Zufall in das Spiel geraten. Vieles der Schreber'schen Vorstellungswelt lässt sich in konkrete Erfahrungen zurückübersetzen, so etwa das von ihm wiederholt erwähnte "Leichengift". Liest man die "Denkwürdigkeiten" genauer, dann wird deutlich, dass das "Leichengift" metaphorisch gemeint und mit den Phrasen gleichzusetzen ist, die er von Ärzten und Wärtern ständig gehört hat. Die Nerven würden ummantelt, damit sie ihre Schwingungsfähigkeit und das natürliche Empfinden verlören. Wenn das kein treffendes Bild ist für die Sprache, die nicht nur in damaligen Anstalten üblich war!

Ordnung konnte Schreber in seine Welt nur bringen, indem er Flechsig in Teile zerlegte. Neben der ehrenwerten Person führen abgespaltene, durchwegs bösartige Teile gleichsam ein Eigenleben, wobei sie für alle niederen Triebregungen stehen, aus psychoanalytischer Sicht dem ES zuzuordnen sind. Das war allein deshalb nötig, da er mit dem realen Flechsig wie später mit Weber irgendwie klarkommen musste. Die "Denkwürdigkeiten" sind diesbezüglich beredt, finden sich darin doch viele insbesondere an Flechsig gerichtete Vorwürfe. Die "geprüfte Flechsig'sche Seele", die es aus Sicht des Geheimrats gar nicht geben konnte, konnte von Schreber für das erlittene Ungemach verantwortlich gemacht werden. Hätte Flechsig Schreber nach der Veröffentlichung seiner "Denkwürdigkeiten" wegen Rufschädigung geklagt, er hätte sich nur lächerlich gemacht. Als Schreber seine "Denkwürdigkeiten" schrieb, war Flechsig bereits in weite Ferne gerückt: "Die Flechsig'sche Seele ist auch jetzt noch immer in einem dürftigen Reste (irgendwo angebunden) vorhanden; sie hat aber, wie ich sicheren Grund habe anzunehmen, ihre Intelligenz schon längst eingebüßt, d.h. ist ebenfalls völlig gedankenlos geworden, so daß ihre himmlische Existenz, die sie sich in Auflehnung gegen Gottes Allmacht errungen hatte, ihr kaum noch irgendwelche eigene Befriedigung gewähren wird." Und so hatte ihn der Geheimrat zur Sühne des an ihm begangenen Unrechts als "flüchtig hingemachte Scheuerfrau" zu bedienen. Das zeugt von einer tiefen Kränkung ebenso wie von ihrer Verarbeitung.

In diesem Zusammenhang ist auch die "von W.'sche Seele" von Bedeutung. Mit ihr kann nur Guido Weber, der Anstaltsleiter von Sonnenstein, gemeint sein. Schreber konnte Flechsig namentlich, und sei es auch nur als "geprüfte Seele", nennen. Gegenüber Guido Weber war dies nicht möglich, genoss Schreber doch etwa ab 1898 das Privileg, an der Familientafel des Anstaltsdirektors zu essen, wie er auch hinsichtlich der Aufhebung seiner Entmündigung auf dessen Verständnis und Unterstützung hoffte. So machte er ihn zur "von W.'schen Seele".

Schrebers "Denkwürdigkeiten" verleiten dazu, diese im Sinne einer chronologischen, sich linear entwickelnden Erzählung zu lesen, die mit seinem Zusammenbruch beginnt und mit der Aufhebung der Entmündigung endet. Erstmals habe er mit der "v. W.'schen" Seele in der Pierson'schen Anstalt, der "Teufelsküche", in der er während seiner Überstellung in die Anstalt Sonnenstein nur wenige Tage untergebracht war, zu tun gehabt: "Ein besonders bemerkenswerter Fall war der des Herrn v. W., dessen Seele eine Zeitlang ebenso, wie noch jetzt die Flechsig'sche Seele, einen sehr tiefgreifenden Einfluß auf meine Beziehungen zu Gott und demnach meine persönlichen Schicksale ausgeübt hat." Von W. habe damals die Stelle eines "Oberwärters" bekleidet. Er habe ihn nicht als wirklichen Menschen, sondern als "flüchtig hingemachten Mann", als eine "durch göttliches Wunder vorübergehend in Menschengestalt gesetzte Seele" betrachtet. Auch soll "von W." im Wege der Seelenwanderung als "Versicherungsagent Marx" ein zweites Leben auf irgendeinem anderen Weltkörper geführt haben. Tatsächlich hatte er mit Weber erst nach seiner Aufnahme in der Anstalt Sonnenstein zu tun.

Anders als Flechsig taucht Weber in den "Denkwürdigkeiten" also nur als "von W." auf. Gleichsam verfremdend bedient Schreber sich eines Adelsprädikats, während er gleichzeitig den Anstaltsdirektor zu einem "Oberpfleger" oder zu einem "Versicherungsagenten Marx" degradiert. All das ist wenig aus der Luft gegriffen. Während sich Schreber in der Pierson'schen Anstalt befand, müssen hinter seinem Rücken Verhandlungen mit Weber bzw. der Anstalt Sonnenstein stattgefunden haben, "bei irgendeiner von Staats wegen über mich veranstalteten Enquête". So betrachtet war der abwesende Weber anwesend, wenn auch nur als "flüchtig hingemachter Mann". Verständlicherweise brachte er im Nachhinein die Pierson'sche Anstalt wie seine Überstellung, eine gegen ihn gerichtete Machenschaft, mit dem "mächtig gewachsenen Einfluß der v. W.'schen Seele" in Verbindung. Auch muss er Weber spätestens zum Zeitpunkt der Abfassung der "Denkwürdigkeiten" tatsächlich als "Oberpfleger", wenn nicht als "Versicherungsagent Marx" wahrgenommen haben. Im Gegensatz zu Flechsig war Weber durchaus von sozialpsychiatrischen Überlegungen geleitet. Ihm war es zu verdanken, dass Schreber sich an einem Pianino austoben, Schachspielen oder Fahrten in die Umgebung unternehmen konnte. Die von Schreber erwähnten Redewendungen des unteren Gottes lassen sich ohne jeden Zweifel auf Weber zurückführen, etwa wenn dieser meint: "Aller Unsinn (d.h. der Unsinn des Gedankenlesens und Gedankenfälschens) hebt sich auf", oder: "Die dauernden Erfolge sind auf Seiten des Menschen."

Denkt man sich all diese Fragmente als Ganzes, dann scheinen antagonistische Kräfte am Werk, was allein schon Ormuzd und Ariman, die der persischen Mythologie entlehnt sind, deutlich machen. In der mythologischen Überlieferung stehen die beiden für in ständigem Widerstreit befindliche, einander entgegengesetzte Pole - hell und dunkel, rein und schmutzig, oben und unten.

Natürlich bildet Schrebers Bilderwelt die Anstalt und all seine Erfahrungen nicht eins zu eins ab. Diese reflektieren sich in ihr nur. Auch begannen all die Bilder ein Eigenleben zu führen, wurden also Erzählung, die zunehmende Ausgestaltung fand. Die beiden Götter verschmelzen schließlich zu einem Gott, der von höchst widersprüchlichen Impulsen getrieben ist: "Gott ist nun einmal durch die längst unbesieglich gewordene Anziehungskraft meiner Nerven unauflöslich an meine Person gebunden; jede Möglichkeit, von meinen Nerven wieder loszukommen - worauf die von Gott selbst verfolgte Politik abzielt -, ist, außer etwa in dem Falle, daß es noch zu einer Entmannung kommen sollte, auf den noch übrigen Rest meines Lebens ausgeschlossen. Auf der anderen Seite verlangt Gott ein den weltordnungsmäßigen Daseinsbedingungen der Seelen entsprechendes beständiges Genießen; es ist meine Aufgabe, ihm dasselbe, soweit es unter den einmal geschaffenen weltordnungswidrigen Verhältnissen im Bereiche der Möglichkeit liegt, in der Form ausgiebigster Entwicklung der Seelenwollust zu verschaffen; soweit dabei für mich etwas von sinnlichem Genusse abfällt, bin ich berechtigt, denselben als eine kleine Entschädigung für das Übermaß der Leiden und Entbehrungen, das mir seit Jahren auferlegt ist, mitzunehmen; es liegt darin zugleich ein geringer Ausgleich für die vielfachen schmerzhaften Zustände und Widerwärtigkeiten, die ich auch jetzt noch namentlich in den Zeiten, wo die Seelenwollust zurücktritt, zu ertragen habe."

Was sich in Schrebers Theologie Lebensgeschichtlichem, was den Anstalten verdankt, ist nicht immer leicht auseinanderzuhalten. Während seiner Zeit in der Flechsig'schen Anstalt fürchtete er, entmannt zu werden, um als "weibliche Dirne" den Wärtern der Anstalt zu geschlechtlichem Missbrauch vorgeworfen und "dann einfach liegengelassen, also der Verwesung anheimgegeben [zu] werden". Gleichzeitig bedrückte ihn die Angst, mitten in der Nacht aus seiner Zelle geholt und ertränkt, zumindest aber durch Zerstörung seines Verstandes blödsinnig gemacht zu werden. Solche Ängste tauchten nicht zufällig zu jenem Zeitpunkt auf, als die Stelle des Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht Dresden, die er vor seinem Zusammenbruch innehatte, neu besetzt und ihm bewusst wurde, dass er die Position, die er als Mann erreicht hatte, nicht mehr würde einnehmen können. Er erlebte also tatsächlich so etwas wie eine Kastration. Auch führte Flechsig, um den sich die diesbezüglichen Befürchtungen drehen, Kastrationsexperimente an hysterischen und zwangsneurotischen Patienten durch, was durch einen Text belegt ist, den er Sigmund Freud zukommen ließ. Den "Denkwürdigkeiten" ist nicht zu entnehmen, ob Schreber darum wusste. Aber im Binnenleben von Anstalten ist es nicht ungewöhnlich, verbreiten sich ausgehend von realen Vorkommnissen die absonderlichsten Gerüchte.

Schon bald jedoch sollten sich Schrebers Kastrationsängste in die Vorstellung oder den Wunsch verkehren, nach einer durch Wunder erfolgten Geschlechtsumwandlung von Gott begattet zu werden. Schreber meinte an sich Anzeichen einer Geschlechtsumwandlung zu erkennen: "In dieser Zeit traten die Zeichen der Verweiblichung an meinem Körper so stark hervor, daß ich mich der Erkenntnis des immanenten Zieles, auf welches die ganze Entwicklung hinstrebte, nicht länger entziehen konnte. In den unmittelbar vorausgegangenen Nächten wäre es vielleicht, wenn ich nicht noch der Regung männlichen Ehrgefühls folgend meinen entschiedenen Willen entgegensetzen zu sollen geglaubt hätte, zu einer wirklichen Einziehung des männlichen Geschlechtsteils gekommen; so nahe war das betreffende Wunder der Vollendung. Jedenfalls war die Seelenwollust so stark geworden, daß ich selbst zunächst am Arm und an den Händen, später an den Beinen, an dem Busen, am Gesäß und an allen anderen Körperteilen den Eindruck eines weiblichen Körpers empfing."

Auch vermutete er eine entsprechende Umwandlung des inneren Geschlechtsapparates. Schreber dachte an einen retrogenetischen Ablauf, an eine Rückbildung bis hin zu jenem Zeitpunkt im vierten oder fünften Schwangerschaftsmonat, in dem sich nach damaligen Erkenntnissen das Geschlecht der Leibesfrucht bestimmen ließ. Ein verwandtes Bild taucht in einer seiner Visionen auf. Schreber sah sich in einem Fahrstuhl sitzend in die Tiefen der Erde hinabfahren, wobei er "die ganze Geschichte der Menschheit oder der Erde rückwärts" durchmachte. Er habe sich gescheut, "den Punkt 1, der den Uranfang der Menschheit bezeichnen sollte", zu betreten. Auch sei der Schacht bei der Rückfahrt hinter ihm eingestürzt. In den Anstalten war tatsächlich vieles hinter ihm eingestürzt, weshalb solche Bilder nicht zufällig auftauchen. Allerdings erwähnt er auch einen Traum aus der Zeit vor der Aufnahme in die Flechsig'sche Anstalt: "Ferner hatte ich einmal gegen Morgen noch im Bette liegend (ob noch halb schlafend oder schon wachend weiß ich nicht mehr) eine Empfindung, die mich beim späteren Nachdenken in vollständig wachem Zustande höchst sonderbar berührte. Es war die Vorstellung, daß es doch eigentlich recht schön sein müsse, ein Weib zu sein, das dem Beischlaf unterliege."

Sigmund Freud deutete in seinem Aufsatz "Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia" Schrebers Phantasien im Sinne seiner Triebtheorie als Wunsch, von Flechsig im After koitiert zu werden. Wenngleich Freuds Deutung einiges für sich hat, so ist doch nicht zu übersehen, dass sich Schrebers diesbezügliche Phantasien erst in den Anstalten zu einem üppigen Gebilde ausgestalteten und ihnen nicht zuletzt die Funktion zukam, Ordnung in eine wahrlich aus allen Fugen geratene Welt zu bringen. Zu voller Blüte gelangte Schrebers Phantasie in der Anstalt Sonnenstein, als Flechsig kaum noch eine Rolle spielte. Wäre Schrebers Bemühen um eine Wiederbeschäftigung als Jurist stattgegeben worden, die von ihm entwickelte Theologie, die sich auch als Klage und Anklage liest, hätte für ihn wohl nie diese Bedeutung erlangt. Dem Bewusstsein völliger Nutzlosigkeit setzte er eben eine Produktivität entgegen, die entscheidend mit dem Wunsch einer Aufhebung der "weltordnungswidrigen Verhältnisse", deren Opfer er wurde, einherging. Laut Schrebers theologischer Erklärung wohne der Weltordnung die Tendenz inne, einen Menschen, der in einen "dauernden Verkehr mit Strahlen getreten" ist, zu entmannen. Dies werde auch "im Falle von Weltkatastrophen" oder dann notwendig, sollte "sittliche Fäulnis", d.h. "wollüstige Ausschweifungen", die ganze Menschheit ergriffen haben, um diese wieder zu erneuern. Um die Art zu erhalten, werde ein einzelner Mensch, der sittlich tüchtigste, und als solcher sah sich Schreber, zurückbehalten. Seinen Wunsch, zur weiblichen Partnerin Gottes zu werden, deutete Lacan als Versuch einer Versöhnung und erwähnte in diesem Zusammenhang eine bislang weitgehend unbeachtet gebliebene Auffälligkeit: "[Schrebers] Beziehung zu Gott, so wie er sie uns mitteilt, ist reich und komplex, aber wir können dennoch nicht anders als erstaunt sein über die Tatsache, daß sein Text nichts beinhaltet, was uns die geringste Gegenwart, die geringste Überschwenglichkeit, die geringste reale Verständigung anzeigt, die uns die Vorstellung geben könnte, daß da wirklich ein Verhältnis zwischen zwei Wesen besteht." Es bestand eben kein wirkliches Verhältnis zwischen zwei Wesen, und so war denn auch weder mit Flechsig noch mit Weber eine "Versöhnung" denkbar. Wie eng Schrebers Theologie mit seinen Anstaltserfahrungen verknüpft ist, macht allein der Umstand deutlich, dass diese nach seiner Entlassung kaum noch eine Rolle gespielt haben dürfte. Auch zeugt von Ironie, lässt er Weber an einer Stelle seiner "Denkwürdigkeiten" als Patienten auftreten, der sich wie er selbst mit bunten Bändern als Frau herausputzt. Im Gesellschaftszimmer der Pierson'schen Anstalt habe er durch die geöffnete Tür eine einzige Person sehen können, "namentlich die von mir als Geh. Rat Dr. W. bezeichnete Persönlichkeit, die dann im Bette liegend sich mit allerhand sonderbarem Aufputz aus seidenen Bändern usw. versehen, wie es damals hieß, diese sich `gewundert' hatte."

Schreber hat schlechte Erfahrungen mit den ihn behandelnden Ärzten gemacht, vor allem mit Flechsig. Trotzdem oder gerade deshalb hoffte er, Ärzte möchten all die Veränderungen, die er an seinem Körper wahrzunehmen meinte, bestätigen: "Ich fühle, wenn ich einen leisen Druck mit der Hand an einer beliebigen Stelle meines Körpers ausübe, unter der Hautoberfläche Gebilde von faden- oder strangartiger Beschaffenheit; dieselben sind namentlich an meiner Brust, da wo beim Weibe der Busen ist, vorhanden, hier mit der Besonderheit, daß an ihren Enden zeitweise knotenartige Verdickungen wahrnehmbar werden." Konsequenterweise bot er sich als "wissenschaftliches Beobachtungsobjekt" an und war davon überzeugt, dass die "Besonderheiten meines Nervensystems" durch die Sektion seiner Leiche bestätigt würden. Damit schließt sich der Kreis, die endgültige Unterwerfung des Kranken unter die Definitionsmacht der Medizin.

Schrebers Ende macht deutlich, dass sich die ärztlichen Götter nur Leichen ohne Gefahr zu nähern vermögen. Für sie war mit seinem Tod die Welt wieder in Ordnung. Nun ließ sich zählen, messen, was sehr schön dem Sektionsbefund zu entnehmen ist: "Gest. 14./4. Nachm. 4.55 Uhr Sekt. 15./4. Vorm. 11.00 Uhr. Schlecht gen(ährte) m(ännliche) L(eiche), Leichenst(arre) i(n) d(en) Extrem(itäten) erh(alten), zahlr(eiche) Totenfl(ecken), a(n) d(er) Grenze d(es) l(inken) Rippenb(ogens) a(m) Rück(en) eine handfl(ächen-) gr(oße) grüngelb verf(ärbte) Fläche. Rippenmusk(ulatur) a(ußer)o(rdentlich) dürftig, fa[s]t volk(ommen) fehl(ende) Fettlage. Rippenknörpel sehr st(ark) verknöchert. B(ei) d(er) Abheb(ung) d(er) v(orderen) Brustw(and) wird a(n) d(er) (oder: oberhalb der) I(inken) Brusts(eite) ein(e) v(on) d(er) 1.-4. Rippe u(nd) ein(e) ü(ber) d(ie) 5. u(nd) 6. Rippe reichende Höhle eröffnet. Die vordere Wand d(er) o(beren) Höhle m(it) d(em) Brustbein u(nd) d(en) anlieg(enden) Rippen verw(achsen), angefüllt m(it) ca. 1 1/2 l(iter) trübgrauer Flüss(igkeit). Die u(ntere) Höhle ersch(eint) b(ei) d(er) Eröffn(ung) d(es) T[h]orax leer. Die Größe d(er) Höhle ca. mannesfaustgr(oß). (Am Rande: Herz 360 g) Herzbeutel nach u(nten) u(nd) l(inks) verschoben, ent(hält) ca. 4 Eßl(öffel) seröser Flüss(igkeit). Die Innens(eite) d(es) H(erz-) B(eutels) bed(eckt) m(it) dünn(er), leicht abziehbarer, ganz fr(ischer) blutig fibrinöser Auflagerung. Derselbe Überz(ug) bed(eckt) d(as) H(erz) selbst. Die Gr(öße) d(es) H(erzens) entspr(icht) ca. d(er) Gr(öße) d(es) Mannes, Cons(istenz) sehr schlaff. Organ m(it) einer nicht sehr st(arken) Schicht epikardialen Fettes bed(eckt). Musk(ulatur) d(es) r(echten) Ventr(ikels) sehr schlaff u(nd) dürftig. Farbe blaß-braun ... etc., etc."

All das Zählen und Messen brachte nichts zutage, was für Schrebers Leidensgeschichte von Bedeutung gewesen wäre. Das Sektionsprotokoll bestätigt einzig seine gelungene und endgültige Zurichtung als Patient. Während seines letzten Anstaltsaufenthaltes zeigte er alle Anzeichen "stupurösen Stumpfsinns". Wie es heißt, soll er in geistiger Umnachtung gestorben sein. Aber man kann auch aus Überdruss verstummen, in Schweigen versinken, an Überdruss zugrunde gehen.

Bernhard Kathan, 2019
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