Ein Ruheraum im Gebirge
Innsbruck, Seegrube 2003



Soundarbeiten: Christof Cargnelli, Se-Lien Chuang, hey-o-hansen, Barbara Huber, Igor Lintz Maués, Dorothee von Rechenberg, Andrea Sodomka, Peter Szely. Architektur: Ursula Klingan
Ein Projekt von: Bernhard Kathan



Foto: Nikolaus Schletterer

I

"Wollen die Herrschaften", begann der Fremde, "von meinen Erleichterungspillen kosten und dann die Augen schließen, so wird alles mit größter Schnelligkeit arrangiert werden."
Zögernd entsprach die Gesellschaft den Wünschen des fremden Herrn. Und als die zehn danach die Augen wieder öffneten, hatte der Fremde eine hohe Leiter in der Hand. Die Leiter war aber so hoch, daß sie an den Mond gelehnt werden konnte. Als das nun wirklich geschah, rang sich ein Schrei der Bewunderung von den Lippen der zehn Personen los. Der große Zauberer ergriff nach diesem Schrei einen großen schwarzen Kasten, der neben ihm stand, öffnete ihn, stellte ihn unten vor der Leiter aufrecht hin und sagte hastig:
"Steigen Sie schnell ein, meine Herrschaften, die Leiter ist eine Drahtseilbahn, und in dem Kasten, der Waggoncharakter besitzt, haben Sie sämtlich bequem Platz."
Zögernd entsprach die Gesellschaft auch diesem Wunsche des fremden Herrn, der sich schließlich ebenfalls in den Kasten setzte und dann den Deckel zumachte. Da wars denn sehr dunkel in dem schwarzen Kasten, und es ließ sich ein feines Summen und Pfeifen vernehmen. Und siehe da - nach ein paar Augenblicken sprang der Kastendeckel wieder auf - und die Gesellschaft befand sich auf dem Monde. Und auf dem Monde standen unzählige andere Leitern, die zu den nächsten Fixsternen hinaufführten.
"Jetzt", sprach lächelnd der Fremde, "können wir hinfahren, wohin wir wollen. Kennen Sie schon die ‚Fabrik lebenslustiger Kreaturen'? Ich sehe Ihnen an der Nase an, daß Sie noch keine Ahnung von der Fabrik haben. Wenn Sie dahin wollen, so steigen Sie nochmals in den Kasten." (Paul Scheerbar, 1906)

"Vielleicht ist es auch dieses Atemberaubende, das der anstrengungslose Wechsel von weit unten nach weit oben an sich hat, das den Künstler Bernhard Kathan dazu bewog, auf der Seegrube in fast 2000 Meter Höhe einen Ruheraum zu errichten. Er steht, einige Meter unterhalb der Seilbahnmittelstation, am Wegesrand wie eine Biwakschachtel besonderer Art: fest im Boden verankert und doch, da auf Stelzen stehend, rundum von der Bergluft umgeben; auf der einen Seite der Talabgrund, von der anderen stürzt der Berg mit einer gewaltigen Schutthalde auf sie zu; Schutzraum, in dem sich Ruhesuchende auf spartanisch-ebenmäßiggen Holzpritschen niederlegen können, und doch lichtdurchflutet, offen zum Berg und zum Tal. Kathan und seine Architektin Ursula Klingan zwingen zur Konzentration auf die beiden Sinne, welche für die Bergwahmehmung die erste Rolle spielen: das Ohr und das Auge. Der Körper, sofern er gestiegen ist, macht sich nur noch in der Schwere bemerkbar, mit der er auf der Liege ruht. Acht Soundarbeiten verschiedener VertreterInnen der agilen internationalen Avantgarde dieses Genres kann die oder der Ruhende aus- und jederzeit wieder abwählen. Sie füllen den Raum mit Klängen, die, mal eher flächig-zirkulär, mal linear durchkomponiert, zwischen den Polen der natürlichen oder technischen Materialgeräusche und dem breiten Assoziationsfeld landschaftlich bezogener Musik ganz verschiedene Akzente setzen. Wer genug gehört hat und es in sich weiterklingen lassen will, darf "Stille" wählen.
Wer beim Liegen den Blick an die Decke richtet, wird, konträr zur sakralen Ausstrahlung der farbigen Glasquadrate in den Längswänden, durch die Spanplattenoberfläche an die Vorläufigkeit der Installation und seines Bleibens im Ruheraum erinnert. Der, wie immer wieder gesagt wird, überwältigende Ausblick, sei es nackenstarr auf die emporragenden Gipfel, sei es hinab auf die irreal nüchterne Großstadt Innsbruck, wird segmentiert und gebrochen durch die in Glasquadrate gegliederten Wände. Bonbonfarben geben sie uns unsere Bergillusionen zurück. Haben wir, wie es angezeigt ist, die schweren hölzernen Schiebetüren geschlossen, so kann sich die Ruhe einstellen, die mancher nur im Privaten für möglich hält, weshalb es geschehen kann, daß zögernd Eintretende die Frage stellen: Ist das hier öffentlich? Ein Antiraum an exponierter Stelle im Gebirge ermöglicht hauptsächlich solche konträren Erfahrungen. Wie natürlich ist doch diese höchst künstlich hergestellte Ruhe, wie künstlich die Natur, die gerade eben ein paar hundert Meter entfernt von Caterpillarn für die Skitouristen der nächsten Saison hergestellt wird." (Wieland Elfferding, Berlin)


Foto: Nikolaus
Schletterer

II

Die Unberührtheit der Bergwelt bedarf keiner aufgesetzten "Erhöhung" - Diese Kiste würde besser in die Maria Theresienstrasse passen. Ja genau. Wozu es denn im Gebirge eines Ruheraumes bedürfe, wo doch ohnehin alles so ruhig sei. In der Stadt ja, aber nicht hier heroben. Vielleicht vermag erst ein Ruheraum im Gebirge den Unterschied zwischen Ruhe und Stille deutlich zu machen. Man hört den Lärm aus dem Tal, Flugzeug- oder Naturgeräusche, das Blöken von Schafen. Die Überlagerung, nicht die Unterdrückung all dieser Geräusche mit subtilen Soundarbeiten, führt - sofern man sich darauf einlässt - zu einer Schärfung der Wahrnehmung.
Menschen im Gebirge sind trotz aller gegenteiligen Behauptungen in einem besonderen Maß ruhelos, immer an Punkten orientiert, die es zu erreichen gilt. Mountainbiker können ihre Fahrt nicht einfach unterbrechen, wollen sie ein Abfallen ihres Adrenalinspiegels vermeiden. Ich sah kaum einen, der seine Fahrt unterbrochen hätte, um sich neugierig dem Fremdkörper in der Landschaft zu nähern. Da müsste wohl ein Flugzeug abstürzen, um ihr Programm zu durchbrechen. Aber: Eine tolle Sache! Radfahren und Entspannen. Danke für diese Möglichkeit. Hoffentlich bleibt sie lange bestehen. Wanderer können zwar leichter innehalten, aber auch sie sind meist von Zielvorgaben getrieben. Es gibt natürlich auch andere, die sich in lustvoller Absicht in den Ruheraum begeben, sei es um sich hinzulegen und eine der Soundarbeiten zu hören oder einfach nur zu liegen, oder aber, ihn auf andere Art zu nutzen, die mitgebrachte Jause verzehren oder sich - wie ein Eintrag im Besucherbuch dokumentiert - sich dem Liebesspiel hinzugeben. Dankeschön für die wunderbare Nacht. Aus Litauen. Das hier gezeugte Kind wird unter einem guten Stern geboren sein. Die klare Struktur des Gebäudes, eine farbene Felderwirtschaft, verspricht Ordnung im Leben. Es steht nicht zu befürchten, dass eben dieses Kind eine schachbrettartig gemusterte Haut haben wird. Dieser Einfall ist Ergebnis von Projektdiskussionen. Von Beginn an geisterten Uterusgeschichten durch die Köpfe. Schon das Gebirge hat sich nicht anders als ein Säugling aus dem Nass herausgestülpt. Meeresmetaphern zählen zu den Stereotypen der Gebirgsbeschreibung. In ihrem Gegensatz zur Technik wurde die Gebirgslandschaft in Bildern des gebärenden und gefräßigen Weiblichen beschrieben. Die Natur lockt, ruft, ist gefährlich. Ihre Bewältigung war deshalb Männersache. Am Tag der Eröffnung der Seilbahn wurde der "hoffnungsreiche Sprößling nach neunmonatlicher heißer Arbeit aus der Taufe gehoben." Mit begreiflicher Befriedigung eines glücklichen Vaters habe der Stadtrat sein Werk gezeigt. Bei der "Jungfernfahrt" trug die Gondel die Gäste über das "wallende Wipfelmeer", und am Grat angekommen, "brandet der Nebel bis hart an die Kämme und Spitzen", während sich jenseits das "ungeheure versteinerte Gipfelmeer der Karwendelketten in leuchtendem Sonnenglanz" erstreckt. Wer wundert sich da noch, dass die damaligen Kellner, die an weißgedeckten Tischen zwischen hohen Schneewächten Braten und Bier servierten, Uniformen trugen, die an Matrosenanzüge denken ließen.

    Entsprechend paradox wird dann doch auch die umsetzung der bergphantasie in form einer «installation» sein müssen: die idee, einen «yellow submarine»-artigen, semi-esoterischen «ruheraum» (mit meeresrauschen im stereobespielten ohr und vielleicht einer sauerstofftankstelle, wie sie vor wenigen jahren nie wirklich modisch war) zu errichten, erscheint mir logisch und angemessen: ein bisschen orange plastic-ästhetik inclusive. warum nicht: wartesaal on the top of the hill. vielleicht auch mit ein paar «patriotisch» alpinen gerahmten bildern an der wand, wie es in den bahnhofhallen und in den zugcoupés bis in die siebziger jahre üblich war.
    Christiane Zintzen, Wien


Auch wenn sich Ursula Klingan nicht für Rundes und Weiches entschieden hat, lässt ihr Baukörper noch in kleinen Dosen an Meer und Schiff denken, an ein Kirchenschiff, eine spartanisch eingerichtete Arche Noah, die fortgetragen wird, ist das Wasser einmal hoch genug gestiegen. Keine Angst, das Ding ist fest verankert. Ein schwebendes Ding über dem Abgrund, ein am Boden festgezurrter, kubischer Ballon. Arche insofern, als es ein Rückzugsort ist, ein Ort kultivierter Regression, in dem man sich liegend von Klängen umspülen lassen, eintauchen kann in ein ungeordnetes Hören.


Foto: Nikolaus
Schletterer


Ohne Zweifel gibt es heute ein großes Bedürfnis nach Regressionsräumen. Ein eigener Raum eine eigene Welt! Wunderbare Musik, tolle Farben. Gefällt mir sehr gut! Üblicherweise handelt es sich dabei um Räume des Konsums. Der Ruheraum sollte gerade nicht nach den Regeln des Konsums organisiert sein. Festzustellen ist ein Paradoxon der neuen Kundenwelt: Die Hemmschwelle, einen Raum zu betreten, erhöht sich, wird kein Eintrittsgeld verlangt. Was nichts koste, könne keinen Wert besitzen. Wer nichts bezahlt, kann sich etwas nicht aneignen. Ein weitgehend sich selbst und möglichen Nutzern überlassener Raum löst Irritationen aus. Notunterkünfte im Gebirge bleiben auch sich selbst überlassen. Im Gegensatz zum Ruheraum kennen sie jedoch klare Codes der Benützung. Eine Notunterkunft mag bereits besetzt sein, wer Unterschlupf sucht, dem steht er offen. Dies zählt zu den ungeschriebenen Regeln der Bergwelt. Very good protection against the wind (you saved our lives). Good idea to place it close to that ugly cable car station (makes it less ugli). The local sheep seem to love it. Thank you. Anders dagegen im Ruheraum. Wer ihn aufsucht, tut dies nicht aus Not. Ist der Raum bereits besetzt, und liegt vielleicht nur eine Person auf einer der Liegen, dann bedeutet dies eine große Hemmschwelle, den Raum zu betreten. Mag der Raum als öffentlich gelten, so wird er nun doch fast als Privatraum gedeutet, anderen wie eine fremde Wohnung überlassen. Allerdings wissen viele Besucher mit solchen Soundarbeiten wenig anzufangen. Was unheimlich stresst ist die unnötige Musik. Gerade subtile Soundarbeiten bedürfen einer Beruhigung, sollen sie ihre Wirkung entfalten. Hier sind jene privilegiert, die sich Ruhe gönnen, um sich etwas Fremdem zu überlassen und Kontrolle aufzugeben. Manche können dies geradezu zelebrieren. Sie schließen die Schiebetüren und lassen keinen Zweifel daran, dass nun sie es sind, die Ort und Zeit beanspruchen. Bin der Hitze der Stadt entflohen und habe eine angenehme Nacht im Ruheraum verbracht.

Anders als befürchtet, waren bislang keine Vandalenakte zu beobachten. Im Gebirge gelten andere Regeln. Unbeaufsichtigtes wird weitgehend respektiert. Zu beobachten ist jedoch eine Neugier, das Technische betreffend. Auch wieder eine Uterusgeschichte. Die Psychoanalyse kennt das Interesse von Kindern am öffnenden Untersuchen von Puppen oder am Zerlegen von Uhren oder anderen technischen Geräten. Manche der Besucher - sie tun dies wohl nur dann, wenn sie allein oder unter sich sind -, interessieren sich für Stecker und Tasten, was zur Folge hat, dass endlich nichts mehr zu hören ist.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Gebrauchsanweisungen werden so gut wie nicht gelesen, mögen sie noch so einfach sein. Tasten haben Signalcharakter. Auch ein Zeichen mitgebrachter Unruhe. Dies lässt an Werner Herzogs Schlusssequenz am Ende seines Filmes Stroszek denken. Hühnerschnäbel schlagen auf Klaviertasten, um möglichst rasch in den Genuss des Futters zu kommen. Die Hühner sind rastlos, auch wenn sie kein wirkliches Ziel haben, nichts wirklich auf sie wartet. Bruno hat sehr viel Zeit. Er erschießt sich, während der Sessellift sich in einer Endlosschleife bewegt.

Der Ruheraum war von Anfang an als Experiment, als temporäre Installation gedacht. Neben dem möglichen Nutzen für die Besucher geht es um Fragen wie ein solcher Raum beschaffen sein muss, dass er angenommen wird und trotz möglichst geringer Betreuung funktioniert. Welche Soundarbeiten eignen sich überhaupt für so einen Ruheraum. Es beginnt mit Fragen nach Geräuschen, nach der Lautstärke oder Rhythmik. Wie muss akustisches Material beschaffen sein, dass es einen Liegenden beruhigt, gleichzeitig aber seine Wahrnehmung schärft? Faszinierend. Insbesondere die Sicht auf den Berg. Durch die verschiedenen Farbfenster hab ich einige Details viel sorgfältiger wahrgenommen als sonst. Ob soviel Technik hier oben überhaupt sein muß, weiß ich nicht. Natürlich ist dies nicht allein eine Frage des Raumes, der Musik oder der Betreuung. So gab es immer wieder Schwierigkeiten mit der Technik. Computer sind für Wohnungen und Büros gebaut, sie erweisen sich bei Temperaturschwankungen oder allzu hoher Luftfeuchtigkeit als störungsanfällig, ganz zu schweigen von Blitzeinschlägen. Genaugenommen hätte es eines gut isolierten Raumes mit stabilem Binnenklima bedurft. Oder eine andere Erkenntnis: Wie Kunst im öffentlichen Raum wahrgenommen wird, hängt nicht zuletzt auch von Medienberichten ab. Liest man etwa manche Einträge in dem im Ruheraum aufliegenden Buch, dann fällt auf, dass hier Vorinformationen aus einer beliebten Sendung des Lokalfernsehens eingeflossen sind. Dort wähnte ein bezeichnenderweise als Reinigungskraft auftretender Komiker Überflüssiges am falschen Ort, Schmutz sozusagen. Eine Besucherin: Schade, dass wir am Berg einen Ruheraum brauchen. Ich glaube, die Erbauer bzw. diese Künstler haben noch nie Stille am Berg erlebt. Ihr müsst nur einmal ohne Walkman auf den Berg, dann braucht ihr keinen Knopf für Stille! Danke liebe Politiker, aber man hat ja für jeden Schwachsinn Geld. Übrigens war die Sendung in 20min abgedreht, der Text bereits geschrieben, bevor sich das Drehteam an Ort und Stelle befand. So fügt sich die mediale Rastlosigkeit zur Rastlosigkeit möglicher Rezipienten.

III

"Zuerst hörten wir nichts; als wir dann einen Schritt vorwärts machten, hörten wir von dem Rand, der die Stille vom Schall trennt, ein Knirschen hochsteigen.
Wir regten uns nicht. Und es war weder die Stimme des Windes noch sein Gesang, noch etwa das leichte Gepolter eines Steins oder das Knirschen eines im Frost sich spaltenden Felsens. Es war ein regelmäßiges Zischeln wie das angesammelte Geräusch von Millionen übereinanderliegender Signale.
Die Marsluft ist zu dünn, so daß unsere Ohren die Töne nicht vernehmen können, die der Planet von sich gibt. Außerdem würde unser Trommelfell dem Druckunterschied zwischen der Außenwelt und unserem Atmungssystem nicht widerstehen können. Deshalb haben wir unsere Ohren völlig abgedichtet, wobei winzige Verstärker uns ermöglichen, den Klang unserer Stimmen und die Geräusche auf dem Mars zu hören. Dies jedoch, dafür kann ich mich verbürgen, war anders als alles, was ich bisher auf dem roten Planeten gehört hatte. Es klang nicht menschlich und nicht mineralisch.
Ich bewegte ein wenig den Kopf und vernahm etwas anderes, das dieses Zischeln übertönte, es auf einen unbedeutenden und ständigen akustischen Hintergrund reduzierte. Ich vernahm eine Stimme, vielmehr das Murmeln von einer Million Stimmen, den Tumult eines ganzen Volkes; es sprach unglaubliche, unverständliche Worte, die ich mit Hilfe unserer irdischen phonetischen Zeichen nicht ausdrücken könnte." (Gérard Klein, Das Tal der Echos, 1966.)


Foto: Nikolaus
Schletterer



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