Heracleum mantegazzianum
„ein von einem kleinen Seufzer begleiteter Knall“


Foto: Bernhard Kathan


In Paolo Mantegazzas „Das Jahr 3000. Ein Zukunftstraum“ (1897) begeben sich Paul und Maria nach dem in Indien gelegenen Anthropolis, um dort nach fünfjähriger Liebesehe die „fruchtbare Ehe“ zu feiern: „Sie müssen sich der biologischen Behörde von Anthropolis vorstellen, damit von jenem höchsten Tribunal der Wissenschaften das Urteil gefällt werde, ob sie das Recht haben oder nicht, andere Menschen in die Welt zu setzen.“ Die Medizin ist so weit fortgeschritten, dass es selbst möglich ist, bei Neugeborenen festzustellen, ob das Kind aufgrund einer „verhängnisvollen Beschaffenheit seiner Gehirnzellen“ eine „unwiderstehliche Neigung zum Verbrechen“ besitzt. Bei einem positiven Befund wird es beiseite geschafft, bevor es der Gesellschaft Schaden bringen kann. „Beseitigt“ werden auch die kränklichen Neugeborenen. Eine Fortpflanzungserlaubnis ist erforderlich, erreichen doch immer noch „unvollkommene Wesen“ das zeugungsfähige Alter. Die Untersuchung der Neugeborenen durch die Hygieniker, die in der Hierarchie der Ärzte an oberster Stelle stehen, geschieht mit Hilfe von Licht, welches den Körper „durchsichtig wie Glas“ macht. Die Psychohygieniker untersuchen auf ähnliche Weise das Gehirn, die „scharfen optischen Instrumente“ erlauben es, die Gehirnzellen hundertfach zu vergrößern.

Erzähltechnisch bedient sich Mantegazza in seiner Beschreibung der Medizin des Jahres 3000 einer Führung eines Hygienikers durch ein Krankenhaus. Am ausführlichsten beschreibt er die Abteilung der Hygieniker: „Sie traten in einen geräumigen Saal, wo wohl hundert kleine Kinder auf den Armen ihrer Mütter oder Ammen ein wirres Geschrei anstimmten. Es war eine sehr traurige Scene; zu dem Schreien der kleinen unschuldigen Wesen kamen noch die angstvollen Mienen der Frauen hinzu, die von dem Arzte den Urteilsspruch über Leben und Tod ihrer Lieblinge erwarteten.“ Wie der Arzt erklärt, sind die Kinder in der Regel nicht älter als drei Tage. Ihre Mütter können sie begleiten, da die Geburt schmerzlos erfolgt. Nacheinander werden die Mütter mit ihren Kinder aufgerufen. Nach einer allgemeinen körperlichen Untersuchung folgt die der Psychohygieniker. Mantegazza nennt mehrere Beispiele. Der erste der Säuglinge erweist sich als „gesund, stark, lebensfähig“, es verfügt über ein „normales Gehirn“, „verbrecherische Anlagen“ sind nicht zu entdecken. Das Kind wird der Mutter übergeben, die sich im Wissen entfernt, „der Welt einen gesunden, starken und des Verbrechens unfähigen Bürger geschenkt“ zu haben. Das nächste Kind ist zwar gesund, aber nicht so stark wie es sein sollte. Auch hat die psychohygienische Untersuchung die Anlage zu einem „furchtsamen Charakter“ zum Ergebnis. Diese Mutter wird mit einer Reihe von Empfehlungen, die eine entsprechende Förderung des Kindes zum Gegenstand haben, entlassen.

Mantegazza führt zwei Beispiele an, in denen ein als nicht lebensfähig betrachtetes Kind „beiseite geschafft“ werden soll. Eines der Kinder ist besonders schwächlich: „Das Gesicht war bleich und zeigte rote Flecken. Nach kurzer Betrachtung entschied der Arzt: ‚Kind mit schwerem Herzfehler. Lebensunfähig.‘“ Die Mutter widersetzt sich der Tötung, und da diese nicht ohne Zustimmung der Mutter oder des Vaters erfolgen kann, bleibt das Kind am Leben. Der Arzt dringt in die Frau, ihre Entscheidung zu überdenken, erinnert sie daran, dass es nicht möglich sei, angeborene Herzfehler zu behandeln. Das Kind könne wohl einige Jahre leben, würde aber stets leidend sein und schließlich qualvoll sterben: „Bedenken Sie, daß Ihr Mitleid eine Grausamkeit sein würde, da Sie ihr Kind zu schrecklichen Leiden, die jahrelang dauern können, verurteilen würden. Ihr Kind hat noch kein Bewusstsein seines Daseins, und seine Beseitigung ist schmerzlos und kurz. In einer Minute ist es in Rauch verwandelt und in Asche, die Sie mitnehmen können. Sie sind noch jung, Sie können sich wieder verheiraten und andere Kinder bekommen. Überlegen Sie sich das alles wohl!“ Mantegazza nennt die Tötung eines Kindes zwar eine „grausame Operation“, sieht darin allerdings einen Akt echter Barmherzigkeit. Obwohl es Aufgabe der Hygieniker ist, die Übertragung von Erbkrankheiten oder unerwünschten Anlagen auf kommende Generationen zu verhindern, argumentiert er mit dem Wohlergehen des Kindes. Nicht die Ärzte seien grausam, sondern Mütter, die sich der Tötung widersetzten.

Im zweiten von Mantegazza angeführten Beispiel fügt sich die Mutter in das ärztliche Urteil. Nun beschreibt er den Tötungsvorgang des „schwächlichen, lungenkranken, lebensunfähigen Kindes“, welches bereits acht Monate alt ist: „Als die Mutter diesen traurigen Entscheid vernahm, brach sie in Schluchzen aus und fragte die Aerzte: ‚Könnte denn mein Kind nicht durch eine geeignete Kur gerettet werden?‘ ‚Nein‘, antworteten die drei Ärzte wie aus einem Munde. Dann wandte sich der Hygieniker zur Mutter: ‚Und nun?‘ Die Mutter weinte noch heftiger und antwortete, indem sie das Kind den Ärzten zurückgab, mit kaum vernehmbarer Stimme: ‚Ja!‘ Dieses ‚Und nun‘ wollte sagen: ‚Erlauben Sie also, daß ihr Kind beseitigt wird?‘ Nun nahm in der That ein Hülfsarzt das Kind, öffnete einen schwarzen Verschlag in der Wand des Saales, schob es hinein und verschloß ihn wieder. Er ließ eine Feder schnappen, man hörte einen von einem kleinen Knall begleiteten Seufzer. Das Kind, von einem 2000 Grad heißen Luftstrom umflutet, war verschwunden, und es blieb nichts als ein Häuflein Asche übrig.“ Die Tötung des Kindes scheint sehr banal, ein nahezu alltägliches Geschehen, mag die Mutter auch schluchzen. Mantegazza beschreibt die Hygieniker als einfühlsam. Sie „runzeln die Stirn“, ihre Mienen sind „ruhig“, „traurig“ oder „schmerzlich“. Was es praktisch bedeuten würde, täglich an die hundert Kinder zu untersuchen, zwischen „lebensfähig“ und „nicht lebensfähig“ zu unterscheiden, daran dachte er ebensowenig wie an ein Setting, welches von vorn herein die Gutachter auf Dauer unempfindlich und roh machen muss.

„Maria und Paul waren tief erschüttert und wollten nichts weiter sehen. Sie verließen die Hygieia mit dem dringenden Bedürfnis nach frischer Luft, blauem Himmel, grünen Bäumen. Sie suchten Beruhigung in der Bewunderung der Natur, die doch viel grausamer und viel mitleidsvoller täglich Tausende und aber Tausende von Wesen tötet, weil diese zum Kampf ums Dasein nicht geeignet sind.“ Die Brüchigkeit dieser Argumentation wird allein dort offensichtlich, wo auch Kinder mit einer Anlage zur Kriminalität „beseitigt“ werden, obgleich sie gesund sind und erwarten lassen, sich im „Überlebenskampf“ besser als andere zu behaupten. Die Kulturwissenschaften haben uns gelehrt, dass wir es bei allen Vorstellungen von Natur mit Konstrukten, also mit gesellschaftlichen Realitäten zu tun haben. Mögen sich die Hygieniker auf die Natur beziehen, ihr Anliegen gilt nicht der Natur, sondern der Gesellschaft.

Mantegazza beschäftigte sich neben vielem anderen mit stimulierenden Substanzen, er war Pionier der künstlichen Befruchtung, als Arzt mit der Praxis und den Möglichkeiten der Medizin, die sich damals abzuzeichnen begannen, bestens vertraut. Mantegazza zählt zu jenen, die durch ihre populärwissenschaftlichen Schriften maßgeblich zur Popularisierung frühen eugenischen Gedankengutes beigetragen haben. Da er sich auch mit dem Riesenbärenklau beschäftigt hat, ist die Pflanze nach ihm benannt: Heracleum mantegazzianum.

Hat sich der Riesenbärenklau einmal im Garten ausgebreitet, oft genug, nachdem man sich über seine großartigen Blüten gefreut hat, wird man seine Mühe mit ihm haben. Böte man ihm nicht Einhalt, der Garten wäre innerhalb weniger Jahre von ihm überwuchert. Kinder sollten nicht in seine Nähe gelangen, können doch Berührungen bei Tageslicht schmerzhafte Quaddeln oder Verbrennungserscheinungen zur Folge haben, die oft erst nach Wochen abklingen. Andere Pflanzen droht er zu ersticken. Mäht man ihn ab, so treibt er wieder und wieder. Seine ganze Kraft zielt darauf ab, weißblühende Dolden, Samen zu bilden. Hat er dies geschafft, dann hat er sich erschöpft und stirbt ab. Eine einzelne Pflanze kann bis zu 80000 Einzelblüten entwickeln und bis zu 15000 Früchte mit jeweils zwei Samen ausbilden. Die Samen bleiben nicht nur über mehrere Jahre hinweg keimfähig, sie können sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise verbreiten, sei es durch Wasser und Wind, durch Tiere, an deren Fell und Hufe sie haften bleiben und dann an weit entfernter Stelle abgestreift werden. Heute wären auch Traktorreifen hinzuzuzählen. Seine enorme Kraft verdankt der Riesenbärenklau einer rübenartigen Verdickung an der Basis des Sprosses bzw. im oberen Teil der Wurzel. Diese dient als Energiespeicher, der es zum einen erlaubt, sehr früh im Jahr zu treiben, oder, wird die Pflanze abgemäht oder zurückgeschnitten, nachzutreiben und Blüten zu bilden. Die rübenartige Verdickung bildet so etwas wie die Seele und das Gehirn des Riesenbärenklaus. Sticht man diesen Teil der Wurzel aus, dann stirbt die Pflanze ab. Sie stirbt auch ab, erstickt man sie unter Massen von Kompost, was oft nur bedingt gelingt und einer ständigen Nachschau bedarf. Übrigens arbeite ich ohne Schutzanzug, von Arbeitshandschuhen einmal abgesehen. Vorsicht ist freilich geboten. Aus Unachtsamkeit berührt man nur zu schnell eines der Blätter. Vor dem Ausstechen mähe ich die Pflanzen mit einer Sense in der Höhe von etwa zehn Zentimetern ab und entsorge Stiele und Blattwerk mit einer Gabel. Sollten sich bereits Samen gebildet haben, werden diese für den Restmüll aussortiert oder verbrannt.

Seine Verbreitung in Mitteleuropa verdankt sich Zar Alexander I., der Metternich nach dem Wiener Kongress (1815) eine Malachitvase voll Samen des Riesenbärenklaus geschenkt haben soll. So gelangte die Pflanze in die Gartenanlagen des Fürsten. Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, suchte doch Metternich, die Zeichen der Zeit verkennend, alles und jeden zu kontrollieren. Imker pflanzten später den Riesenbärenklau als Trachtpflanze, andere seiner Schönheit wegen. Die Pflanze gilt als gefährlich, als endemisch, als Fremdkörper. Die Gefährlichkeit des Riesenbärenklaus hält sich in Grenzen, selbst dann, hat man einmal eine schmerzhafte Erfahrung gemacht. Endemisch verbreitet er sich nicht. Tatsächlich findet er sich zumeist nur in Brachen. Auch wären Pflanzen zu nennen, die sich schneller ausbreiten und schwerer zu bekämpfen sind, auf überdüngten Grünflächen etwa der Ampfer.

Wie andere der früheren Eugeniker war Mantegazza besessen vom Phantasma einer heilen Welt. Als Antwort auf eine Reihe bedrückender gesellschaftlicher Probleme wurde die Eugenik zu einem großen, allerdings weitgehend unhinterfragten Versprechen. Ironischerweise beklagte Mantegazza, dass die Evolution die Ausscheidungsorgane nicht von den Zeugungsorganen getrennt habe: „Der Verbindung beider hat sich die Menschheit aller Zeiten geschämt; denn es erscheint als ein großer Irrtum der Natur, der bestimmt ist, im Gestaltungsfortschritt der höheren Tiere zu verschwinden.“ Er dachte, im Laufe der Evolution würden die Organe der Liebe von jenen der „widerwärtigen Absonderung“ geschieden, die Liebe werde sich ihr eigenes, abgesondertes Gebiet schaffen. Dann werde eine der „abscheulichsten Erscheinungen unseres physischen Lebens“ beseitigt sein. Die Differenzierung der Geschlechtsorgane werde eine Trennung von Reinem und Schmutzigem zur Folge haben. Auch andere Autoren der Zeit beklagten die „Pfuscharbeit“ der Natur, welche die lustbetonten Organe so „hart an mit dem Stigma des Ekels behaftete Organteile“ gefügt habe. Obgleich technischen Neuerungen durchaus aufgeschlossen, so blieb ihm alles fremd, was sich gesellschaftlich vollzog.

Mantegazza zählt zu jenen, von denen Egon Friedell schreibt, angesichts der „Ballettprobe“ von Degas hätte sich vor ihren Augen „buchstäblich alles gedreht“, die Impressionisten hätten sie in eine „Drehkrankheit“ versetzt. Mantegazza wusste mit der Kunst seiner Zeit wenig anzufangen. Bezeichnenderweise ist diese in dem von ihm beschriebenen Museum mit schwarzer Farbe getilgt: „Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es nämlich eine Zeit des Verfalls, besonders in der Baukunst und der Malerei. Die damaligen mittelmäßigen Künstler, die zu hochmütig waren, die Antike nachzuahmen, wußten keine neue Form des Schönen zu schaffen und verfielen ins Groteske. Uneingedenk dessen, daß sie die Söhne Raffaels, Michelangelos, Brunellescos, Correggios und anderer göttlicher Genies waren, machten sie aus dem Häßlichen und Seltsamen eine neue Gottheit, oder besser gesagt ein ästhetisches Ungeheuer. Sie gründeten die Schulen der ‚Impressionisten‘, der ‚Pointillés‘, der ‚Dekadenten‘, sowie anderer Abgeschmacktheiten, die uns heute zum Gelächter dienen.“ Im Gegensatz zu Mantegazza sah Friedell den Klassizismus als Versuch, sich gewaltsam wieder zum „starren System“ zurückzuschrauben, für ihn ein „wahres Malheur in der modernen Entwicklung“. Mantegazza sieht dagegen ein Malheur dort, wo die Evolution den Harnapparat nicht von den Zeugungsorganen getrennt hat.

Leben bedeutet Unordnung. Zum erlebten Glück gesellen sich Enttäuschungen, Krankheit und Tod. Ein nach eugenischen Gesichtspunkten organisiertes wird vor allem ein bürokratisch organisiertes Leben sein. Es wird nach + und – entschieden, unabhängig von der Tatsache, dass Menschen mit „bestem“ Erbmaterial unglücklich, Menschen, die vom Ideal abweichen, glücklich sein können. Nun wären wieder beim Riesenbärenklau. Dem Fremdling rücken wir mit mechanischen, chemischen oder anderen Mitteln zu Leibe. Dabei könnten wir ein recht häusliches Verhältnis mit ihm pflegen, in ein geradezu nachbarschaftliches Verhältnis treten.

Bernhard Kathan 2009