Jürgen Engel
Riechen als eine Zeitachse im flüchtigen Dasein


Colloquium und Geruchsperformance: Jürgen Engel
Weitere Akteure:
Vorleserin: Viktoria Meienburg
Köchin: Ulrike Jussel
Tischoberflächen: Bernhard Kathan
Planung und Realisierung des aus diesem Anlass
eröffneten Museums-Aborts: Bernhard Kathan
Dokumentation: Hans Soukup
Zeichnung: Martin Meienburg


"Wer würde vermuten, dass vornehme Herren und Damen sich an Essenzen laben, die in den schmählichen Gedärmen eines kranken Wals gefunden werden. Und doch ist es so. Die einen halten die Ambra für die Ursache, die anderen für die Folge von Verdauungsstörungen beim Wal. Wie man eine solche Verdauungstörung kurieren soll, ist schwer zu sagen, es sei denn, man verabfolgt dem Kranken drei oder vier Bootsladungen Rhabarberpillen und macht sich dann schleunigst aus dem Staube wie Steinbrucharbeiter bei einer Sprengung.
Ich habe vergessen zu sagen, dass sich damals in dieser Ambra einige harte, runde Knochenstückchen fanden. Stubb meinte zuerst, es seien Matrosenhosenknöpfe. Später stellte sich aber heraus, dass es kleine, in die Masse eingebettete Tintenfischknochenstücke waren. Diese höchst wohlriechende Ambra mitten im Herzen einer solchen Verwesung - ist das so ohne Bedeutung? Denkt daran, was der heilige Paulus in seinem Brief an die Korinther über das Verwesliche und Unverwesliche sagt, wie wir gesät sind in Unehre und auferstehen werden in Herrlichkeit. Und erinnert euch ebenso, was Paracelsus über die Gewinnung des besten Moschus sagt. Vergesst auch nicht die seltsame Tatsache, dass von allen übelriechenden Dingen Kölnisch Wasser in den ersten Stufen seiner Herstellung das schlimmste ist."
Herman Melville

"Sein Zimmer duftete nach einem bestimmten Parfüm, nach Frangipan; er sah nach, ob nicht ein geöffnetes Flakon umherstand, doch nirgends war eins zu finden; er ging in sein Arbeitszimmer, ins Speisezimmer, der Geruch hielt an. Er klingelte seinem Diener: ‚Riechen Sie nichts?' fragte er."
J.-K. Huysmans

"Ich rieche Menschenfleisch!"
Der Dämon im Märchen


zeichnung: martin meienburg


I.

Der Geruchssinn, der beim Menschen im Vergleich zu den Tieren weitgehend verkümmert ist, hat drei Funktionen: Es dient dem Erschnüffeln von Nahrung, warnt vor drohender Gefahr, informiert über potentielle Geschlechtspartner. Wir riechen, ob uns eine Speise schmeckt oder nicht. Dabei steht der Geruchssinn in einem engen Verhältnis zum Geschmackssinn. Gerüche können unseren Appetit anregen, genauso wie sie Ekelgefühle auslösen können. Die Nase teilt die Welt in Bekanntes und Unbekanntes, in Eigenes und Fremdes. Und sie spielt eine besondere Rolle in unserem Sexualleben. Dabei ist die Nase der kindlichste von allen Sinnen. Sie ist ungerecht. Entweder riecht jemand oder etwas gut oder es stinkt: "Der Teufel stinkt, das Heilige ist an seinem Wohlgeruch erkennbar. Das scheint eine archaische Achse zu sein, oben duftet es, unten riecht es schlecht. Vielleicht ist auch diese Topographie körperlichen Erfahrungen nachgebildet; im Gesicht die freundlichen Eindrücke, durch den Anus die übelriechenden Ausdrücke" (Utz Jeggle). Die Nase kennt den Hunger nach der Welt, nach Körpern, mit deren Hilfe das eigene Selbst definiert wird; aber sie kennt auch den Ekel und die Abscheu vor der Welt, vor dem besitzergreifenden Bekannten (Die Niveacreme der Mutter, von anderen Frauenleibern verströmt) wie vor dem bedrohlichen Fremden (Ein stechender Schweißgeruch! Küchendämpfe!). Unter allen Sinnen ist der Geruchssinn jener, der am meisten mit Erinnerungen verknüpft ist, der intensive Erinnerungen wecken kann.

II.

Zahlreiche Zeitachsen umgeben menschliches Leben, doch meist beschränkt sich die Ordnung von Ereignissen entweder auf früher als oder später als (B-Reihe nach McTaggart). Die B-Reihe umgeht elegant die Problematik einer Definition der Gegenwart, des Augenblicks. In einer zweiten Weise lassen sich Ereignisse mit den Begriffen Vergangenheit / Gegenwart / Zukunft zeitlich ordnen (A-Reihe nach McTaggart). Die sinnliche Wahrnehmung des Riechens speichert persönliche Erinnerungen, erlebte Erfahrungen und lebensnotwendige Kenntnisse eher im Ordnungsmuster der A-Reihe. Mit Hilfe von Geruchsproben kann die Behauptung illustriert werden:

Kernseife

Der Geruch von Kernseife erinnert mich an das Jahr 1959, als ich in meinem Kellerlabor die Herstellung von Seife versuchte und hierüber Protokoll führte. Die Aufzeichnungen sind bis heute erhalten.

Rotwein

Das schmeichelnde, fruchtig-süße Bukett eines Glases Rotwein Domina der Winzergenossenschaft Mayschoß-Altenahr erinnert mich an die Zeit vor meiner totalen Trockenheit, die am 16.12.1976 begonnen hat und bis heute anhält.

Parfüm

Die herbe Duftnote von Exception erinnert mich an ein Ereignis in Bad Pyrmont im Herbst 1992: In einer Parfümerie kaufte ich ohne Zögern das Rasierwasser von Paco Rabanne, deren letztmalige Benutzung ein Jahrzehnt zurücklag und das dann schleunigst am nächsten Morgen retourniert wurde, weil aufgetauchte Erinnerungswelten nicht mehr gemocht.

Kernseife, Rotwein und Parfüm schließen mit ihrem jeweiligen Geruch komplexe Erinnerungen auf, die jahrzehnteweit in meiner Vergangenheit liegen. Ein Vorgang, der eigenartig, meist unvorhersehbar abläuft. Der Unvorhersehbarkeit hat Marcel Proust durch das Sandtörtchen Madeleine in seinem Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ein Literaturdenkmal gesetzt, wenngleich beim Autor der Geschmack das dann Ungewöhnliche auslöst, nämlich das Schmecken von Kuchen und Tee.

Doch Geschmack ist dem Geruch nur untertan, denn ein Verlust der Riechfähigkeit infolge eines Unfalls oder einer Krankheit hat tragische Konsequenzen: den betroffenen Menschen schmecken alle Speisen wie ein gleichförmiger Brei, und Tiere sterben durch Verhungern. "Bei fast allen Tieren aber (Fische und Insekten nicht ausgenommen) ist der Geruchssinn genauso wichtig oder sogar wichtiger als Auge und Ohr. Ihr feines Geruchsorgan dient zum Aufspüren von Nahrung (bei der Hyäne noch in 10 km Entfernung), zum Prüfen derselben, zum Auffinden des Geschlechtspartners (der Schmetterling wittert ihn in Entfernungen bis zu 11 km) ..." (Wil Huygen und Rien Poortvliet, Das große Buch der Heinzelmännchen. Die ganze Wahrheit über Herkunft, Leben und Wirken des Zwergvolkes, Oldenburg und Hamburg 1978).


querschnitt durch augenhöhle, nasenhöhle und mund.
 in: carl reclam, der leib des menschen, dessen bau und leben, vorträge für gebildete, stuttgart 1870.


III.

Während das Auge uns auf Distanz zur Welt hält, Haut und Hand zwar unmittelbaren Kontakt erlauben, allerdings ohne sich je mit dieser wirklich zu vermischen, dringen Gerüche buchstäblich in uns ein. Georg Simmel: "Indem wir etwas riechen, ziehen wir diesen Eindruck oder dieses ausstrahlende Objekt so tief in uns ein, in unser Zentrum, assimilieren es sozusagen durch den vitalen Prozess des Atmens so eng mit uns, wie es durch keinen anderen Sinn einem Objekt gegenüber möglich ist, es sei denn, dass wir essen." Die Nase beschnuppert den Körper des anderen und verwandelt ihn dadurch in einen vertrauten Körper. In der Liebe wird der Körper des anderen mit der Nase geprüft. Jean Paul Sartre: "Der Geruch eines Körpers, das ist der Körper selbst, den wir durch Mund und Nase einatmen, den wir mit einem Male in Besitz nehmen, in seiner geheimsten Substanz und, womit alles gesagt ist, in seiner Natur. Der Geruch in mir, das ist die Verschmelzung des Geruchs des anderen mit meinem Körper. Aber es ist dieser entfleischte, verdampfte Körper, der zwar ganz er selbst geblieben, aber auch zu Geist verflüchtigt ist." Die Nase ist der Verdauungsapparat der Gerüche. Gerüche können nicht füllen, wohl aber sättigen.

IV.

Gari-Shoga: (Marinierte Ingwerscheiben): Zwischen den einzelnen Sushi sollte man seinen Gaumen erfrischen und für neue Aromen wach machen. Dazu isst man marinierte Ingwerscheiben: 50 g frischen Ingwer schälen, in hauchdünne Scheiben schneiden und 20 Sekunden in kochendem Wasser blanchieren; dann abgießen und in ein Schälchen geben. 1 Teelöffel Zucker mit 1/4 Teelöffel Salz und 4 Esslöffel Reiswein verrühren. Die Ingwerscheiben mit dieser Mischung übergrießen und mindestens 6, besser jedoch 24 Stunden marinieren. Dabei muss der Ingwer ganz bedeckt sein. Reicht die Flüssigkeit nicht aus, fügt man nach obigen Mischverhältnis entsprechend hinzu. Man kann den Zucker auch nach Geschmack durch Mirin (süßer Reiswein zum Kochen) ersetzen. (Masuo Yoshino, Sushi)


photo: hans soukup


V.

Das Aufnehmen der Witterung, die Orientierung im Raum durch die Riechnerven ist eine gegenwärtige Leistung. Hierfür hat es in der Performance eine markante Geruchsprobe gegeben:

WC-Reiniger

Das Mittel signalisiert mir nicht nur Örtlichkeiten, sondern auch meine sofortige Abwehr. Den vermeintlichen Reiniger finde ich so aufdringlich, dass er mehrmals verpackt in den Utensilien der Performance lagert. Sein Geruch ruft jetzt - im Moment der Wahrnehmung - meine radikale Abneigung hervor.

Das Riechen unangenehmer Düfte ist nicht gewöhnungsfähig. Es gibt keine Adaptation, keine Gewöhnung an schlechte Gerüche. Im Gegensatz zu den anderen vier Sinnen bezeichnet der Kulturphilosoph Georg Simmel den Geruchssinn als den dissoziierenden Sinn: "Dass wir die Atmosphäre jemandes riechen, ist die intimste Wahrnehmung seiner, er dringt sozusagen in luftförmiger Gestalt in unser Sinnlich-Innerstes ein ..." Dieses Eindringen, die Penetranz eines Geruchs birgt in sich das Risiko einer Ablehnung, einer Distanzsuche oder einer Fluchtgefahr.

VI.

Die Nase spürt auf, macht sich Fremdes zu eigen. Sie schnüffelt. Die Nase nimmt eine Spur auf. So scheint sie den Körper zu führen. Für etwas ein Gespür haben, nennen wir: einen Riecher haben. Die Nase ist ein seltsames Organ. Obwohl Gerüche etwas Unscharfes haben, vermag sie feinste Nuancierungen zu unterscheiden, zugegeben, etwas Leidenschaft oder Übung benötigt es schon. Die Nase hat auch etwas Indiskretes, neigt sie doch dazu, ihre Spitze in jedes Loch zu stecken. Aber hier passt sie sich den Gerüchen wiederum an, die selbst vor der Nase nicht haltmachen. Man kann sich bestenfalls die Nase zuhalten. Aber hier liegt auch das große Manko der Nase. Mit Gerüchen der Vergangenheit denken wir die Zukunft, jene des Begehrens ebenso wie jene der Gefahr. Unser Gehirn hat Gerüche gespeichert, die wir noch nie gerochen haben; Gerüche, die für unsere genetischen Vorfahren wichtig waren. Kommende Gefahren vermögen wir in der Regel nicht zu riechen.

VII.

Die enge Verknüpfung von Geruch und Gefahr eher auf die Zukunft ausgerichtet. In unserer Performance befindet sich folgende Demonstration:

Kabelbrand

Mittels einer brennenden Kerze wird ein Stück Kabelisolierung geschmort. Der allmählich sich verbreitende Geruch erinnert an Situationen drohender, noch nicht herrschender Gefahr während einer Autofahrt, im Haus oder im Betrieb. In solchen Situationen überlegen die Betroffenen, welche Handlungen zur Gefahrenabwehr sie demnächst, also zukünftig ergreifen sollten.

Der Zustand der Zeitoffenheit, den wir uns in der Phantasie vorstellen, muss nicht nur negativ sein. Die gegenwärtige sinnliche Wahrnehmung eines angenehmen Duftes kann auch mit einem künftigen Wohlgefühl verbunden sein, so zum Beispiel die Duftnote in einem Bekleidungsstück einer gerade abwesenden, aber bald zurückkehrende Partnerin. Wohlriechendes kann das genannte Ordnungsmuster auflösen: der Wahrnehmende schwebt in der Gegenwart zwischen seinen Erinnerungen aus der Vergangenheit und seinen Erwartungen an die Zukunft hin und her. Aber Wohlgeruch hat einen hohen Preis. Auch deswegen hat Herman Melville in seinem Werk Moby Dick der Ambra zwei ausführliche Kapitel gewidmet, die Viktoria Meienburg während der Performance vorliest.

VIII.

Der Notar L'Ambert steckt seine Nase zwischen die Schenkel der Balleteusen, riecht den Duft ihrer frischgebadeten Haut. Zolas kleiner Postbeamte glaubt, die Haut seiner Geliebten zu riechen, dabei hat er seine Nase nur in ihr Korsett gesteckt. Sie kennen die Geschichte. Der Notar verliert seine Nase bei einem Duell, lässt sich eine zweite aus Fleisch machen. Dieses geruchsunempfindliche Gebilde mit zwei künstlichen Löchern, die das Atmen erlauben, steckt er in ein silbernes Wännchen, gefüllt mit herzhafter Bouillon. (Edmond About, Die Nase des Herrn Notar, 1862)

IX.

Essen hält Leib und Seele zusammen. Während der Knoblauch in den nach einem georgischen Rezept gefüllten Melanzanischeiben auch aus einer abgedeckten Schüssel seinen sofort zu identifizierenden Geruch verströmt, obwohl er mit Basilikum, Petersilie, Walnusskernen, Zitrone, Salz und Pfeffer, sowie den in Olivenöl gebratenen Melanzanirandstücken gemeinsam im Mörser zerrieben wurde, haftet der Geruch der Forellenfilets vorwiegend an der Haut, von der für Sushi kleine, hellrosa Stücke mit einem scharfen Messer abgetrennt werden. Durch kurzes Erhitzen in einer beschichteten Pfanne, was kein Fett erfordert, werden die Teile weiß und geben mit der Hitze einen kurz wahrnehmbaren Duft preis. Gesäuerter Reis, roher Fisch, Wasabi und eingelegter Ingwer, können durch Riechen gut voneinander unterschieden werden, aber nur, wenn sie direkt unter die Nase gehalten werden. Der normale Abstand der Speisen auf einem am Tisch stehenden Teller zum Riechorgan einer am Tisch sitzenden Person ist zu groß, um die einzelnen Zutaten herauszuriechen.

X.

falt-skizze museums-abort, bernhard kathan


Bleibt nur noch, den Museums-Abort zu erwähnen: Material: Visaformplatten (9mm); Kanthölzer; Lärchenbretter (gehobelt); 38 Torbandschrauben; Gewindestanden; Blech, Klorollen- und Aschenbecherhalterung (verchromt). Maße: Die Breite der Sitzfläche des Aborts entspricht der Zeitung "Die Zeit" (80cm); ihre Tiefe (50cm) dem Breitenformat des Tisches meines Stammlokals, in welchem ich solches schreibe, die Höhe der Sitzfläche (47cm) wiederum der Höhe der sich dort befindlichen Sitzgelegenheiten, und schließlich ist die Kabinenhöhe (210cm) zu nennen: diese entspricht exakt der Toilettentüre meiner Wohnung. Das kreisrunde Loch des Aborts (Durchmesser 30cm) entspricht dem Durchmesser des wichtigsten Kochtopfs der Museumsküche. Da wie dort findet sich ein Deckel. Übrigens nahm der Abort noch am selben Tag den typischen Geruch eines "Häusls" an; es ist nicht der Geruch nach Harn und Kot, sondern ein vollkommen eigener Geruch. So wie es einen Geruch der Angst gibt, einen Geruch der Krankheit (hier wären viele zu nennen), einen Geruch des Todes und die sauer gewordene Milch in schweren Krügen ihren Geruch kennt, so hat auch das "Häusl" seinen Geruch. Aber Sie sitzen im Freien. An Regentagen riechen Sie den Dampf des Erdreichs, an heißen Tagen das Harz der Bäume. Der Steg vor Ihren Augen wird Ihnen den Weg zum Erdmittelpunkt weisen.

[Der vorliegende Text wurde montiert aus Texten von Jürgen Engel, Ulrike Jussel und Bernhard Kathan]

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