Rettung der Welt. Eugenische Versprechen
Ille C. Gebeshuber: "Eine kurze Geschichte der Zukunft"


Nur wenn die Menschheit zur Vernunft komme, werde der Mensch nicht selbst Opfer des Artensterbens, andernfalls würden "Kriege, Krisen und Naturkatastrophen auf ihre Art dafür sorgen, dass die umweltschädlichen Aktivitäten der Menschheit reduziert werden." So die Wiener Bionikerin Ille C. Gebeshuber in ihrem Buch "Eine kurze Geschichte der Zukunft". Da muss man der Autorin wohl zustimmen. Aber die Naivität, mit der sie daherfabuliert, ist kaum zu überbieten. Für eine "gläubige" Wissenschaftlerin versteht es sich von selbst, dass sich die Lösungen dem technischen Fortschritt verdanken werden, vor allem künstlicher Intelligenz. Mit Hilfe der Wissenschaft soll die Welt gerettet werden, ohne auch nur mitzudenken, dass praktische Anwendungen wissenschaftlicher Erkenntnisse maßgeblich zur Verwüstung der Welt beigetragen haben.

Werfen wir einen Blick in die Gebeshubersche Zukunft. Der Einfachheit halber schreibe ich alles im Präsens. Im 22. Jahrhundert ist, sollte die Menschheit inzwischen nicht infolge einer "ultimativen Katastrophe" ausgestorben sein und doch noch eine "sanfte Landung" geschafft haben, dank technologischer Entwicklungen nahezu alles automatisiert. Reale und virtuelle Welten durchdringen sich. Unmittelbar nach der Geburt werden jedem Kind neuronale Schnittstellen in das Rückenmark implantiert. Einspruch ist weder vorgesehen noch möglich. Dank dieser neuronalen Schnittstellen sind die Menschen direkt mit den unbegrenzten Räumen der Virtualität verbunden, wobei reale und virtuelle Welten nur noch schwer auseinanderzuhalten sind. An die Wirklichkeit werden sie nur noch dann erinnert, wenn sie Hunger oder Durst empfinden, mit dem Kopf gegen eine Kante stoßen oder ihnen bewusst wird, von diesem oder jenem Bereich ausgeschlossen zu sein.

Weitere digitale Komponenten ermöglichen sogar "telepathische" Kommunikation: "Dazu wird ein Hirnwellenscanner, ein feines Netz in der Kopfhaut, das die schwachen elektrischen Ströme im Gehirn misst, verwendet, um klar formulierte Ausdrücke im Hirn des Nutzers zu ermitteln. Die so ermittelten Ausdrücke werden an das System der Zielperson gesendet, das die Ausdrücke in Sprache übersetzt und mittels eines integrierten Implantats in das Ohr überträgt. Mit den visuellen Reizen kann dies ähnlich verlaufen: So können Bilder aus dem Sehnerv oder auch aus der eigenen Vorstellung in den Sehbereich eines Empfängers gesendet werden." Wer sich in eine Traumwelt begeben will, gibt "ein geistiges Signal an die Schnittstellen und das Gehirn wechselt im Zuge der sanften Umstellung der Sinneseindrücke in den anderen Zustand." Nicht länger seien "die Menschen gezwungen, sich selbst darzustellen, sondern können jede beliebige Form annehmen und Sonderfähigkeiten haben", stünde es ihnen doch frei, wie in einem Warenkatalog zwischen verschiedenen vorgefertigten Welten zu wählen.

Da es kaum noch etwas zu tun gibt, werden alle zu Künstlern. Während Kunst üblicherweise von individuellen oder gesellschaftlichen Konflikten lebt, bleibt ihr in der Gebeshuberschen Welt nur die Simulation und die "Nachbildung der Wunder der Natur, gelte es doch die Natürlichkeit wiederzuentdecken und die klare und einfache Schönheit der Lösungen der Natur zu bewundern. Wo einst Dürer einen wunderbaren Hasen zeichnete, gehen die Künstler der Zukunft weiter und bilden den Hasen nahezu perfekt nach. Und dies nicht nur als Körper, sondern als sich entwickelndes Lebewesen, in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen, Größen und Färbungen." In virtuellen Räumen könne jeder zum Künstler oder zu einem Teil eines Kunstwerkes werden, ließen doch vorgegebene Szenarien, Personen, Lebewesen und Umgebungen, die man sich als begehbare Kulissen denken mag, endlose Kombinationsmöglichkeiten zu. So soll sich das künstliche zu einem künstlerischen Umfeld wandeln: "Die überzeugende Schaffung des Gefühls von Wind auf der Haut kann ebenso die Menschen begeistern wie die Illusion des Geschmacks von Salz oder auch der Klang des Lachens einer geliebten Person." Die Verwechslung von Kunst mit Simulation, vor allem der Evolutionsgeschichte, findet sich bereits in frühen von Biologen und Ärzten verfassten Zukunftsentwürfen, deren Autoren mit der Kunst ihrer Zeit nichts anzufangen wussten.

Angesichts all der virtuellen Welten, Parallelgesellschaften und Parallelebenen müsste einen tatsächlich eine Drehkrankheit überfallen. Eine Vorstellung von solchen Drehkrankheiten mögen einige psychiatrische Krankheitsbilder geben. Da muss ich an Timo denken. Die Arbeit als Kellner vermochte ihn nicht auszufüllen. In Scheinwelten gefiel es ihm besser. Da die virtuellen Welten im Augenblick noch ziemlich unvollkommen sind, bediente er sich chemischer Hilfsmittel. Nahm sich ein Zimmer in einem Luxushotel, in dem noch uniformierte Diener herumlaufen. Und als er in seiner Suite auf dem Bett lag, da fühlte er sich ganz frei, und weil er sich so frei fühlte und ihm alles möglich schien, kam er auf den Gedanken, es wäre doch schön, nicht durch die Tür, sondern durch eines der Fenster in die Wirklichkeit zurückzukehren. So hoffte er, die Tristesse seines Lebens hinter sich zu lassen. Da sich die Suite, in der schon so viele gewichtige Leute genächtigt hatten, auf der vierten Etage befand, knüpfte er sich aus Kabeln, die sich im Raum fanden und die er aus Lampen und Geräten reißen konnte, eine Abstiegshilfe. Er dachte nicht an Leintücher, die schon manchen, nicht nur im Kino, eine Flucht ermöglicht hatten. Nachdem er die zusammengeknoteten Kabel an einem der Bettpfosten befestigt hatte, kletterte er auf das Fenstersims, um sich abzuseilen. Auf der Höhe des dritten Stockwerks, Timo empfand eben ein großes Wonnegefühl, löste sich einer der Knoten ... Timo schlug schwer in der Wirklichkeit auf, auf dem Gehsteig vor dem Hotel. Er wurde sich dessen allerdings erst bewusst, als er mit zahlreichen Knochenbrüchen aus dem Koma erwachte. Das Gehirn hatte auch etwas abbekommen, weshalb Timo nun nicht nur manche Bewegungen schwerfallen, sondern auch das Sprechen.

Solches zählte in der von Gebeshuber beschriebenen Welt wohl zu den alltäglichen Vorkommnissen. Doch nun zu der von ihr skizzierten Gesellschaftsordnung. Die Gesellschaft zerfällt in drei Schichten: Es gibt eine kleine Elite, eine Oberschicht aus reichen Erben (2%), und eine dünne Mittelschicht, die sich um die wenigen Arbeitsplätze des Automatenzeitalters balgt und deren Einkommen es erlaubt, dem Luxus der Superreichen nachzueifern, freilich ohne je in ihre Klasse aufsteigen zu können. Der überwiegende Teil der Menschen jedoch zählt zur Masse der Überflüssigen, denen so etwas wie eine kleine, in Form von Gutscheinen ausbezahlte "Mindestsicherung" zugestanden wird. Die Summen, über die die Bezieher frei verfügen können, erlauben es nicht, eigenen Geschäften nachzugehen oder am gesellschaftlichen Leben wirklich teilzuhaben. Um sie über die Sinn- und Trostlosigkeit ihres Lebens hinwegzutäuschen, werden ihnen virtuelle Traumwelten geboten, die ihnen Glück vorspiegeln, ihnen vorgaukeln, "außerhalb von Sachzwängen der realen Welt ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Dabei werden sie nicht auf digitalen Besitz verzichten müssen, denn über Blockchains wird es möglich sein, ihre Avatare mit den Produkten von Markenherstellern zu verbinden und für sich oder in Gruppen eigene Kreationen zu erstellen." So werde einer weiteren Zerstörung der Natur Einhalt geboten.

Wir haben es mit einem ausgeprägten Kastenwesen zu tun. Überlappungen sind bestenfalls zwischen der Elite und der Mittelschicht denkbar sind, etwa dann, wenn Fertilitätsstörungen, die auch unter den Reichen häufig sind, einer medizinischen Behandlung bedürfen. In diesem Fall sind die Reichen gezwungen, einen gut ausgebildeten Arzt der Mittelschicht aufzusuchen. Wie in einer Seifenoper stehen ganz oben die Reichen und Schönen, die ein müßiggängerisches Leben führen und deren einzige Aufmerksamkeit einem gesunden und schönen Körper gilt. Mögen sie auch über die besten "Informationswerkzeuge" der virtuellen Welt verfügen, die auf dem Markt erhältlich sind und so Ungewöhnliches bieten, dass Angehörige der Mittelschicht, hätten sie Zugang zu diesen, einen Schock erlebten, ziehen sie doch ein bukolisches Leben vor. Im Gegensatz zur Masse der Menschen wissen sie zwischen der echten und der virtuellen Welt zu unterscheiden. Auch haben sie es aufgrund ihres Einkommens nicht nötig, sich in "maschinelle Träume" zu flüchten, steht es ihnen doch offen, diese in der realen Welt zu befriedigen. Um die Welt unmittelbar zu erleben, unternehmen sie Reisen. Trotz mancher Vergnügungen mit robotischen Partnern halten sie an herkömmlichen sexuellen Praktiken fest, weshalb nahezu alle der neugeborenen Kinder der kleinen Elite entstammen. Schon nach wenigen Generationen, so Gebeshuber, wirke dies dämpfend auf das Bevölkerungswachstum und habe eine deutliche Abnahme der Weltbevölkerung zur Folge, was noch durch eine allgemein geringere männliche Fruchtbarkeit begünstigt werde. Da versteht es sich von selbst, dass der Zugang zu medizinischen Behandlungsmöglichkeiten von oben nach unten abnimmt. Die Natur kann sich also erholen.

Wer der Mittelschicht angehört, kann sich wie in früheren Gesellschaften dank billiger Imitate und Gesten dem Schein hingeben, am Leben der Reichen teilzuhaben. Allerdings treiben Angehörige der Mittelschicht nicht deshalb Sport, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil körperliche Tüchtigkeit als Zeichen der Privilegierten gilt. Die ungebildeten Massen werden mit virtuellen Basisprogrammen abgespeist, weshalb "Substitute, also Spezialbrillen, -kopfhörer und -mikrofone, die über die Körperenergie angetrieben werden", weit verbreitet sind: "Nichtsdestotrotz werden diese Werkzeuge in der Lage sein, ausreichend realistische virtuelle Welten zu erschaffen. Der ausreichend schnelle Anschluss an das Netz wird ein Menschenrecht sein und der solcherart mögliche Zugang zu Daten und Informationen wird dazu dienen, die mit dem geringen sozialen Status einhergehenden Einschränkungen an persönlicher Freiheit auszugleichen. Die Freiheit der Unterschicht wird daher die Flucht in maschinelle Träume sein." Um es kurz zu sagen: "Die Reichen werden die echte Welt genießen und die Armen träumen."

Sozial wie räumlich werden die Unterprivilegierten an die Peripherie gedrängt. Es ist ihnen zwar nicht untersagt, die Innenstädte zu betreten, allerdings sind die damit verbundenen Kosten für sie unerschwinglich. In normierten "Einzelzimmern" großer Wohnblöcke fristen sie, effizient und kostengünstig versorgt, ihr monadisches Leben, angetan mit "Neo-Togas" aus recyclefähigem "gewalktem Zellstoff", die sich wie normierte Kleidungsstücke in heutigen Krankenhäusern durch Klebestreifen der jeweiligen Körpergröße anpassen, aber immerhin dem Geschmack ihrer Träger entsprechend bedrucken lassen. Aber wen kümmert schon triste Architektur, wenn es ist doch möglich ist, Gebäude virtuell zu erweitern oder Stadtteile von Venedig in trostloseste Gegenden zu verpflanzen? Auch der Mangel an Gemeinschaft lässt sich virtuell kompensieren. Im Leben der Deklassierten spielen Nachbarn kaum noch eine Rolle. Wozu auch, finden sich doch genügend Menschen in Informationsblasen, nicht Nachbarn, die man sich nicht aussuchen kann, sondern Menschen mit gleichen Interessen oder denselben kulturellen Vorstellungen, wobei solche virtuellen Spiegelungen über den Tod hinaus lebendig sein können. Dass Nachbarn kostbar sind, trotz aller Konflikte, die man mit ihnen haben kann, können solche Menschen nicht mehr begreifen.

Beim Abgrund, der sich zwischen den Reichen und den Deklassierten auftut, fragt man sich, wer denn die Blumen in den Gärten der Reichen pflanzt. Wer kümmert sich um ihre Kinder? Wer führt die Hunde aus? "Robotische Assistenten" eignen sich dazu nicht. Wie uns die Geschichte lehrt, schließen sich räumliche Präsenz und Distanz nicht aus, ganz im Gegenteil, bedürfen doch Eliten Deklassierter, um sich ihrer Überlegenheit gewiss zu sein. Roboter könnten solches nie vermitteln. Wozu sollten sich Reiche eines Sexroboters bedienen, fänden sich doch unter den Massen der ärmeren Bevölkerungsschichten genügend hübsche Mädchen, oder auch niedliche Kinder, die sich wie Haustiere zum Vergnügen halten und vielleicht sogar züchten ließen?

Selten habe ich ein Buch mit größerem Widerwillen gelesen. Kaum ein Gedanke ist genauer durchdacht. Was soll man sich etwa vorstellen, wenn man liest: "Auch der Flugverkehr ist inzwischen umweltfreundlich. Die Flugzeuge werden durch Düsensysteme angetrieben, die durch starke Energiespeicher versorgt werden." Das Buch, von dem die Autorin meint, sie habe es "bewusst einfach" gehalten und die Zukunft "gezwungenermaßen durch die verzerrte Optik unserer Zeit" betrachtet, strotzt nur so vor Trivialitäten: "Es gibt Themen, die von unserer Gesellschaft großräumig tabuisiert werden." Vieles scheint plattesten Zukunftsromanen des neunzehnten Jahrhunderts entlehnt: "Die durchschnittliche Anzahl der Zähne wird 28 betragen, da besser aufbereitetes und nahrhaftes Essen weniger Mahlzähne notwendig macht. Durch Nutzung von Schuhwerk wird die Verkümmerung der Zehen ebenfalls voranschreiten." Schon Bertha von Suttner träumte von bakteriziden Oberflächen. Manches liest sich geradezu niedlich. Um Artenvielfalt auch in der völlig automatisierten Landwirtschaft zu gewährleisten, soll es ein Verbot der Nachlese geben. Fragt sich nur, wer sich denn in einer so organisierten Welt noch die Mühe machen sollte, auf einem Feld nach einzelnen Ähren zu suchen oder einige von Maschinen übersehene Trauben zu pflücken. Ein "ausreichend schneller Anschluss an das Netz wird ein Menschenrecht" - ein Anspruch auf ein Instrumentarium, das der Kontrolle und der Bewirtschaftung dient, scheint mir ein seltsames Menschenrecht.

Ich vermag über die Möglichkeiten der Nanotechnologie nichts wirklich Ernsthaftes zu sagen. Naturwissenschaftler tun sich da leichter. So kann denn Gebeshuber mühelos über Identität, Kommunikation, Gesellschaft, Kunst und so fort schreiben, ohne sich je wirklich mit sozialwissenschaftlicher, gesellschaftstheoretischer oder geschichtswissenschaftlicher Literatur beschäftigt zu haben. Das kann man einer Bionikerin nicht vorwerfen, wohl aber, dass sie sich trotz ihres Mangels an Fachwissen gesellschaftstheoretische Überlegungen anmaßt. Letztlich haben wir es mit Alltagstheorien zu tun, angereichert mit aus dem Netz zusammengeklaubten Versatzstücken - darübergestreut ein paar Körnchen aus der eigenen Disziplin. Es reicht nicht einmal zu einem anderen Gesellschaftsentwurf. Wie in der Vergangenheit wird auch in Zukunft die etablierte Elite bestrebt sein, die ihr zugestandenen Privilegien für sich und ihre Nachkommen zu sichern: "Den Reichen jene Ungebundenheit und Bequemlichkeit, die sie sich immer erhofft haben, und den Armen Träume auf Kosten der Freiheit."

Auffallend sind all die unterschichtsbezogenen Stereotypen, was Bildung, Essverhalten und vieles andere betrifft. Die Deklassierten geben sich nicht deshalb dem Konsum hin, weil es ihnen eingeschrieben wäre, sondern weil ihnen der Zugang zu Bildung verwehrt ist, es ihnen an Möglichkeiten mangelt, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Schlingen sie die Nahrung allein und möglichst rasch in sich hinein, dann nicht deshalb, weil ihnen etwas Tierisches eigen wäre, sondern weil die erzwungene monadische Lebensweise wie die ihnen zugewiesene industriell gefertigte Nahrung kaum ein gemeinschaftliches Essen ermöglicht. Die Neigung zu Übergewicht und körperlichen Degenerationserscheinungen ist nicht genetisch festgelegt, sondern Folge der Billignahrung wie der Beschränkung ihrer Bewegungsmöglichkeiten, werden sie doch von natürlichen Lebensräumen ebenso ferngehalten wie von den urbanen Zentren. Dass nach wie vor sie es sein sollen, die die Umwelt verschmutzen, man denke an weggeworfene Fastfood-Verpackungen, liest sich angesichts der höchst ungleich verteilten Mittel und verbrauchten Ressourcen als dumm, wenn nicht gar als boshaft, ebenso wie die Vorstellung, die Überflüssigen sollten die ihnen zugestandenen billigen "Werkzeuge" zur Selbstbefriedigung mit ihrer eigenen Körperenergie antreiben.

Gebeshuber spricht von "Werkzeugen", wenn sie neuronale Schnittstellen, Rechner mit ihren Programmen meint. Mit Werkzeugen im herkömmlichen Sinn haben wir es mitnichten zu tun. Mit Hilfe von Werkzeugen werden Funktionen lebender Körper oder Maschinen erweitert, um ein gewisses Ziel zu erreichen. Als Beispiel sei eine Heugabel genannt. Mit einer Heugabel ist es einfacher, Gras oder Heu auf einen Haufen zu werfen, als es wäre, müsste man dies mit bloßen Händen tun. Eine perfekte Heugabel ist dem Körper angemessen, verschmilzt aber nicht mit ihm. Im Idealfall liegt sie nur gut in der Hand. Etwas anderes ist es, werden über neuronale Schnittstellen im Rückenmark Impulse ins Gehirn übertragen. Haben wir es mit Verbindungen zwischen Nerven und digitalen Komponenten zu tun, dann müsste man genaugenommen von Programmen sprechen, zumal solche "Werkzeuge" keineswegs stabil sind, sondern sich in Rückkoppelungsprozessen ständig erweitern und verändern. Mit genügend Übung lässt sich ein Werkzeug beherrschen, ein Programm jedoch nie wirklich. Auch stellte sich die Frage, wer die vermeintlichen "Werkzeuge" kontrolliert. Gewiss nicht die Deklassierten, die mit Hilfe virtueller Welten ruhiggestellt, wenn nicht gar vernichtet werden.

Um "im Einklang mit der Natur" zu leben, sei ein "gemeinsames Wollen und das Hintanstellen kurzsichtiger Egoismen" gefordert. "Im Einklang mit der Natur": Solches liest man auch auf Werbeseiten von Diskontern oder Lebensmittelkonzernen. Würde man nur die Natur walten lassen, so wäre alles wieder in Ordnung. Da möchte man Gebeshuber doch an jene Stelle erinnern, an der Darwin schreibt, ihm scheine zu viel Elend in der Welt zu sein: "Ich kann nicht glauben, dass ein guter und allmächtiger Gott die Ichneumonidae geschaffen haben soll in der ausdrücklichen Absicht, dass sie sich vom Inneren lebendiger Raupen nähren, oder dass es im Einklang mit seinem Plan steht, wenn eine Katze mit Mäusen spielt." Darwin empfand das als so abstoßend, dass er Gott die Schöpfung nicht zumuten wollte. Spurlos scheinen an Gebeshuber all die Debatten vorbeigegangen zu sein, in denen die Natur als kulturelles Konstrukt entschlüsselt wird. Nein, um die Natur braucht man sich keine Sorgen zu machen. Es wird sie auch dann noch geben, wenn die Erde verödet und unbewohnbar sein wird. Gebeshubers von vielen geteilte Vorstellung von der Natur verdankt sich entscheidend jener wahnwitzigen Ökonomie, die von ihr beklagt wird. Pygmäen oder kleine Bergbauern des neunzehnten Jahrhunderts, um nur zwei Beispiele zu nennen, hätten mit ihren Vorstellungen von der Natur nichts anzufangen gewusst. Dabei waren sie Experten, was das Leben in und mit der Natur betrifft. Und wie von "der Natur" scheint Gebeshuber auch von "der Wissenschaft" beseelt, als gäbe es die Wissenschaft als solche, wertfrei und nur der Erkenntnis verpflichtet, als gäbe es sie ohne Ökonomie mit all den oft fraglichen Nebenzwecken.

Ginge es um das "Hintanstellen kurzsichtiger Egoismen", dann bedürfte es eines anderen Gesellschaftsmodells. Aber wozu braucht es ein solches, läuft doch ohnehin alles auf die Abschaffung des Menschen hinaus. So wird "die Natur" zum eigentlichen Lebewesen, wie auch die Maschinen lebendiger werden, als es der Mensch selbst sein kann. Auffallenderweise begreift Gebeshuber technologische Neuerungen ganz biologistisch als evolutionäre Entwicklungen. Konsequent weitergedacht liefen ihre Überlegungen, zumindest was die Deklassierten betrifft, letztendlich auf Sterilisation und Tod hinaus. Müssen Massen von Überflüssigen versorgt werden, dann ist es nicht weit zu ihrer Entsorgung. Das gilt insbesondere für Menschen, die nicht nur nutzlos, sondern auch würdelos sind, zumal ihnen all das genommen wurde, was Würde zur Voraussetzung hat. Der Raub der Würde geht der Vernichtung voran. Warum sollten denn die Nutzlosen, die ein parasitäres Leben führen und die Natur belasten, am Leben erhalten werden? In einer maschinengesteuerten Welt, in der rund um die Uhr individuelle Parameter erhoben und über neuronale Schnittstellen auf die Gehirne Einzelner zugegriffen werden kann, dürfte das kein Problem sein. Warum sollte es nicht Programme geben, die den selbstgewählten Tod als Glück versprechen? Warum nicht einfach heilsversprechende virtuelle Pfade anlegen, die Menschen in reale tiefe Abgründe stürzen lassen? Alles läuft auf ein Aussterben der deklassierten Massen hinaus, darf es doch, soll sich die Natur wieder erholen, nicht so viele Menschen auf der Erde geben. Erhalten bleiben sollen, da der Mensch nun auch einmal Teil des Gefüges der Natur ist, eine kleine Elite schöner Menschen und eine gewisse Anzahl nützlicher Dienstleister, die schließlich das verlorengegangene Paradies bevölkern: "Es ist faszinierend, wenn wir uns unsere früheren Vorfahren vorstellen, die an einem Sonnenstrand ohne Sorgen entlanggegangen sein mögen und die hängenden Früchte von den Bäumen aßen. Diese idealisierte Sicht der Vergangenheit wird auch die angestrebte Entwicklung dieser Zivilisation sein." Unweigerlich fühle ich mich hier an jene zahlreichen Ärzte und Biologen erinnert (Paul Mantegazza, Konstantin Mereschkowskij, R.H. Francé, J.B.S. Haldane etc.), die um 1900 in Zukunftsromanen Modelle der Biologie popularisierten und so unter anderem den Weg zur praktischen Anwendung der Rassenhygiene ebneten.

© Bernhard Kathan, 2021

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