Milch, Milch, Atem: Nachbetrachtungen


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Bergbauern finden im Augenblick nicht sehr viel Aufmerksamkeit. Man gibt sich mit „Heumilch“ und dem „Almrind“ zufrieden. Wer denkt schon daran, dass Jungrinder, kommen sie von der Alm, mit Maissilage und Kraftfutter einige Zeit gemästet werden müssen, damit sie das optimale Schlachtgewicht erreichen. Von Gras allein setzt ein Rind nicht sehr viel Fleisch an, auch kostet die Bewegung in alpiner Landschaft sehr viel Energie.

Das Projekt MILCH, MILCH, ATEM wurde durch das Bundeskanzleramt und die Kulturabteilung der Vorarlberger Landesregierung unterstützt. Ich weiß das sehr zu schätzen, und nicht nur des Geldes wegen. Die Kulturabteilung des Landes Tirol hat eine Förderung des Projektes abgelehnt. Ich habe ein interdisziplinäres Kunstprojekt eingereicht, das heutige Entwicklungen der Landwirtschaft im alpinen Raum zum Gegenstand hat und besonderes Gewicht auf ökonomische und technologische Entwicklungen legt. Beantwortet wurde der Antrag von der für Brauchtumspflege zuständigen Sachbearbeiterin. Beschäftigt man sich in einem Projekt mit Bauern, dann fällt man in der Tiroler Kulturabteilung in die Kategorie der Heimat- und Brauchtumspflege. Unterste Schublade.

Auch nach Beendigung des Projektes finde ich die Beschäftigung mit alpiner Landwirtschaft geboten. Die Rinderhaltung hat über Jahrhunderte den Alpenraum geprägt, mehr noch, ohne Rind wäre die Besiedelung hochalpiner Täler undenkbar gewesen. Das Leben war buchstäblich um das Rind organisiert. Ganz gleichgültig, ob man es nun bedauert oder nicht, all das wird innerhalb kürzester Zeit verschwunden sein. Allein dieser sich mit enormer Geschwindigkeit vollziehende Wandel verdient Aufmerksamkeit. Und dann lassen sich am Beispiel der bergbäuerlichen Rinderhaltung auch sehr gut die Auswirkungen der Globalisierung betrachten. Gerade in diesem Zusammenhang finde ich all die Lösungen faszinierend, die Bergbauern über die Jahrhunderte entwickelt haben, um selbst unter schwierigsten Bedingungen zu überleben. Daraus ließe sich manches lernen. Und nicht zuletzt wäre eine Auseinandersetzung mit alpiner Landwirtschaft schon allein deshalb geboten, weil die weiteren Entwicklungen überhaupt nicht absehbar sind. Manches zeichnet sich bereits ab, wird aber kaum wahrgenommen. Ein aufmerksamer Beobachter kann etwa die ökologischen Auswirkungen der Mutterkuhhaltung in Hanglagen sehen, Bodenerosion und Versteppung. Bereits nach wenigen Jahren lassen sich Hanglagen nicht mehr mähen. Disteln und Heckenrosen breiten sich aus. Damit wird sich nicht nur das, was wir unter Kulturlandschaft verstehen, grundlegend verändern, infolge der Bodenerosion werden auch Murenabgänge zunehmen.

Was Rinder und Bergbauern betrifft, geben sich die meisten Ausstellungen, Veranstaltungen und Projekte mit einem „So war es einmal“ zufrieden. Und dann lädt man noch zu Bauernmarende oder Brettljause. Die Tiroler Kulturabteilung fördert, wie ich sehe, mehrfach solche Projekte, die nicht gerade als innovativ zu bezeichnen sind. Da können immer noch Bauernbilder einer Erika Hubatschek bemüht werden, obwohl der erste wirkliche Mechanisierungsschub in der bergbäuerlichen Landwirtschaft, der damals einsetzte, vollkommen an ihr vorüberging oder von ihr ausgeblendet wurde. Das haben andere dokumentiert.

Das Errichten von Flechtzäunen oder Trockensteinmauern überlasse ich gern anderen. In der Beschäftigung mit der Landwirtschaft in alpinen Lagen sind heute ganz andere Dinge von Bedeutung, angefangen vom Klimawandel über die Globalisierung bis hin zu technologischen Entwicklungen. Auch soziale und psychologische Momente sollten nicht außer Acht gelassen werden. Was bedeutet es etwa, wenn Bergbauern zu Landschaftspflegern werden, sie eine grundlegende Entwertung der von ihnen hergestellten Produkte erleben? Diesbezügliche Klagen habe ich während des Sommers oft genug gehört. Ich unterhielt mich mit einem Bauern, der auf Mutterkuhhaltung umgestellt hat und das Rindfleisch selbst vermarktet. Ein Metrac (ohne die nötigen Zusatzgeräte, wie etwa ein Mähwerk) ist mit 26 Jungrindern zu verrechnen. Das gibt eine Vorstellung davon, wie wenig das produzierte „Qualitätsfleisch“ wert ist. Letztlich erleben Bergbauern nicht nur eine Entwertung ihrer Arbeit, sondern ihrer Person. Ihnen droht tatsächlich, überflüssig zu werden. In zwanzig Jahren wird es GPS-gesteuerte Roboter geben, die, rund um die Uhr einsetzbar, ein Vielfaches heutiger Hydromäher, hinter denen immer noch ein Mensch herlaufen muss, leisten werden. Beschäftige ich mich mit der Vergangenheit, dann einzig mit dem Ziel, heutiges Verhalten (etwa Anpassungsleistungen kleiner Bauern) oder heutige Entwicklungen besser verstehen zu können.

Mit solchen oder ähnlichen Fragen befasste ich mich während des Projektes. Nehmen wir das Beispiel Scham. Wiederholt habe ich Bauern nach der Höhe erhaltener Förderungen gefragt. Alle drucksten herum. Fragt man hingegen etwa, wie viel ein Tierarzt für eine künstliche Besamung oder die Kastrierung eines Stierkalbes verlangt, bekommt man sofort eine Antwort. Ähnliches gilt auch für die Anschaffungskosten landwirtschaftlicher Maschinen. Ich deute dies als Scham. Wer wenig verdient, spricht nur ungern über sein Einkommen. Dies hieße, den niedrigen gesellschaftlichen Status einzugestehen. Über die niedrigen Preise für Milch oder Fleisch lässt sich leichter klagen. Das Problem beginnt bereits beim Begriff „Förderung“. Bergbauern erbringen heute Dienstleistungen im Interesse der Allgemeinheit. Mit Dienstleistern im eigentlichen Sinn haben sie aber wenig gemein. Das fängt bereits damit an, dass es keine Ausschreibungen, keinen Wettbewerb gibt. Dann bewirtschaften sie zumeist eigene Grundstücke. Sie sind also nicht mit einem Unternehmen zu vergleichen, das sich etwa auf die Pflege von Straßenrändern spezialisiert hat. Die Höhe der Abgeltung erbrachter Leistungen, die der Erhaltung der Kulturlandschaft, dem Tourismus, der Erhaltung der Artenvielfalt, dem Schutz vor Muren oder Lawinenabgängen dienen, wird nicht durch den Markt, sondern amtlicherseits festgelegt. Das muss nicht unbedingt ein Problem sein, hat aber bestimmte Verhaltensdispositionen zur Folge. Förderungen werden zumindest auf psychologischer Ebene immer noch im Sinne einer Gewährung gedacht. Dann können Förderungen auch ganz anderen Interessen dienen, etwa der Konjunkturbelebung. Bauern müssen in Anlagen und Maschinen investieren. Ganz im Widerspruch zu landläufigen Vorstellungen fließt der größte Teil der Förderungen in erforderliche Betriebsmittel. Bergbauern müssen ziemlich hart arbeiten. Reich werden sie nicht.

Durch die inhaltliche Arbeit, sie hat ihren Niederschlag in einigen Texten gefunden, sehe ich inzwischen vieles anders als noch vor einigen Jahren. Erst jetzt ist mir bewusst geworden, welche Rolle Arbeitsmigration im Leben vieler Bergbauern spielte, wie sehr sich die Sesshaftigkeit, die wir mit subsistenzwirtschaftlich lebenden Bergbauern assoziieren, einer Volkskunde verdankt, die all das ausklammerte, was nicht in urbane Bilder passte. Etwas Ähnliches gilt auch für die vielen handwerklichen Nebenbeschäftigungen, die Bergbauern einmal ausübten. Dass ich manches nun ganz anders sehe, verdankt sich durchwegs einer forschenden Haltung, die sich nicht davor scheut, auch Widersprüchlichstes zur Kenntnis zu nehmen. Wann immer ich Zeit hatte und sich eine Möglichkeit bot, habe ich Ställe angeschaut und mich mit Bauern unterhalten. Um ein Beispiel zu nennen: Schon vor längerer Zeit wurde ich auf einige Zebus auf einem steilen Grundstück aufmerksam. Ich fragte mich wiederholt, wer im Alpenraum auf die Idee kommen könnte, Zebus zu halten. Ich dachte an Tierliebhaber, an kleine Kühe für Kinder (so wie manche Esel oder Pferde halten), auch an Veterinärmediziner. Genaugenommen stellte ich mir eine Tierärztin vor. Inzwischen habe ich die Halter der Zebus kennengelernt. Ich stieg aus dem Auto und unterhielt mich länger mit ihnen, einem Mann und seiner Frau, beide um die fünfzig, bergbäuerlicher Hintergrund. Die beiden bewirtschaften Pachtflächen, vor allem Hanglagen. Über den Sommer bewirtschaftet er eine Alm. Ihnen schwebt ein Rind vor, das sich für die Bewirtschaftung von Hanglagen eignet (Mutterkuhhaltung). Es sollte leicht sein, dank seines geringen Gewichts keine Trittspuren verursachen, was bezüglich Bodenerosion von Bedeutung ist. Allerdings seien die Nachteile von Zebus nicht zu übersehen. Zebus würden wenig Fleisch ansetzen, also nicht den Wünschen heutiger Rindfleischkonsumenten entsprechen. Aufgrund der geringen Milchleistung würden die Kälber nur langsam an Gewicht zunehmen. Schafe seien wirtschaftlicher. Die künstliche Besamung sei schwierig, da die Zebus sich reflexartig hinlegen würden, was eine Besamung unmöglich mache. Der Bauer erzählte mir von verschiedenen Kreuzungsversuchen, so etwa mit Angusrindern oder Grauvieh, stets in Hinblick auf eine bessere Fleischleistung trotz des geringeren Gewichts. Die Frau war gesprächiger, der Mann dagegen schien mir verlegen, fast schamhaft, so wie ich es auch mit anderen erlebt habe. Dabei war er bestens informiert und verfügte durchaus über eigene Vorstellungen. Ich hätte gerne mehr Zeit in solche Gespräche investiert. Aber aus zeitlichen und finanziellen Gründen war das nur bedingt möglich.

Wie all die Jahre zuvor wurde ich auch beim Projekt MILCH, MILCH, ATEM immer wieder nach der „Ausstellung“ gefragt. Zumeist reagierte ich darauf gereizt. Mit einer Ausstellung hat all das nichts zu tun. Es wurde ja nichts gezeigt. Vielmehr haben wir es beim eingerichteten Raum mit einer räumlichen Anordnung zu tun, der mehrere Funktionen zukamen. Der Raum diente, da er sich sinnlich erfahren ließ – außer dem Geschmacksinn wurden alle Sinne angesprochen –, als Einladung, Gewohntes anders zu sehen oder zu denken. Ich erinnere mich an einen Bauern, in dessen Kuhstall wir nachts Rindergeräusche aufnahmen. Als er sich die Aufnahmen anhörte, war er ziemlich irritiert, hörte er nun doch Dinge, die ihm noch nie bewusst geworden waren. Der eingerichtete Raum schuf die Möglichkeit einer vergleichbaren Erfahrung. Der Raum war von der Farbgebung über das Interieur bis hin zu den Lichtverhältnissen bezüglich bestimmter Wahrnehmungsdispositionen genau geplant. Ihm kam eine mediale Funktion zu, die letztlich alle, die ihn nutzten, zu Mitakteuren machen sollte, mochte dies auch nie ausgesprochen werden. Genaugenommen handelt es sich bei solchen Projekten um Medienkunst, allein schon in dem Sinn, dass es ein durch Grenzen definiertes Kunstwerk gar nicht gibt, das, was von manchen als Kunst wahrgenommen wird, bereits in dem Augenblick bedeutungslos ist, in dem wie in unserem Beispiel der Raum nicht mehr im Sinne der ihm zugedachten Funktion genutzt wird. Natürlich spielte das Projekt auf ganz unterschiedlichen Ebenen, es drehte sich also nicht nur um den eingerichteten Raum mit der Klanginstallation. Die bereits erwähnten Gespräche mit Bauern waren dezidierter Teil des Projektes, ebenso wie themenbezogene Texte, die ich ins Internet stellte und zu denen es jeweils eine Aussendung gab.

Ich bin überzeugt davon, dass sich vieles nur verstehen lässt, wenn man sich von den Rändern nähert, von scheinbar Nebensächlichem und Peripherem ausgeht. Das setzt aber eine dichte inhaltliche Auseinandersetzung voraus. Viele heutige Kunstprojekte, die von sich behaupten, interdisziplinär zu sein, scheinen mir, was die inhaltliche Auseinandersetzung betrifft, auf sehr wackeligen Beinen zu stehen. Nicht zuletzt deshalb geben sie sich moralisch, zumindest lehrerhaft. Natürlich habe ich Vorstellungen, aber Botschaft habe ich keine, mehr noch, man muss sich jede Botschaft verbieten. Fragen scheinen mir wichtiger. Und ein Projekt, an dessen Ende ich vieles nicht ganz anders sehen würde, schiene mir zweifelhaft.

Fragt mich jemand, der wenig mit Kunst zu tun hat, nach der „Ausstellung“ oder nach der „Veranstaltung“, dann kann ich es ihm nicht übel nehmen. Etwas anderes ist es, wenn die Tiroler Kulturabteilung in solchen Begrifflichkeiten denkt, so als sei die „Kunst“ in den 1960er Jahren steckengeblieben. Da wird immer noch gedacht, Kunst sei etwas, was man aufstellen, aufhängen oder herzeigen und nicht zu vergessen verkaufen könne. Was sich nicht verkaufen lasse, das könne keine Kunst sein, und wenn, dann nur schlechte. Dass sich die Betonung auf Auseinandersetzung und Prozesshaftigkeit legen lässt, scheint da noch ziemlich fremd. Und so denken solche Leute auch, habe man einmal etwas aufgestellt, aufgehängt, hergezeigt oder vorgetragen, dann sei das Projekt auch schon abgeschlossen. Tatsächlich beginnt für mich in der Regel erst danach die Hauptarbeit, und die Arbeit ist auch dann nicht abgeschlossen, wenn etwa, wie in unserem Beispiel, der Raum mit einer Klanginstallation nicht mehr zugänglich ist. Lässt man sich auf Menschen ein, dann geht es gar nicht anders.

Ich unterhielt mich mit einem Physikstudenten über das Projekt MILCH, MILCH, ATEM, über den eingerichteten Raum und seine Anordnung, die Zielsetzungen solcher Projekte. Wir sprachen über experimentelle Anordnungen in der Physik, über Bekanntes und Unbekanntes, wobei uns klar war, dass auch in der Physik scheinbar Bekanntes immer wieder verworfen werden muss. Ich konnte ihm mühelos die Funktion des Raumes erklären, so wie er nicht die geringste Mühe hatte, das Experimentelle – es wurden ja Einflussgrößen verändert – zu sehen, wenngleich uns bewusst war, dass sich naturwissenschaftliche Anordnungen aus vielen Gründen nur bedingt auf gesellschaftliche Fragen übertragen lassen. Mehr Fragen wären aber durchaus nötig. Ist es nicht so, dass sich heute viele politische Entscheidungen Alltagstheorien verdanken, vorausgesetzt, sie werden von möglichst vielen Wählern geteilt? Ist es nicht so, dass in der Agrarpolitik (und nicht nur dort) und der ihr zugeordneten Administration Lösungen behauptet werden, die sich oft genug bereits nach kürzester Zeit als trügerisch erweisen? Da wären gut dotierte Kunstprojekte gefragt. Kunst kann Fragen aufwerfen, die üblicherweise nicht gestellt werden. Wie es gelingen kann, mehr Menschen, ob als Besucher oder als Mitakteure, in solche Projekte einzubinden, das ist wieder eine andere Frage.

In der Tiroler Kulturabteilung scheint es auch keine Vorstellung davon zu geben, was es bedeutet, wenn in einem Projekt Kunstschaffende tatsächlich zusammenarbeiten. Andrea Sodomkas Klanginstallation ist diesbezüglich ein gutes Beispiel. Die Vorgaben (Raumgröße, Lage, verfügbare Mittel, technische Ausstattung, Zuständigkeiten etc.) waren klar, aber im verbleibenden Freiraum entstand der Raum in einem ständigen Hin und Her. Dabei wurden die einzelnen Elemente ohne jede Eitelkeit stets als Teil eines Ganzen gedacht.

Die Erfahrungen, die ich über lange Jahre mit solchen Räumen gesammelt habe, ließen sich ganz allgemein ausbauen. In einer Welt allgemeiner Überreizung machen Events oder wie immer geartete Aufregungen keinen Sinn mehr, mag ein anderes Arbeiten auch nicht unbedingt förderlich sein, was das Besucheraufkommen betrifft. Aber ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, weniger auf Unterhaltung zu setzen und stattdessen sinnliche Räume zu öffnen, die der Auseinandersetzung dienen. Genaugenommen müsste mehr Geld in solche Projekte investiert werden, mehr darüber diskutiert werden, welches Potenzial sie haben, welche Probleme mit ihrer Realisierung verbunden sein können. Neugier und Mut wären notwendig, auch die Bereitschaft, Scham und Einsamkeit zu erleben – zu scheitern.

© Bernhard Kathan, 2017

Bernhard Kathan: Konzept, Aufbauten, Organisation, Texte, Interaktionen
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