Der mechanisierte Gott
Mit Schreber Kickl, Strache und Vilimsky lesen





Wäre ich nicht darauf aufmerksam gemacht worden, ich hätte die Arbeit, die der Künstler Manfred Erjautz während der Fastenzeit 2019 in der Innsbrucker Spitalskirche installiert hat, wohl kaum gesehen. Ich musste zwischen den Sitzreihen nach vorne gehen, mich umdrehen und auf die untere Chorempore blicken. Mein Blick fiel auf den Corpus einer Christusfigur, dessen Kopf schräg nach unten wies. Unschwer war, mochte ein Ziffernblatt auch fehlen, eine Uhr zu erkennen. Die Arme waren abgetrennt, der linke zeigte die Minuten an, der rechte die Sekunden, wobei letzterer in seiner gleichförmigen Bewegung nach jeder abgelaufenen Minute eben dort, wo man sich die 12 vorstellen muss, einen Augenblick verharrte, um dann eine weitere Runde zu drehen.

Ich blätterte die Einträge durch, die Besucher notiert hatten. Die Meinungen der Kirchgänger waren geteilt, mehr noch, sie fielen in extremer Weise auseinander, so als gäbe es keine Mitte mehr. Ein Besucher notierte: ”Einfach nur fürchterlich! Wie kann man nur. Mein Gott, wie tief sind wir gesunken. Was muss sich Jesus noch alles gefallen lassen? Herr verzeih, denn sie wissen nicht, was sie tun.” Oder: ”Diese Darstellung ist krank: Ausdruck der sich selbst zerstörenden katholischen Kirche, eine Beleidigung meines christlichen Glaubens und unseres Herrn und Erlösers, der uns am Kreuz erlöst hat.” Dagegen eine andere Besucherin: ”Das Kunstwerk bewegt - mein Herz schlägt schneller. Sehr schön und ergreifend.”

Was jene betrifft, die das Kunstwerk anstößig fanden: Gerade Tirol kennt einige Beispiele, in denen einst als blasphemisch empfundene Christusdarstellungen aus der zeitlichen Distanz ganz anders betrachtet werden. Man denke etwa an den ”Auferstandenen Christus” in der ”Gedächtniskapelle” in Lienz. Albin Egger-Lienz, 1923 mit der künstlerischen Ausgestaltung der Kapelle betraut, schuf für den Sakralraum einen vierteiligen Bilderzyklus. Nach der Einweihung im Jahr 1925 erregte die Darstellung des Auferstandenen Anstoß bei konservativen Klerikern. Christus erscheine zu wenig göttlich und glorreich, stattdessen ausgemergelt, bartlos und mit einem recht knappen Lendentuch: ”Christus in der Badehose”. Die Aufregung hatte ein Verbot aller kirchlichen Handlungen in der Kapelle durch den Vatikan zur Folge. Erst 1987 wurde die Kapelle neu geweiht. Die Gedächtniskapelle war als Kriegerdenkmal den Gefallenen aller 50 Gemeinden des Bezirks gewidmet. Nicht einer der Gefallenen fand hier seine letzte Ruhestätte. Ihre Gebeine liegen weit verstreut. Egger-Lienz ließ sich hier begraben.

Ich denke an die Fresken, die Max Weiler für die Theresienkirche auf der Hungerburg schuf. Nach der Fertigstellung 1948 kam es gar zu einem Polizeieinsatz zum Schutz der Fresken. Anstoß erregte neben einem blauen Pferd vor allem der Umstand, dass Tiroler Bauern in der Kreuzigungsdarstellung zu sehen sind. Einer von ihnen sticht Jesus eine Lanze in die Seite. Auf eine Intervention hin drohte der Vatikan mit der Aufhebung der Kirche, sollten die Fresken nicht beseitigt werden. Um sie zu retten, blieben sie von 1950 bis 1958 verhüllt. Man muss das Fresko genauer betrachten, um etwas von der damaligen Aufregung zu verstehen. Dass ein Tiroler Bauer dem Gekreuzigten ins Herz sticht, wiegt umso schwerer, als ein anderes Fresko des Zyklus der in Tirol besonders bedeutsamen Herz-Jesu-Verehrung gewidmet ist. Rechts im Bild unterhalten sich angeregt drei Honoratioren, ohne dem Treiben in ihrem Rücken die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Bub betrachtet aus sicherer Distanz das grausame Geschehen. Eine Frau wendet sich entsetzt ab, neben ihr ist ein vor Schreck erstarrtes Mädchen mit erhobenen Händen zu sehen, weiter rechts im Bild eine weitere Frau, die einem Mädchen mahnende oder tröstende Worte ins Ohr flüstert. Mochte es auch nicht ausgesprochen werden, die Entrüstung hatte wohl weniger mit einer vermeintlichen ”Herabwürdigung des Bauernstandes” als mit der noch nicht lange zurückliegenden NS-Zeit zu tun, in der nicht wenige zu Schergen geworden waren oder so getan hatten, als ginge alles seinen gewohnten Gang, als ginge sie es nichts an. Heute stößt sich niemand mehr an Weilers Freskenzyklus, der bedauerlicherweise unvollendet blieb, schon gar nicht an dem blauen Pferd, mehr noch, dieser Zyklus zählt heute zu den bedeutendsten kirchlichen Kunstwerken des 20. Jahrhunderts in Österreich.

1986 wurde ein Kruzifix, das der Bildhauer Rudi Wach für die Innbrücke in Innsbruck geschaffen hatte, abmontiert und verschwand für zwanzig Jahre im Innenhof des Innsbrucker Volkskunstmuseums. Anstoß erregte die Nacktheit des Gekreuzigten, vor allem das Fehlen des Lendenschurzes, wobei noch hinzuzufügen wäre, dass das Geschlecht alles andere als naturalistisch dargestellt ist. Heute befindet sich das Kruzifix am ursprünglich vorgesehenen Platz. Menschen gehen vorbei und achten nicht darauf. In den Evangelien ist an keiner Stelle von einem Lendenschurz die Rede, wohl aber von der Verlosung der Kleider Jesu, was vermuten lässt, dass Jesus nackt ans Kreuz geschlagen wurde. Wer weiß schon, dass das antike Christentum keine Kreuzigungsdarstellungen kennt, wer denkt daran, dass die spätere Darstellung des Gekreuzigten manchen Wandel erfahren hat und die Masse der Kruzifixe, die auf Friedhöfen oder in Amtsstuben zu sehen sind, sich einer seriellen Produktion verdankt, in der eine möglichst kostengünstige Herstellung an die Stelle exegetischer Überlegungen getreten ist?

Die letzte große Aufregung verdankte sich Martin Kippenbergers gekreuzigtem Frosch, der 2008 im Bozner Museion zu sehen war. Von Herabwürdigung christlicher Symbole war die Rede, wobei die wenigsten sahen, dass Kippenberger eine selbstironische Arbeit geschaffen hatte. Die Aufregung drehte sich zwar um den gekreuzigten Frosch, hatte aber anderes zum Gegenstand. Es ging um Identität, um behauptete Überfremdung. Hätte sich der Gekreuzigte unter die Museumsbesucher gemischt, er wäre wohl als Fremder behandelt worden, hätten ihm doch viele nachträglich beigefügte Attribute, deren sich die heutige Lektüre verdankt, gefehlt. Er hätte sich nicht in die vorgegebene Lektüre gefügt.

Kippenbergers gekreuzigter Frosch (genaugenommen sind es fünf Frösche) ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Es handelt sich nicht um eine genuine Neuschöpfung, ist es doch vielmehr in einer sehr langen Bildtradition zu sehen. Eine der frühesten Kreuzigungsdarstellungen lässt tatsächlich an einen gekreuzigten Frosch denken. Lebendig vor Augen habe ich eine Geschichte, die sich in den 1950er Jahren zutrug. Ich saß in der Unterstufe einer zweiklassigen Volksschule. Der Herr Direktor war in Rage geraten und verprügelte einen meiner Mitschüler. Dem Direktor hatte man zugetragen, der Schüler habe einen lebenden Frosch gekreuzigt, mit den Beinen auf ein Holzbrettchen genagelt, und das vor den Augen vieler anderer Kinder. Die Schläge hatten wohl kaum mit den dem Tier zugefügten Schmerzen zu tun, dachte sich doch kaum jemand etwas dabei, während der Laichwanderungen, damals gab es noch sehr viele Frösche, mit dem Traktor oder einem anderen Fuhrwerk hunderte von Fröschen zu überfahren. Die Schläge galten nicht dem gequälten Frosch, sondern der Missachtung des heiligen Zeichens.

Auch ein zu einer Uhr umgebautes Kruzifix ist alles andere als neu. Ich erinnere mich an eine Uhrensammlung in einem Kloster, durch die mich ein junger Mönch geführt hat. Die größte der Uhren zeigte nicht nur die Zeit an, sondern auch den Gang der Planeten, die Mondphasen, die Wochentage, die Jahre. Die vor langer Zeit aus der Schweiz vertriebenen Mönche hätten diese Uhr mitgebracht, obwohl ihnen damals nur zugestanden worden sei, soviel mitzunehmen, wie sie tragen könnten. Sie hätten den schweren Uhrkasten in seine Einzelteile zerlegt und später wieder zusammengebaut. Als ob sie an die Mechanik ihres Tagesablaufes und Lebens erinnert werden müssten. Bei wieder einer anderen Uhr war in einem Glaskasten über dem Ziffernblatt Christus am Kreuz zu sehen, darunter Maria, tief in Schmerz versunken. Hätte mich der junge Mönch nicht darauf hingewiesen, ich hätte gar nicht bemerkt, dass der Kopf des Gekreuzigten sich langsam hob, um dann bei jeder vollen Minute wieder auf die Brust zu fallen. Wohl sollte mit dieser Uhr, und zwar in jeder Minute, daran erinnert werden, dass Christus am Kreuz gestorben ist. Vielleicht sollte sie aber auch daran denken lassen, dass es den Tod nicht gibt, sondern nur ewige Qual, wie sie jene zu leiden haben, die im Hades nach den Früchten greifen oder das Wasser mit der Hand zu fassen suchen. Aber dieses schaurige Sterben, seit mehr als zweihundert Jahren maschinenhaft fortgesetzt, schien in diesem Kloster nur noch der Unterhaltung zu dienen. Wo liegt der Unterschied zwischen dieser Uhr und jener, die in der Spitalskirche zu sehen war? Die erstere war einmal Teil spirituellen Lebens, letztere fällt ganz klar aus solchen Bezügen, was allein schon dadurch deutlich wird, dass wir es mit einem in doppeltem Sinn zerstörten Corpus zu tun haben. Er ist nicht nur brachial zerlegt, sondern auch seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt.

Aber einer solchen Irritation wären zahllose unwissentlich in blasphemischem Gebrauch stehende Kruzifixe entgegenzusetzen. Da sind die Wände einer Gaststube dicht an dicht mit Jagdtrophäen drapiert. In einer der Ecken hängt neben einem Kapitalhirsch ein großes Kruzifix. Jahreszeitlich wird dieses unterschiedlich geschmückt, in der Weihnachtszeit ist es mit Strohsternen behangen, in der Osterzeit mit bemalten Ostereiern, während des Faschings ranken sich Papiergirlanden um den Corpus. Wohl kaum einer der Gäste dürfte sich daran stören. Auffallen würde es, schmückte man den Kapitalhirsch auf ähnliche Weise. Das Kruzifix im Hergottswinkel ist zu einem Dekorationsstück, zu einem Relikt der Vergangenheit geworden. In der gegenüberliegenden Post prangt an der Wand hinter dem Schalter ein großer gelber logoartiger Strichcode. Daneben hängt ein Kruzifix. Das Ganze wird von zwei Kameras gerahmt, die auf den Schalterbereich, also auf die Kunden, gerichtet sind. Erst wenn man diese Wand in einer Kirche installieren würde, fiele die Blasphemie auf. Zwei Heilsversprechen, die nicht unversöhnlicher sein könnten. Übrigens stünde der Strichcode, nicht viel anders als Erjautz Jesus-Uhr, für exakte Vermessung.

Es wäre gar nicht abwegig, solche Blasphemien theologisch zu betrachten, sich etwa die Frage zu stellen, was das Kruzifix mit dem Kapitalhirschen oder mit einem in Namibia erlegten Gazellenbock zu tun hat, dies auch dann, sollte all das nur in eine zufällige, mehr oder weniger gedankenlose Nachbarschaft geraten sein. Da wie dort haben wir es mit Opfervorstellungen zu tun. Unter dem mit Papiergirlanden geschmückten Kruzifix sitzend, musste ich an die mit bunten Bändern und Schleifen geschmückten Mädchen denken, die bei den alten Griechen voranschritten, wurde ein Ochse zum Altar geführt. Wurde ein Ochse geopfert, wartete man auf ein Zeichen des Tieres, das sich als Zustimmung deuten ließ. Der Ochse sollte mit dem Kopf nicken. Man goss Wasser über die Hände der Teilnehmer und bespritzte das Tier in der Hoffnung, es möge seinen Kopf senken und so zu einem willigen Opfer werden. In einem Korb trug ein Mädchen das Opfermesser, unsichtbar freilich, war es doch mit Gerstenkörnern und Gebäck bedeckt. Hatte der Ochse seine Einwilligung bekundet, hielt das Mädchen nach einem Gebet den Korb den Anwesenden entgegen, worauf diese Gerstenkörner auf den Altar und den Ochsen warfen. Der Opferpriester nahm dann das Messer und - nein, weit gefehlt, er tötete den Ochsen nicht damit. Er schnitt nur einige Haare ab und warf sie ins Feuer. Danach wurde der Ochse mit einem Beil erschlagen, worauf der Opferpriester unter gellenden Schreien der Frauen und Mädchen den Hals des Tieres öffnete.

Seitdem in der Gaststube nicht mehr geraucht werden darf, scheint die hier früher übliche Geselligkeit verschwunden. Niemand spielt mehr Karten, es wird auch nicht mehr laut debattiert. Dabei gäbe es heute viel zu debattieren. Die meisten der Gäste essen hastig, hin und wieder stellt sich einer an die Bar, trinkt sein Bier, um schon bald wieder zu verschwinden. Die junge Kellnerin befand sich an diesem Abend, das ließen jedenfalls ihre Telefongespräche vermuten, mitten in einem Eifersuchtsdrama. Auf das mit Papiergirlanden geschmückte Kruzifix blickte sie nicht, auch nicht auf den Kapitalhirschen, nicht auf den geschnitzten Holzteller, der die Trophäe rahmt und auf dem, wie bei allen anderen Trophäen, Ort und Abschussdatum penibel angeführt ist. Ein Kreuz zur Kennzeichnung des Todesdatums fehlt, würde ein solches doch deutlich machen, dass man in einem Raum sitzt, an dessen Wänden sich ein Friedhof ausdehnt. Aber immerhin war der Hirsch auch nicht ganz schmucklos geblieben. Unter den Holzteller hatte jemand einen frischen Fichtenzweig gesteckt, wohl zur Erinnerung an den sogenannten ”Bruch”, also jenen Zweig, der einem erlegten Haarwild ins Maul geschoben wird, als ”letzte Äsung”, als ”letzten Bissen”. So bringt der Jäger seine Achtung vor dem erlegten Tier zum Ausdruck. Der Bruch steht aber auch für Inbesitznahme, was freilich nur verstehen kann, wer mit der Symbolik des Zeichens vertraut ist. Das gilt gleichermaßen für das in der Ecke hängende Kruzifix wie für den Kapitalhirschen, die Totenmaske eines Erlegten, in dem sich sein Erleger spiegelt. Neben der Rezeption des Gasthofs ist auf einer Fotografie der Erleger zu sehen, der in kniender Stellung neben dem Erlegten posiert. Der Erlegte ist in eine Position gebracht, die ihn zugleich lebend und tot erscheinen lässt, eine Dissonanz übrigens, die wir auch aus Kreuzesdarstellungen kennen. Auch der jungen Kellnerin in ihrem Dirndl kommt Zeichenfunktion zu, mag sie diese auch nur temporär annehmen, ist doch nicht zu vermuten, dass sie sich in ihrem privaten Leben auf ähnliche Weise kleidet.

Aber so ist es mit Zeichen, ganz gleich, ob wir es mit dem Gekreuzigten, einer jungen Kellnerin in einem Dirndl, mit Verkehrstafeln oder Piktogrammen an Nicht-Orten zu tun haben: Zeichen dienen der Beschleunigung. Ein flüchtiger Blick genügt. Der Bub, der den Frosch auf ein Brettchen genagelt hat, musste verprügelt werden, es musste ihm eingebläut werden, dass ein Zeichen ein Zeichen ist und keinesfalls eine Erzählung. Sein Tun, so grausam es sein mochte, war Erzählung.

Auch mich hat die Jesus-Uhr irritiert. Keinesfalls konnte ich in den Chor der Begeisterten einstimmen und schreiben: ”Christus in der Zeit. Der Zeit unterworfen, ausgeliefert, wird ER zur Mitte der Zeit. Gesegnete Zeit - im Kreuz. Großartig.” Wie der zur Uhr umgebaute und dadurch mechanisierte Christus zur Mitte der Zeit werden könnte, ist für mich nicht nachvollziehbar, auch nicht, in einer durch das Kreuz gesegneten Zeit zu leben. Fremd sind mir theologische Deutungen, die meinen, der vom Kreuz abgenommene und auferstandene Christus durchdringe die Zeit und im Lauf der Zeit werde sich die Welt in die Christusgestalt hineinverwandeln. Da hilft mir auch nicht der Verweis auf den Korintherbrief, in dem es heißt: ”Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, aber wir werden alle verwandelt werden.” Was lässt sich in Kunstwerke nicht alles hineindeuten! Tatsächlich verdanken sie ihre Entstehung meist recht banalen Einfällen und - zumeist zum Glück - keinesfalls philosophischen oder theologischen Überlegungen.

Die Jesus-Uhr ist als Zeitmaschine zu betrachten. Zeitreisen lassen sich mit ihr nicht machen. Sie zeigt nur die lineare Zeit an. Sie weist weder in die Vergangenheit noch in die Zukunft. Wir blicken nicht in das Auge eines Orkans, in das windstille Zentrum eines Wirbelsturms, nicht einmal in eine Klomuschel, in der das Wasser ein zerrissenes Blatt zum Verschwinden bringt, sehen keinen geöffneten Mund, auch kein Blut, das mit Wasser vermischt in einer spiralförmigen Bewegung in der dunklen Abflussöffnung der Badewanne verschwindet, auch nicht das starre Auge des Opfers. Es öffnet sich kein Fenster, wie es etwa Giovanni Bellini in seinem Gemälde ”Segnender Christus” im Jahr 1465 zum Ausdruck gebracht hat. Ein Ausschnitt im Überwurf des Auferstandenen gibt den Blick auf die rechte Brustwarze mit der Seitenwunde frei. Seine Gestik, ebenso wie der gesamte Bildaufbau, macht ein komplexes Raum-Zeit-Gefüge deutlich.

Die Uhr sei durch ein DCF-77-Signal mit einer Atomuhr in Frankfurt verbunden und werde exakt gesteuert. Die Abweichung betrage in 30.000 Jahren gerade einmal eine Sekunde. Exakte Zeiteinheiten lassen an Berechenbarkeit, Bewirtschaftung und Zurichtung, nicht aber an Spiritualität oder an menschliche Erfahrungen denken. Gott in seiner Unendlichkeit kennt keine Zeit, in seiner Menschwerdung gerät Jesus zwar in die Zeit, aber keinesfalls in eine mathematisch exakte Zeit. Nach 30.000 Jahren nur eine Sekunde Abweichung! Ein solcher Zeitraum liegt zwar jenseits aller menschlichen Erfahrung, aber mit Vorstellungen wie Auferstehung oder Ewigkeit lässt er sich nicht assoziieren. Auch ist anzunehmen, dass der Mensch lange vor dem Zeitpunkt, an dem die Abweichung eine Sekunde betragen wird, von der Erde verschwunden sein wird. Sollten Kraftwerke auch dann noch die Stromnetze versorgen, gut möglich, dass sich die Jesus-Uhr auch dann noch dreht wie vor tausenden von Jahren, allerdings jeder Bedeutung beraubt.

Als ich die Jesus-Uhr betrachtete, musste ich an Werbeästhetik denken, die entscheidend davon lebt, sich allseits bekannter Relikte unserer Kulturgeschichte zu bedienen. Werbeästhetik ist zutiefst parasitär, lässt sich doch in immer knapper bemessenen Aufmerksamkeits- oder, um beim Beispiel der Jesus-Uhr zu bleiben, in immer knapper bemessenen Zeiteinheiten nur dann etwas vermitteln, pfropft sich das Neue auf bereits Bekanntem auf. In der Werbung finden sich zahllose Zitate aus dem christlichen Bildervorrat, der inzwischen ja als Wertstofflager für Recyclingzwecke genutzt wird. Das gilt natürlich auch für die Jesus-Uhr, mag sie auch nicht ein Produkt als solches bewerben, sondern nur auf sich selbst aufmerksam machen.

Das Entscheidende an dieser Uhr ist für mich dort zu sehen, wo die von Erjautz zu einer Uhr umgebaute Christusfigur sich dem Abfall verdankt. Der Künstler fand sie im Keller eines alten Hauses und bewahrte sie davor, im Müll entsorgt zu werden. So betrachtet haben wir es bei der Jesus-Uhr mit einer Übersetzungsleistung zu tun. Ich würde nicht soweit gehen zu sagen, wir hätten es mit einer Transformation einer statischen Gestalt ins Bewegte zu tun. Der Rumpf und die beiden Arme bewegen sich zwar, aber die Bewegung geht nicht von ihnen aus. Sie werden bewegt und sind zu Teilen einer Maschine geworden.

Die Zeit verrinnt, ein Feuer brennt nieder. Das Niederbrennen einer Kerze oder eines Räucherstäbchens, so wie in Japan einmal üblich, lässt sich auch als Zeiteinheit betrachten. Es ist lange her, als ich mich von meiner katholischen Vergangenheit zu befreien suchte. Auch da war ein Kruzifix von Bedeutung, und zwar jenes Kruzifix, das in meiner Kindheit über unseren Betten hing. Aus mehreren Gründen wollte ich den Gekreuzigten nicht mehr an der Wand sehen. Zum einen bezeichnete er all die Schrecknisse, die ich in einem katholischen Internat erlebt hatte. Und dann galt es, die Darstellung einer Folter, die achtlos an einer Wand hängt, über die sich keiner mehr Gedanken machte, zu entfernen. Aber ich war immer noch so katholisch, dass es für mich undenkbar war, den von der Wand genommenen Herrgott einfach im Abfall zu entsorgen. Noch heute hätte ich Mühe damit. Es war also nur an ein Verbrennen zu denken. Da sich das Kruzifix nicht als ganzes in den Kachelofen schieben ließ, löste ich den Corpus vom Kreuz, zerlegte dieses, löste, nicht anders, als Erjautz dies gemacht hat, vorsichtig die Arme vom Corpus, schob diesen durch die Ofentür in den Kachelofen, dessen Brennkammer nach oben offen war, weshalb die Christusfigur auf den Füßen zu stehen kam. Schließlich entzündete ich etwas Feuerholz, auf das ich auch die Arme gelegt hatte. Dann setzte ich mich auf einen Stuhl und sah zu, wie die Christusfigur niederbrannte.

Entsprechend dokumentiert hätte sich ein solches Tun als Kunstwerk behaupten lassen. Ich dachte aber nicht an Kunst, nicht an eine Kunstaktion. Es war eine persönliche Angelegenheit zwischen mir und Gott, zwischen mir und dem Gekreuzigten, so wie es ein Gebet eben sein kann. Es war auch eine persönliche Angelegenheit zwischen mir und verschiedenen Figuren meiner Vergangenheit, die sich in seltsamer Weise überlagerten und ineinander verschwammen. Da gab es nicht nur jene, die ich in meiner Erinnerung mit Angst und Schlägen verband, mit Zeigestöcken, die nur zu schnell als Rohrstöcke Verwendung fanden, mit einer aus einem Rehbein gefertigten Peitsche, die drohend an der Tür eines der Präfekten hing. Es gab auch solche, deren Begeisterung für die Exegese sich mir mitteilte, die mir beibrachten, dass Zeichen nicht einfach da, sondern von Menschen gemacht sind und der stetigen Deutung bedürfen. Ich sah also die Füße des Gekreuzigten niederbrennen, den Rumpf nach unten fallen, schließlich den Kopf verglühen. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber vermutlich ging mir Conrad Ferdinand Meyers Ballade ”Die Füße im Feuer” durch den Kopf: ”Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie tief mitten in die Glut ... Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.” Hätte ich damals um Kippenbergers gekreuzigten Frosch gewusst, hätte ich auch an ihn gedacht, trägt seine Arbeit doch den Titel: ”Die Füße zuerst”.

Der Katholizismus ist reich an Bildern, einer Bilderwelt, die mich nicht nur geprägt hat, sondern der ich viel verdanke. Und dennoch ist festzustellen, dass der größte Teil all dieser Bilder ihre Bedeutung verloren hat. Man denke an Darstellungen von Heiligen. Die wenigsten der dargestellten Heiligen vermögen heutigen Menschen noch etwas zu sagen. Gibt es Feuerwehren, dann braucht es keinen Heiligen Florian mehr. Epidemien lassen sich heute vermeiden. Kernelemente des christlichen Glaubens, man denke an das Opfer, sind unverständlich geworden. Wer versteht denn heute noch die Osterliturgie, diese komplexe Erzählung von Tod und Auferstehung mit all ihren jahreszeitlichen und agrarischen Bezügen? Und so stellt sich die Frage, ob es überhaupt noch so etwas wie sakrale Darstellungen geben kann. Es gibt natürlich zeitgenössische Kunstwerke, die überzeugen, aber meistens geht es schief. Vielleicht liegt es daran, dass das Mysterium uns zu fremd geworden ist und sich nicht mehr darstellen lässt.

Stellen wir uns eine Kirche aus dem Mittelalter vor, deren Fresken gut erhalten geblieben sind, oder eine Kirche aus dem Barock oder Rokoko. Versuchen wir, uns in die Menschen jener Zeiten zu versetzen, dann werden wir uns schnell dessen bewusst, wie sehr all die Bilder gewirkt haben müssen, zumal der Alltag nur wenige Bilder kannte. Heute leben wir in einer Welt, in der Bilder geradezu inflationär sind. In Sakralräumen müsste man Leere schaffen. Es fehlt nicht an schönen Beispielen von geleerten Kirchenräumen, in denen kaum noch ein Bild den Blick verstellt. Andere Kulturen haben das früher verstanden. Man denke an Tempel, die einzig eine Leerstelle bezeichnen, an den leeren Tempel des unbekannten Gottes oder an das Tempelchen für die Götter, die es nicht gibt, dies im Wissen, dass das Göttliche nur in uns selbst zum Ausdruck kommen kann. Selbst die katholische Kirche kennt solche Leerstellen. Man denke an die Karwoche, an verhüllte Bilder und Bildnisse, an abgeräumte Altäre, an den offenstehenden Tabernakel, an das verlöschte ewige Licht oder das Schweigen der Kirchenglocken. Es braucht Leere, um der Übersättigung entgegenzuwirken, um hineinzuhören in die Tiefen der Zeit.

Die Wahrnehmung sollte sich von den Augen weg und zum Ohr hin verschieben, zur Offenbarung, hin zu allen Abgründen, in die wir, so nah sie uns sind, nicht blicken wollen, seien es auch Spiralnebel, die in die Vergangenheit oder in die ferne Zukunft weisen. Vielleicht so: Das Läuten der Kirchenglocken freitags um 15:00 Uhr überhöre ich fast nie. Meist halte ich nur kurz inne. Nein, ich bete nicht. Aber ich denke an das Leiden in der Welt, auch an meine Vergänglichkeit, daran, das eigene Leben danach auszurichten, was wichtig und unwichtig ist. Manchmal mache ich am Freitag einen Spaziergang in den Innsbrucker Hofgarten, um mir dort das Freitagsgeläute anzuhören. In der Nähe eines Ginkobaumes gibt es eine Stelle, an dem man das Einsetzen der Glocken unterschiedlichster Kirchen sehr gut hören kann. Zuerst ist der schwere Schlag der dem Heiligen Herzen Jesu geweihten Schützenglocke aus der Jesuitenkirche zu hören, dann setzen die Glocken des Domes ein, etwas später ist das Geläute kleinerer Kirchen zu hören, die, wie man mir sagte, alle atomuhrgesteuert seien. Höre ich hin, ahne ich andere Welten, andere Betrachtungsweisen. Dabei bin ich umgeben von Menschen, die hinstreben, wo sie hingedacht, hingelenkt werden, um sich irgendeinen Krimskrams zu kaufen, die nicht um die Bedeutung der Glockenschläge wissen. Dann stelle ich mir ein großes, rotes und warm durchblutetes Herz vor, ein Herz mit einem Durchmesser von 2,48 Metern und einem Gewicht von neun Tonnen, das in einem der beiden Türme der Jesuitenkirche schlägt. Sitze ich in einem Café gegenüber, dann teilt sich mir die Erschütterung mit. Ist der letzte Schlag verklungen, dann sind die Geräusche der ausschwingenden Glocke zu hören. Es dauert einige Minuten, bis sie ganz zur Ruhe kommt.

Bernhard Kathan, 2019
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