Wir Maschinenmenschen



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Schickte man vor dreißig Jahren als junger und unbekannter Autor ein Manuskript an einige Verlage, so erhielt man von den meisten eine Antwort, von Michael Krüger, Klaus Wagenbach und anderen höchstpersönlich, manchmal sogar handschriftlich. Inzwischen hat sich das Zahlenverhältnis in sein Gegenteil verkehrt.
Antworten sind die absolute Ausnahme, wie denn zum Beispiel schon in der Rubrik MANUSKRIPTE zu lesen steht: "Wir prüfen jedes Manuskript sorgfältig. Sollten wir uns nicht innerhalb von sechs Monaten an Sie wenden, dann sehen wir keine Möglichkeit, Ihr Manuskript in unserem Verlag zu veröffentlichen ..." Auf den ersten Blick scheint es heute einfacher, ein Manuskript einem Verlag anzubieten. Autoren können ihre Manuskripte an zahllose Verlage schicken, Verlage geradezu überschwemmen. Verständlicherweise werden nur noch die wenigsten der zugesandten Manuskripte zur Kenntnis genommen. Während der tatsächlich betriebene Aufwand keineswegs geringer geworden ist, hat die wechselseitige Verständigung abgenommen. Auch haben inhaltliche oder sprachliche Kriterien an Bedeutung verloren. Entscheidend ist der Reizwert des jeweiligen Themas, vor allem aber die Medienpräsenz des Autors oder der Autorin. Eine Fernsehmoderatorin oder ein Schirennläufer bringt leichter ein Buch unter als ein Philosoph, der sich über lange Jahre mit einem Thema beschäftigt hat. Will man als Autor Erfolg haben, dann gilt es, systematisch an der eigenen Medienpräsenz zu arbeiten, sei es durch schrille Einwürfe, zahllose Einträge auf Social Media, eine gut inszenierte Internetseite, auf der man sich so zeigt, wie es der Markt verlangt.

Jetzt, da sich ein Ende der Corona-Krise abzuzeichnen beginnt, soll der "Wiederaufbau" (Sebastian Kurz) durch eine Digitalisierungsoffensive vorangetrieben werden. Darin sind sich Politiker und Unternehmer einig: "Wir starten die größte Netzoffensive und werden in den kommenden fünf Jahren rund eine Milliarde Euro investieren, um in puncto Internet-Geschwindigkeit, Netzqualität und Netzabdeckung für Sie neue Maßstäbe zu setzen. In den kommenden Jahren werden wir nicht nur die Ballungsräume des Landes mit neuester Technologie versorgen, sondern auch mehr als 700 bisher unterversorgte ländliche Gemeinden mit schnellstem Internet ausstatten." Ohne Internetpräsenz kann man heute kaum noch Erfolg haben. Das gilt für jeden Beherbergungsbetrieb, selbst für jeden Bauernmarkt. Allerdings ist damit Erfolg keineswegs garantiert. Auch ist ein wirkliches und ohnehin fragliches Wirtschaftswachstum so nur bedingt zu erwarten, zumal wir es hier vor allem mit einem Verdrängungswettbewerb zu tun haben. Was da aufploppt, schließt sich an anderer Stelle, oft genug an vielen anderen Stellen.

Ja, die Digitalisierung schafft neue Betätigungsfelder. Als Beispiel seien Agenturen genannt, die Bildrechtsverstöße ahnden. Mit Hilfe von Suchmaschinen lässt sich das Internet nach Abbildungen absuchen, die in der Regel User leichtfertig kopiert und ins Netz gestellt haben, ohne sich um die Bildrechte zu kümmern. Letzthin erhielt ich von der PicRights Austria GmbH die mit einer Klagedrohung verbundene Aufforderung, für die Verwendung einer Aufnahme EUR 265,- zu überweisen. Verwendet habe ich allerdings nicht das betreffende Bild, sondern nur einen Ausschnitt, auf dem die rechte Hand, nicht aber das Gesicht unseres Bundeskanzlers zu sehen ist. Meine Antwort: "Sehr geehrte Maschinenmenschen, ich muss mir diese Anrede erlauben, scheint mir doch keine andere passend. Damen? Herren? Monica Berg? Compliance Officer? Nein. Maschinenmenschen! Das zugesandte Schreiben ist maschinengeneriert. Ohne entsprechende Algorithmen bzw. Suchmaschinen wäre keinem Menschen die Verwendung des Bildausschnitts aufgefallen, vermutlich nicht einmal dem Fotografen oder der Fotografin. Das Beispiel macht Zweifaches deutlich, zum einen die Leistungsfähigkeit von Programmen, zum anderen deren buchstäbliche Engstirnigkeit. Um es mit Max Weber zu sagen: Wir haben es mit `sachlicher' Erledigung `ohne Ansehen der Person' nach berechenbaren Regeln zu tun. Maschinen ist so etwas wie Angemessenheit fremd. Sie kennen nur + und -. Auf dem Original ist Sebastian Kurz zu sehen, auf dem verwendeten Ausschnitt seine rechte Hand. Der Ausschnitt beträgt bestenfalls ein Fünftel der eigentlichen Aufnahme. Wie groß dürfte ein Ausschnitt gerade noch sein, damit er nicht mehr als Verletzung eines Bildrechts gelten würde? 10%? 5%? 1%? 0,5%? Wie wäre es, würde man einen Ausschnitt wählen, der keinen wirklichen Gegenstand mehr kennt, den Ausschnitt einer Mauer oder des bewölkten Himmels etwa? Mit Hilfe von Algorithmen würde sich auch ein solcher Ausschnitt im Internet mühelos finden lassen. Ist die von mir verwendete rechte Hand von Sebastian Kurz noch mit seiner Person zu assoziieren? Nein. Tatsächlich ist der Bildinhalt vollkommen verloren gegangen. Hätte nicht eine Maschine, sondern ein halbwegs verständiger Mensch den Eintrag auf meiner Internetseite kurz überflogen, dann hätte ihm auf den ersten Blick auffallen müssen, dass ich den Bildausschnitt im Rahmen eines Kunstprojektes, mit dem es nichts zu verdienen gab, verwendet habe. Die Beschäftigung mit Collagen, mit vorgefundenem Bildmaterial, in der jüngeren Kunstgeschichte oft genug praktiziert, wird nun unmöglich. Man wird zwar mit Bildmaterial überschwemmt, aber damit beschäftigen darf man sich nicht länger - wenn wir es mit Maschinenmenschen zu tun haben. Eine Arbeit, in der es genaugenommen keinen Unterschied macht, ob man es mit Bildrechten, Stecknadeln, Schweinefutter, Glühbirnen oder sonst etwas zu tun hat, erschiene mir sehr trostlos. Wie auch immer: Ich habe den Betrag überwiesen. Schon aus Gründen des Ekels möchte ich mit solchen Geschäftsmodellen nicht länger zu tun haben. Und dann habe ich ja als Entschädigung ein Artefakt, das sich verwenden lässt, nämlich das maschinengenerierte Schreiben. Ich kann es zerschneiden, zusammenkleben, ich könnte es sogar ins Netz stellen und darüber schreiben. Übrigens sollte ein Mensch aus Fleisch und Blut das lesen, was ein Übersetzungsprogramm zusammenstoppelt: `Wir haben über die unbefugte Verdacht auf Nutzung des Bildes ...' Wäre ein Verdacht unbefugt, dann wäre Ihr Schreiben unsinnig. Auch müsste es lauten: `über den unbefugten Verdacht ...'" Vor jedem Waldarbeiter habe ich mehr Respekt, zumal er in den Bäumen, die er fällt, ein Gegenüber hat, ein letztlich trotz aller Erfahrung unberechenbares Gegenüber. Wenn sich der Holzarbeiter, wie ich es oft gesehen habe, vor dem Fällen einer Fichte mit dem Rücken an sie lehnt, sie berührt, um ihr Wesen aufzunehmen, um sich in der Fallrichtung nicht zu täuschen, dann ist sie, mag er auch zählen und rechnen, nicht nur Maß und Zahl.

Ohne jeden Zweifel kennt die Digitalisierung viele Möglichkeiten, die das Leben und die Arbeit erleichtern, aber sie schreibt auch das Leben und Zusammenleben neu, und zwar in einer radikalen Form, deren Folgen heute noch gar nicht abzusehen sind. Vor allem haben wir es mit einer umfassenden Ökonomisierung des menschlichen Lebens zu tun, mit einer rasanten Erodierung von Beziehungsgefügen, wobei festzuhalten ist, dass dieser Prozess bereits vor dem Internet eingesetzt und durch die Digitalisierung nur eine enorme Beschleunigung erfahren hat und nach wie vor erfährt. Ökonomisierung bedeutet, dass sich der Markt bzw. seine Ordnungsprinzipien und Prioritäten auf Bereiche ausdehnen, in denen bislang ökonomische Überlegungen eine untergeordnete Rolle spielten und die solidarisch oder privat organisiert waren. Güter und Praktiken, die bislang nicht der Marktlogik unterworfen waren, werden zu "Produkten", die auf einem "Markt" gehandelt werden. Dabei geht es nicht allein um Waren oder Güter: Der Mensch, losgelöst von räumlichen und sozialen Bindungen, ist selbst zu einer bewirtschaftbaren wie selbstbewirtschaftbaren Ware geworden.

Jeder halbwegs plausible technologische Einfall lässt sich unmittelbar in handelbare Waren umwandeln. Als Beispiel sei die von einem österreichischen Start-up der TU Graz für Jäger und Naturbeobachter entwickelte App "Deermapper" genannt, eine Art digitales Jagdtagebuch. Einer der Entwickler bekannte in einem Interview freimütig, die App habe sich weniger einem persönlichen Interesse an der Jagd als der Absicht verdankt, Know-how zu Geoinformationen und Geoinformatik in ein Produkt umzuwandeln: "In Österreich gibt es mehr als 120.000 Jäger. Das erste Ziel sind dann schon die Jäger gewesen, aber auch Naturbeobachter, die ihre beobachteten Tiere in einer App eintragen wollen ... Statistische Auswertungen, Sichtungen im Revier, Jagdzeiten, Schonzeiten, Jagdgesetze, aktuelle Wetterprognosen, Fütterungen und Bewegungen des Wildes und wie sie beeinflusst werden. All das ist mit den entsprechenden Geodaten in der App hinterlegt ..."

Nach diesem Muster entstehen zahllose Apps. Eine App macht nur Sinn, hat man eine große Nutzergruppe vor Augen. An die Stelle von Jägern können Alpinisten, Demenz- oder Zuckerkranke, Kunstinteressierte etc. treten. "Deermapper" als Produktbezeichnung gefällt mir, werden doch dieselben Technologien auf den Menschen angewandt, der wie Rotwild gemappt wird. Auch ergäbe der "Deermapper" ohne Menschenmapperei keinen Sinn, verspräche dies doch nicht ausreichend Gewinn. Viele Anwendungen verdanken sich weniger einem wie immer gearteten Nutzen für die Anwender, vielmehr behaupten sie Nutzen, haben dabei aber Gewinne für die Anbieter im Sinn. Selbst dann, wenn sich praktische Anwendungen wie "Deermapper" als nützlich erweisen, so haben sie ihre nie mitbedachten und so gut wie nie reflektierten Nebenwirkungen, die Wahrnehmung und vieles andere betreffend. Das Beispiel mag zwar harmlos sein, aber es ist ein großer Unterschied, ob ein Jäger oder Jagdaufseher einen Wildbestand digital bewirtschaftet oder ob er sich mit seinen eigenen Sinnen einen Überblick verschafft.

Heute ist oft von Resilienz die Rede, einer der vielen sprachlichen Marker des gesellschaftlichen Umbruchs. Zu all den Faktoren, die zu nennen sind, wenn es gilt, sich an Herausforderungen und Veränderungen anzupassen, zählen nicht zuletzt soziale Ressourcen, vor allem halbwegs stabile Beziehungsgeflechte, die durch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche systematisch untergraben werden. Da fügen sich die Maschinenmenschen von Zustelldiensten ins Bild, die nun etwa in der Farbe von Guantanamo-Häftlingen das Stadtbild prägen. Eine komplexere Kommunikation ist mit diesen Menschen weder möglich noch zweckdienlich, ist die Interaktion doch viel zu kurz und geht die Wahrscheinlichkeit, sie je wieder zu sehen, gegen null. Auch ihr Tun ist maschinengeneriert. Jeder Handlanger oder Hilfsarbeiter erfuhr nicht nur mehr Wertschätzung, sondern konnte sich auch besser organisieren.

All das ist heute in vielen Bereichen unseres Lebens zu sehen. Nehmen wir als Beispiel eine Magnetresonanztomographieuntersuchung, bei der man als Patient nicht viel anders in eine Maschine eingespannt wird als der Delinquent in Kafkas Erzählung "In der Strafkolonie". Man wird buchstäblich in eine menschenfressende, beschriftende wie zeichenlesende Apparatur gefügt, deren Schlag- und Kreischgeräusche mit all den Verschiebungen, Überlagerungen und plötzlich auftretenden Pausen man nur erträgt, stellt man sich vor, ein Musikstück von Karlheinz Stockhausen zu hören. Das Maschinelle beschränkt sich dabei keinesfalls auf den Apparat allein. Es beginnt mit der Anmeldung, die auf die Minute genau zu erfolgen hat, woran man tags zuvor durch ein SMS erinnert wird. Man hat ein Blatt auszufüllen, das nur die Optionen "Ja" und "Nein", aber keine Zwischenräume kennt. Natürlich muss man mit einer Unterschrift bestätigen, auf alle nur denkbaren Komplikationen hingewiesen worden und mit der Verwendung der eigenen persönlichen Daten einverstanden zu sein. Dabei hat kein Gespräch stattgefunden. Dann, nach entsprechender Aufforderung, betritt man eine von zwei nebeneinanderliegenden Kabinen, worauf man sich aller Metallgegenstände zu entledigen und in Unterwäsche stehend auf das Weitere zu warten hat. Man wird also vorrätig gehalten. Zeit ist kostbar. Das doppelte Kabinensystem erlaubt ein ständiges Befüllen und Leeren. Man hat zwar mit Menschen zu tun, aber was gesprochen wird, ist weitgehend festgelegt. Es ist erstaunlich, wie weniger Worte es in einem Ablauf bedarf, der sich einzig an Durchschnittswerten und ihren Abweichungen orientiert. Würde man zufällig einer jener Personen, mit denen man während einer solchen Untersuchung zu tun hat, auf der Straße begegnen, es wäre unmöglich, sie zu erkennen. Wir haben es mit Nicht-Orten zu tun, die keine Geschichte zu generieren vermögen. Man ist schon vorhanden, bevor man den Maschinenraum betreten hat, was allein schon ein Regal mit Lagerungsbehelfen deutlich macht. Es muss nicht Maß genommen werden. Nur in der Störung - man könnte in Panik verfallen, die Schmerzen nicht ertragen, ist die Infusionsnadel schlecht gesetzt - wird einem ein Rest von Menschsein zugestanden. Dieser Rest findet seinen symbolischen Ausdruck in einem kleinen Ballon, der einem in die Hand gedrückt wird. Auf allen Ebenen haben wir es mit einer der Ökonomie und der Beschleunigung verpflichteten Entmischung zu tun, in der man in einen Arbeitsgegenstand verwandelt wird und als Mensch buchstäblich abhanden kommt. Und als bestünde zumindest auf einer unbewussten Ebene noch eine Ahnung solcher Zurichtung, erhält man am Ende eine CD mit den Aufnahmen, die kein Laie zu deuten vermag, während der überweisende Arzt sie gar nicht nicht benötigt, ruft er doch die Daten direkt ab. Man neigt dazu, das Maschinelle in der Apparatur, den Programmen oder Bildschirmen zu sehen. Tatsächlich sind auch die räumliche Anordnung und das soziale Verhalten weitgehend maschinell organisiert. Das Wort Tomographie leitet sich vom altgriechischen τομή (Schnitt) bzw. γρά φειν (schreiben) ab. Es werden buchstäblich, und zwar nicht nur im bildgebenden Verfahren, Schnitte und Schrift produziert. Man braucht hier gar nicht auf die prothetische Aufrüstung zu verweisen - das Maschinelle und das Lebendige überlagern und durchdringen sich in allen Bereichen. Wir bewegen uns durch technische Agglomerate. Während die Maschinen lebendiger werden, werden wir maschinenähnlicher. Ein vollautomatisierter Rinderstall mit Melkrobotern, Kraftfutterautomaten oder Gattern, die sich computergesteuert öffnen und schließen, ist nicht, wie fälschlicherweise immer noch geglaubt wird, als etwas Äußerliches zu betrachten. Der Bauer, der in seinen Gummistiefeln das technische Habitat durchquert, ist selbst ein Teil davon geworden, mag er auch nur ein Smartphone in der Hosentasche mit sich tragen.

In der tatsächlichen oder vermeintlichen Effizienzsteigerung gehen viele grundlegende Hervorbringungen organischer Geflechte verloren. Nehmen wir als Beispiel einige an einer Innenstadtstraße gelegene Lokale. Neben einem Lokal, das vor allem von Studenten der Sozialwissenschaften besucht wird, befindet sich ein größeres, von einem Türken betriebenes Restaurant, auf der gegenüberliegenden Straßenseite wiederum ein Irish Pub, der vor allem von Studenten der Wirtschaftswissenschaften und Jungunternehmern frequentiert wird. Die Lokaltypen, die Betreiber der Lokale, deren Herkunft und Weltvorstellungen ebenso wie ihr Publikum könnten unterschiedlicher nicht sein. Dennoch hat sich im Laufe von Jahren eine Art Beziehungsgefüge herausgebildet. Im Studentenlokal liegt auch die Speisekarte des benachbarten Restaurants auf. Bestellt man etwa eine Pizza, dann taucht schon nach wenigen Minuten eine Kellnerin auf, mit einem oder mehreren Tellern. Auch Besteck und Papierservietten hat sie nicht vergessen. Sollte im Lokal auf der gegenüberliegenden Seite eine Whisky-Sorte ausgegangen sein, dann kommt einer der Kellner und leiht sich zwei Flaschen aus. Fällt in einem der Lokale die Eismaschine aus, dann weiß einer der Nachbarn Abhilfe zu schaffen. Zu diesem Gefüge zählen noch weitere Geschäfte und Lokale in der Nachbarschaft. Es wird dies und jenes verhandelt, man ärgert sich über diese oder jene Verordnung, tauscht sich aus. Dann wären wohl noch Nebengeschäfte zu nennen, die mit dem Verkauf von Speisen und Getränken nicht das Geringste zu tun haben, die ich als Außenstehender zwar vermuten kann, die mir aber verschlossen bleiben. Solche Kooperationen sind bemerkenswert, schon allein angesichts des Umstands, dass wir es eigentlich mit einem Konkurrenzverhältnis zu tun haben. Da gibt es noch so etwas wie wechselseitige Verpflichtungen, deren Einhaltung nicht finanziell abgegolten wird, sogar noch so etwas wie Ehre. In einer digitalisierten Ökonomie, in der man von allen Verpflichtungen befreit ist, die nicht mit einem Kaufakt in Verbindung stehen, ist das nicht möglich, haben wir es doch von der Herstellung über den Vertrieb bis hin zum Konsum auf allen Ebenen mit extremen Entmischungen zu tun. Den Vorteilen, die eine nach ökonomischen Prinzipien organisierte Welt bietet, sind also die damit verbundenen Nachteile entgegenzusetzen.

Geradezu idealtypisch wird all das augenblicklich in China durchgespielt. Unter dem Vorwand, die noch verbliebenen Bergbauern aus der Armut zu heben und am Wachstum teilhaben zu lassen, werden ethnische Minderheiten, die in irgendwelchen Bergregionen leben, in normierte Fertigteilhäuschen umgesiedelt, die wie Autos in Reih und Glied auf einer Parkfläche abgestellt sind. Verlieren die Bauern ihre Anbauflächen und Tiere, sind sie, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gezwungen, sich eine andere Erwerbstätigkeit zu suchen, etwa in Handarbeit Plastiktiere wie Dinosaurier oder Kühe nach gleichbleibenden Vorgaben zu bemalen. Auch jene, die weiterhin Landwirtschaft betreiben, werden umgesiedelt, von ihren Äckern und Stallgebäuden getrennt. Dem subsistenzwirtschaftlichen Durcheinander, dem sich lange Zeit das Überleben verdankte, gilt es den Garaus zu machen. Vielgestaltige Kulturlandschaften werden großtechnisch plattgewalzt, um Platz für Monokulturen und Großbetriebe zu schaffen, Hühnerfarmen oder Walnussplantagen. Es versteht sich von selbst, dass die Einkünfte der umgesiedelten und zu Konsumenten gewordenen Bergbauern gerade zum Überleben reichen. Die Wohnungen oder Häuschen, der Fernseher oder das Smartphone, all das will bezahlt sein. Von den staatlichen Investitionen bis hin zu den Bedürfnissen ist alles berechnet, alles normiert, auf das optimale Minimum hin. Die Dörfer werden abgerissen, um jede Rückkehr unmöglich zu machen. Geschichte wird gelöscht, deren Tradierung abrupt beendet. Dafür werden wie in Ceausescus Rumänien disneylandartige Musterdörfer errichtet, und die Dislozierten haben - man schützt ja die Minderheiten und ihre Kultur - vor Touristen in vorgeschriebenen Trachten Lieder zu singen und traditionelle Tänze aufzuführen. Dass all die Lieder und Tänze, einst Ausdruck komplexer sozialer Organisation, nur noch sinnentleert sein können und genauso wenig mit dem ursprünglichen Leben zu tun haben wie ein für Touristen organisierter Tirolerabend mit Tirolern, bleibt unbeachtet. Das hat in China eine lange Geschichte. So wurden etwa während der Qin-Dynastie die Zentren der Verschleppten dem Erdboden gleichgemacht und durch in der Hauptstadt Xinanyang errichtete Repliken ersetzt. Auch drohte all jenen der Tod, die "die Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit kritisierten".

Statistisch betrachtet fallen die Zwangsumgesiedelten zwar nicht mehr unter extreme Armut, tatsächlich wurden sie jedoch all ihrer Ressourcen beraubt, nicht zuletzt ihrer Würde und ihres Stolzes. Allein die Tatsache, dass all diese kleinen bergbäuerlichen Kulturen trotz härtester Bedingungen über viele Jahrhunderte überlebt haben, müsste man genaugenommen mit Bewunderung zur Kenntnis nehmen. Dass so, da nicht schriftlich festgehalten, vielfältigstes Erfahrungswissen verloren geht, ist nur eine der Folgen einer solch radikalen und gewaltsamen Entwurzelung. Nun haben sie einen Gasherd, müssen das Wasser nicht mehr von einem Brunnen holen, die Notdurft nicht mehr in einem Maisfeld verrichten, wissen auf öffentlichen Toiletten die Zeichen für Mann und Frau richtig zu deuten, auch können die Kinder in festem Schuhwerk und in Uniform die Schule besuchen; und doch sind sie in der wirklichen Armut angekommen und werden abgespeist mit billigster Massenware. Auch die Digitalisierung ist dabei von Bedeutung. Während diese jedoch vorgibt, Welt zugänglich zu machen, Produkte und Dienstleistungen über Plattformen wie Alibaba anzubieten, dient sie vor allem der Erschließung neuer Konsumenten und deren Kontrolle. Den Kleinstbauern werden neue Marktchancen versprochen, dabei werden vor allem sie bewirtschaftet.

Kritisiert man die wahnwitzige Geschwindigkeit, mit der die Digitalisierung nun Platz greift, dann hört man oft den Einwand, auch gegen die Einführung der Eisenbahn habe es Widerstand gegeben, die Menschen hätten sich an die Eisenbahn gewöhnt, mehr noch, in Zeiten der Klimakrise erweise sich die Eisenbahn als höchst umweltverträglich. Und es stimmt, wir haben uns an die Eisenbahn gewöhnt. Allerdings fehlt es nicht an Studien, die belegen, wie sehr sich durch die Eisenbahn die Wahrnehmungen des Menschen verändert haben. Völlig außer acht bleibt, dass ohne Eisenbahn etwa die sinnlosen Gemetzel des Ersten Weltkriegs ebenso undenkbar gewesen wären wie der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts, der bis heute nachwirkende Verwüstungen hinterlassen hat. Aber selbst das dichteste Eisenbahnnetz kannte noch viele weiße Flecken, in denen Menschen relativ ungestört leben konnten, nicht viel anders als in römischer Zeit, in der eine wirklich flächendeckende Herrschaft weder möglich, noch beabsichtigt war, zumal es ja keinen Sinn machte, einige Hütten in einem abgelegenen Hochtal zu kontrollieren, da die dort lebenden Menschen so wenig Überschuss produzierten, dass der Aufwand in keinem Verhältnis zum Erpressten gestanden wäre. Heute dagegen fahren die Datenbahnen durch das kleinste Nest, durch das abgelegenste Gebirgstal, nicht nur durch jedes Zimmer, sondern durch jeden Körper. Wir haben es mit einer völlig neuen Variante des Kolonialismus zu tun, wobei sich im heutigen "Beutekapitalismus" (Max Weber) die Kolonisierten erstaunlich fügsam in ihre Ausbeutung und Zurichtung schicken, geradezu Scham empfinden, werden sie nicht in Fesseln gelegt, wird ihnen nicht Substanz abgezapft.

Da muss ich an Rolf Dieter Brinkmann denken, der in den 1970er Jahren schrieb: "Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier das 20. Jahrhundert mit allen seinen Schrecken auch voll und ganz eingetreten ist. Was ist der Schrecken des 20. Jahrhunderts?: Es ist die starke Automatisierung des Lebendigen: (Da Tiere sich schlecht automatisieren lassen, fallen sie der Technik und der technischen Ausrottung anheim wie die Pflanzen auch), ich habe es immer bezeichnend empfunden in Köln an der Ecke Ehrenstraße: `Der sprechende Automat' sobald man das Geld in den Zigarettenkasten geworfen hatte und automatisch kam heraus / : `Vielen Dank!' - Und warum ist der Schrecken durch Technik so groß? : Weil er die Ausprägung der Vielfältigkeit verhindert - denn Technik schneidet ab und legt auf das Ja-Nein / Entweder-Oder fest. Sie verhindert die Individualisierung. - Warum sind Sie gegen Technik?: Ich bin nicht gegen Technik, aber wohl bin ich gegen Menschen, die Technik zur Reduzierung einsetzen. - Das ist jetzt ausgewichen. - Also noch einmal: So lange Technik in einem alten anthropomorphen und anthropologischen Sinn praktisch verwendet wird, so lange wird eine Steigerung des Menschen als Einzelnem durch Technik verhindert, statt durch sie gefördert zu werden." (Rolf Dieter Brinkmann, "Rom, Blicke")

© Bernhard Kathan, 2021