Kapitel 12

Champell: „Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Waren es drei oder vier Jahre? Dass Sie weiter für uns arbeiten wollen, freut mich sehr.“

Neurath: „Nun soll ich mich also vom Ethnologen zum Detektiv wandeln, mich mit dem Privatleben einer Frau beschäftigen. Was für ein Niedergang.“

„Übertreiben Sie nicht. Es steht Ihnen frei, ein Forschungsprojekt bei einem Fonds einzureichen. Im besten Fall wird es bewilligt, und das nach monatelanger Vorarbeit, für die Sie nicht bezahlt werden, nach langem Warten auf die Entscheidung einer Kommission. Womöglich finden Sie sich dann in einem afrikanischen Dorf, in dem herumliegende Abfälle westlicher Konsumgüter und das Elend der Menschen den Niedergang deutlich machen. Das muss doch ernüchternd sein. Denken Sie an unser Unternehmen. Wir interessieren uns nicht für Traditionen, die heute keinen Sinn mehr machen. Wir erfinden, erschaffen die Welt neu. Sie saßen lange Zeit im Monitorraum. Dass dies für Sie alles andere als einfach sein würde, dessen war ich mir durchaus bewusst. Den ganzen Tag Mädchen und Frauen beobachten, ohne sich mit ihnen verständigen zu können. Nun haben Sie die Möglichkeit, zumindest mit einer dieser Frauen in Kontakt zu treten. Von meiner Seite gibt es keine bestimmten Erwartungen. Schreiben sie einfach, was Ihnen ein- oder auffällt. Sollten Sie allein ins Kino gehen, schreiben Sie darüber. Lernen Sie an einer Bar eine Frau kennen, schreiben Sie darüber. Es soll mir Recht sein. Schicken Sie mir hin und wieder einen Bericht.“

„Welchen Sinn sollte es haben, dass ich über Dinge schreibe, über die das Unternehmen zweifellos besser unterrichtet ist als ich?“

„Wir wissen vieles, und doch lässt manches sich selbst mit den besten Programmen nicht erfassen. Dann bedarf es menschlicher Erfahrungen. Manchmal muss man zurück in die Steinzeit, ins Mittelalter, in den Ersten Weltkrieg oder auf die polynesische Inselwelt. Manchmal lohnt es sich, wieder zum Notizblock zu greifen, Überdruss, Langeweile, Schmerz und Trauer zu empfinden. Sie können sich wohl nicht mehr an die langen Tage erinnern, während derer Sie im Monitorraum nichts anderes machten, als auf dem Boden liegend leere Blätter in seltsamste Ordnungen zu bringen. Mochten Sie das damals als sinnloses Tun empfunden haben, für uns war es von größter Bedeutung. Ohne Sie hätten wir vieles nicht verstanden.“

„Ich soll also wieder scheitern.“

„Ich habe das Glück vergessen. Selbst in den furchtbarsten Geschichten können Menschen das Gefühl von Glück empfinden. Denken Sie an Schayol.[1] Wir wollen Sie keineswegs unglücklich machen. Im Gegenteil, Sie können tun und lassen, was Sie wollen. An Geld wird es nicht fehlen. Vielleicht haben Sie Lust, eine Reise zum Nordkap zu unternehmen, um dort in warmer Sommerluft auf den vom Eis glattgeschliffenen Felsen zu sitzen und den Wellen des Meeres zuzusehen. Wie auch immer, Sie werden etwas, was uns bekannt scheint, mit ganz anderen Augen betrachten. Ich verrate Ihnen ein Betriebsgeheimnis. Das Unternehmen verfügt über eine eigene Abteilung, die sich einzig mit gescheiterten Patenten beschäftigt, Patenten, die den Naturgesetzen zuwiderlaufen oder ökonomisch keinen Sinn machen. Viele dieser Patente zeugen von großer Leidenschaft, einer bewundernswerten Kreativität. Da lässt sich vieles lernen.“

„Nun gut, ich nehme Ihr Angebot an. Können Sie mir Yo Stern in wenigen Sätzen beschreiben?“

„Yo Stern, so nennt sie sich heute, fiel als Kind nicht unangenehm auf. Im Gegenteil. Wie den Unterlagen zu entnehmen ist, handelte es sich um ein aufgewecktes, äußerst begabtes Mädchen, das von allen gemocht wurde. Ihre Entwicklung entsprach den Erwartungen, die man aufgrund der genetischen Anlagen in sie setzen konnte. In all den psychologischen Tests schnitt sie mit besonders guten Werten ab. Wie zu erwarten, fügte sie sich bestens in das Programm. Sie erwies sich als besonders leistungsfähig, auch nahm sie ihre Aufgabe sehr ernst. Liebevoll betreute sie andere, bei denen Hormonbehandlungen gravierende Nebenwirkungen zur Folge hatten. Doch dann, nach etwa drei Jahren, wurde sie auffällig. Sie begann Fragen zu stellen, kam oft verspätet oder gar nicht mehr zu den Untersuchungen, widersetzte sich nötigen Eingriffen, beschäftigte sich mit seltsamen Spielen, die niemand verstand. Sie trieb sich oft allein auf den Rinderweiden herum, wo sie sich, wie nur zu schnell klar wurde, mit einem jungen Burschen traf, der in den Rinderbetrieben beschäftigt war. Wie konnte sie ihr Leben so leichtfertig an einen Knecht verschwenden! Nur eine Funktion zu erfüllen, das sei ihr zu wenig. Um ein Mensch zu sein, müsse man sich entscheiden können. Stets hätten andere über ihr Leben, ihren Körper verfügt.“

„Hätte man über diese Beziehung nicht hinwegsehen können?“

„Wo denken Sie hin. Im Programm darf es keine Abweichung geben. Stellen Sie sich vor, unter all den Zuchtmüttern hätte eine selbst ein Kind bekommen. Die Konsequenzen sind leicht auszumalen. In der Folge hätten wir ähnliche Probleme mit anderen gehabt. Trotz aller Termine, die sie einzuhalten haben, bleibt ihnen viel Zeit, um sich in Gedanken zu verlieren. Ließe man Regelverstöße unbeachtet, die Folgen wären unabsehbar. Aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit war es bedauerlich, aber wir mussten Frau Stern von den anderen trennen. Ihre Aufzucht und Ausbildung hat viel Geld gekostet, aber die Kosten, die angefallen wären, hätten wir sie nicht ausgeschieden, wären unabsehbar gewesen.“

„Sie interessieren sich für ihren weiteren Lebensweg?“

„Sicher. Sie ist ja ein Produkt unseres Unternehmens. Mag sie dies auch in Frage stellen, es ist so. Wir suchen den Fehler zu ergründen und lassen uns das einiges kosten. Die Frage lautet: Warum hat sie sich im Gegensatz zu vielen anderen, die sich demselben Erbmaterial verdanken, also – wenn Sie so wollen – denselben Vater und dieselbe Mutter haben, anders entwickelt? Ohne dass Sie es weiß, arbeitet sie heute noch für uns. Wir wissen ihr Tun, das sich oft in geradezu grotesker Weise um unser Unternehmen dreht, zu nutzen. Frau Stern glaubt, sie könne unserem Unternehmen gefährlich werden. Sie zeigt Ansätze eines Verfolgungswahns, denkt, wir würden ihr Leben heute noch steuern oder ihr nach dem Leben trachten. Sie meidet bestimmte Orte und Bekanntschaften. Ihre Zeichnungen und Notizen wirken reichlich verworren. Zweifellos hätte dieses Material, wäre Prinzhorn auf sie aufmerksam geworden, Eingang in seine Sammlung gefunden.[2] Übrigens finden sich in dieser Sammlung Zeichnungen und Texte einer Diakonisse, die in vielem an Frau Stern denken lässt. Auch diese, von ihr sind auch Architekturzeichnungen erhalten, zeigte sich sehr widerspenstig.[3] Frau Sterns Zeichnungen sind allerdings vielschichtiger.“[4] Ich möchte wissen, warum manche der Frauen, die im Park aufgewachsen sind, es kam bislang nur sehr selten vor, einen Eigensinn entwickeln, der sich gegen das Programm richtet. Von größerem Interesse ist jedoch ihr Verhalten. Gelingt es ihr, sich in der Außenwelt zurechtzufinden? Kommen Fähigkeiten zur Geltung, die wir übersehen haben? Sieht man einmal von ihren Verfolgungsphantasien ab, so haben wir es mit einer erstaunlich stabilen Person zu tun, die keineswegs verrückt ist. Weiß man um ihre Geschichte, dann muss man ihre Anpassungsfähigkeit bewundern. Vergessen Sie nicht, sie verdankt sich bestem Erbmaterial. Es spricht auch für die Erziehung, die sie genossen hat. Aus ihrem Verhalten lassen sich viele für uns wertvolle Fragen ableiten.“

„Gelang es ihr, eine Beziehung aufzubauen?“

„Nein. Anfangs trieb sie sich abends in Lokalen herum. Sie war noch jung, auffallend hübsch. Manchmal nahm sie Männer mit in ihre Wohnung, aber zumeist handelte es sich um flüchtige Sexualkontakte in Hotelzimmern, Autos, in Toiletten oder in Parks. Seltsamerweise immer wieder auf Rinderweiden. Längere Beziehungen scheinen unmöglich, mochte sie sich auch darum bemüht haben. Sicher kein einfaches Leben, aber man muss die Disziplin anerkennen, mit der sie es führt. In ihrer Erziehung wurde auf Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle größter Wert gelegt. So betrachtet ist der Eigensinn, den sie entwickelte, geradezu unverständlich. Frau Stern ist bislang unter all den Zuchtmüttern die einzige, die es in der Außenwelt versucht hat.“

„Sie meinen wohl, die es versuchen musste.“

„Sie könnte heute bestens versorgt leben, in einer Gemeinschaft aufgehoben sein. Für uns stellt sich noch eine andere Frage. Zuchtmütter scheiden auch dann, wenn sie sich bestens in das Programm fügen, bereits nach wenigen Jahren aus. Eizellen und Embryonen lassen sich nicht lange ernten. Viele von ihnen übernehmen Aufgaben im Park, etwa als Mütter, die sich um die Erziehung der Mädchen kümmern. Der Park kennt viele Bereiche, in denen sich die aus dem Programm ausgeschiedenen Zuchtmütter entfalten können. Aber es mangelt an Aufgaben, um allen, die aus dem Programm ausscheiden, eine Beschäftigung bieten zu können. Warum sollten jene, die es sich wünschen, nicht außerhalb leben können? Selbst wenn wir für ihren Lebensunterhalt aufkämen, fielen weniger Kosten an. Wir hätten weniger Verantwortung zu tragen, führten sie doch nun ihr eigenes Leben.“

„Was geschah mit dem Burschen?“

„Wir wiesen ihm eine andere Aufgabe an einem anderen Ort zu.“

„Womöglich denkt Frau Stern, dass er getötet wurde.“

„Was für eine absurde Vorstellung! Warum sollten wir einen Menschen töten, in dessen Begabungen wir so viel investiert haben. Wir wissen unsere Produkte zu schätzen. Wir betrachten sie nicht als Wegwerfprodukte. Ich habe ein kleines Dossier zusammenstellen lassen. Es wird Ihnen die Arbeit sehr erleichtern. Sie finden darin alles, was Sie wissen müssen.“

Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Anspielung auf Cordwainer Smiths Erzählung „Ein Planet namens Schayol“. In einer Gesellschaft, die in ferner Zukunft angesiedelt ist, werden Verurteilte für den Rest ihres Lebens in eine planetarische Strafkolonie verbannt. Mit Hilfe von „Dromozoen“ werden ihnen Organe eingeimpft, die dann, wenn sie die gewünschte Größe erreicht haben, „geerntet“ und zu Transplantationszwecken verwendet werden. Das Leben der Verbannten wird zum Alptraum. Sie machen allerdings die Erfahrung, „dass man die Hölle nicht allzu sehr fürchten braucht, wenn die Menschen in ihr gut zueinander sind.“]

[2] [Hans Prinzhorn (1886 – 1933), Kunsthistoriker und Arzt. Er legte den Grundstock der nach ihm benannten Sammlung künstlerischer Arbeiten psychiatrischer Patienten.]

[3] „Das Badehaus 1. bei Lüttringhausen steht auf Leichenmauern von halbgroßen Menschen, deshalb möchten wir so rasch als möglich in ein anderes Lokal ziehen. Das Hotel de Londre an der Loherstraße und der Berlinerhof sind passend, auch Hof Höxter für die schweren Bettstellen. Das Bettzeug wird zum Vergrößern der halbgroßen Menschen benötigt. Das Benähen der menschlichen Figuren geschieht am Besten an der Nähmaschine ...“ [Bezieht sich auf die 1893 als Tochter eines Tischlermeisters geborene Diakonisse Luise Klein. Die als fleißig und ordentlich beschriebene Diakonisse wurde dreiunddreißigjährig auffällig und verbrachte in der Folge lange Jahre in einer Anstalt für Gemütsleidende. Sie litt unter Vergiftungsängsten, „unreinen“ Einflüssen, sexuellen Phantasien, die sie auf elektrischem Wege zu empfangen glaubte. Eine gottgewollte Organisation, nämlich die der Anstalt, schicke ihr diese körperlichen Unreinheiten, damit sie ihre tiefe Verderbtheit erkenne. Höllenqualen seien nötig, um sie zu läutern.]

[4] [Im Material fand sich einzig eine Zeichnung, eine flache Weidelandschaft, die im Hintergrund durch einen Wald begrenzt wird.]