Kapitel 10

Deborah besuchte mich regelmäßig. Oft erzählte sie von ihrer Arbeit mit den Kindern. Astrid, über die wir viel sprachen, ließ eine gewisse Neugier erkennen, verkroch sich immer seltener stundenlang unter einem Tisch, um wippend und zungenleckend die Welt zu ordnen. Und dann bleibt die Vergangenheit dem Kind doch eingeschrieben. Das schmerzlich Erlebte lässt sich nicht einfach löschen, es bleibt als Dauerspur erhalten.[1]
Einmal, wir wanderten wieder durch das Katzenloch, fragte mich Deborah:
„Yo Stern? Wie kamst du zu diesem Namen?“
„Ich wollte nicht länger den Namen tragen, den mir ein Computerprogramm gab. Eigentlich wollte ich mich Anders nennen, aber da mich das zu sehr an Günther Anders[2] erinnert hätte, dessen Arbeit ich sehr schätze, nahm ich den Namen an, den er ablegte. Ich nannte mich also Stern. Schwerer wäre es für mich gewesen, hätte Anders Wolke geheißen. Das hätte mich doch zu sehr an das Altargemälde in der Großen Kammer, an die Nebelpranke denken lassen.“
„Einer der vielen kleinen leuchtenden Punkte, die man in wolkenlosen Nächten am Himmel sieht, eine Lichtquelle, die aus der Dunkelheit leuchtet.“
„Die Vorstellung, ein kleiner leuchtender Stern zu sein, wenn auch einer, dessen Licht bald erlöschen wird, gefällt mir. Vielleicht ist mein Licht längst erloschen, bin ich Gegenwart und Vergangenheit in einem.[3] Und dann fühle ich mich, als käme ich von einem fernen Stern, von einem Stern, auf den ich nicht mehr zurückkehren kann. Nun bin ich auf einen anderen Stern gezwungen. Hier fühle ich mich nicht weniger fremd als dort.“
Bevor ich mich Yo nannte, dachte ich an Minus, was kleiner, weniger meint, auch an Minotauros denken lässt, den Sohn der Pasiphaë und eines Stieres, an die erste Maschinenbesamung.[4] Um den Namen weiblicher zu machen, wollte ich mich fortan Mina nennen. Mina, ein wohlklingender Name. Namen sind wichtiger, als wir glauben. Es ist nicht gleichgültig, mit welchen Lauten ein Säugling auf dem Wickeltisch angesprochen wird, im lallenden Wörterbuch der Ammenstube.v Ein Kind wird durch vieles geformt, durch Hände, Unterlagen, Mutterbrüste oder Milchflaschen, durch einfallendes Licht, aber auch durch Laute, von denen es lernen wird, dass es selbst damit gemeint ist. Es macht einen großen Unterschied, ob wir mit einem Zischlaut oder einem weichen M gerufen werden. Man müsste sich mit Vokalen beschäftigen, mit allen denkbaren Kombinationsmöglichkeiten, mit a und a, mit i und e, mit u und a, mit Vokalen, die in diese oder jene Richtung weisen, mit Konsonanten, die sich den Lippen, anderen, die sich den Zähnen, wieder anderen, die sich der Zunge oder dem Rachenraum verdanken, die einmal erbrechend, dann verschlingend, drohend oder stoßend klingen können. Manche Namen müssten verboten werden, gibt es doch Namen, die nichts Nährendes kennen und ein Leben oft genug ins Unglück stürzen, nicht nur der Vokale und Konsonanten wegen. Deborah erzählte mir von drei Kindern, die sie betreut hatte.
„Alle drei, sie verletzten sich selbst, hießen Thomas. Einer von ihnen hat sich nachts, es gelang ihm, sich von den Bandagen, mit denen er an das Gitterbett gebunden war, zu befreien, mit seinen kleinen Fäusten so schwere Gesichtsverletzungen zugefügt, dass er beinahe gestorben wäre. Er war nur kurze Zeit unbeaufsichtigt geblieben. Die Krankenschwester, sie war in einem anderen Zimmer beschäftigt, hatte ihn nicht gehört. Das aufgeschwollene Gesicht war blau und grün verfärbt. Ich besitze mehrere Fotografien von diesem Kind. Die Aufnahmen entstanden vor zwei Jahren. Bereits damals war das Gesicht des Kindes von vielen Schlägen gezeichnet.“
Bei der Wahl eines Namens ist also Vorsicht geboten. Wie mir Deborah erzählte, hätten die Psychologen alles versucht, Thomas von seinem Tun abzubringen. Einer von ihnen habe das Kind trotz seiner panischen Angst in einen Krankenhauslift gezerrt. Am Ende sei man bei Belohnungen und Bestrafungen gelandet. Vor allem habe man alle Schuld den Eltern zugewiesen. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. Wäre es nicht besser gewesen, sein Selbstvernichtungsstreben anzuerkennen? Eine schwierige Frage, zumal die Schläge, die sich Thomas selbst zufügte, wohl nicht sein Verlöschen zum Ziel hatten, sondern, ganz im Gegenteil, sich selbst im Schmerz zu empfinden. Bedenkt man die Zwanghaftigkeit seines Tuns, das Maschinenhafte, dann stellt sich die Frage nach dem Ich. Genaugenommen gab es nicht nur den einen Thomas. Da gab es den einen, der unbarmherzig schlug, und dann gab es den anderen, der unter all den Schlägen litt, der weinte und schrie. Wie wäre es möglich gewesen, die beiden zu trennen, die Schläge auf ein anderes Objekt zu lenken? Vielleicht hätte er nur eines anderen Namens bedurft. Die Psychologen, denen ich begegnet bin, verfügten zweifellos über mehr Einfallsreichtum.



Nach dem Tod des Kindes wurden die Fotografien aus der Krankenakte aussortiert. Nicht rechtsrelevant. Für Forschungszwecke unbrauchbar. Raum kostet Geld. Deborah nahm die Fotos an sich. Später schenkte sie mir die Fotos, aus welchen Gründen auch immer. Warum mir? Warum diese Geschichte? Betrachte ich diese Fotos, dann denke ich an einen kleinen Gott, der sich selbst zu Tode gefoltert hat. Und doch waren es andere, die ihm Gewalt antaten, die ihn töteten. Dieser Junge hat mich lange beschäftigt. Oft sah ich mir die Aufnahmen an, sein von eigenen Schlägen aufgedunsenes Gesicht, seine verkrusteten Lippen. Eines seiner Fotos hängt über meinem Schreibtisch. Oft fällt mein Blick darauf. Ich kenne jede kleine Verletzung in diesem Gesicht. Der traurige Blick dieses Kindes, das auch ich nicht hätte retten können, hat sich tief in mir eingegraben. Vielleicht ist es diesem Jungen nur nicht gelungen, sich selbst zu finden. Er musste sich schlagen. Nur im Schmerz empfand er sich selbst. Auf der Aufnahme, die über meinem Schreibtisch hängt, ist Thomas auf einem Wickeltisch zu sehen. Aufrecht sitzt er da, wie ein kleiner Buddha. Niemand ist da, der ihn festhielte. Und dennoch verletzt er sich in diesem Augenblick nicht selbst.

Wer immer gezwungen ist, sich selbst zu suchen, muss lange suchen. Diese Suche begann bei mir mit der Suche nach einem anderen Namen. Ich war kein Säugling mehr. Es gab niemanden, der sich über mich gebeugt hätte, keinen warmen lächelnden Schatten, der mir Koseworte hätte sagen, mich bei meinem Namen hätte nennen können. Säuglinge, höchst empfänglich für Berührungen und Laute, sehen den Hintergrund als verschwommenes Durcheinander. Hätte sich jemand, als ich mir meinen Namen gab, über mich gebeugt und mich mit eben diesem Namen angesprochen, dann hätte ich wohl aller Zuwendung zum Trotz auf die an der Decke hängende Lampe gestarrt, mich vielleicht gefragt, wer denn so einen schlechten Geschmack haben könne, sich eine solche Lampe zu besorgen. Und ich hätte wohl an all die Lampen gedacht, unter denen ich zu liegen hatte, die mich ausleuchteten. Ich war erwachsen, geformt, geformt durch lieblose, bestenfalls dienstbeflissene Berührungen, genährt mit Milch, die nicht die meiner Mutter war, geformt durch Zischlaute, die mich vom ersten Tag meines Lebens an zusammenzucken oder aufschrecken ließen. Durch einen anderen Namen ließ ich mich nicht mehr formen. Ich brauchte einen Namen, um mich selbst auszusprechen, in die Welt hinauszuschreien. Deshalb nannte ich mich Yo. Yo bedeutet ja ‚Ich‘. Ich bin es, hört doch meine Klagen, ich lebe, seht her, da bin ich, da stehe ich. Oft genug stieg ich auf einen Hügel, um dieses ‚Yo‘ hinauszuschreien, so laut, dass es als mehrfaches Echo von der anderen Seite des Katzenloches zu hören war. Auch dachte ich an die Nymphe Io.[6] Ich wurde nicht in eine Kuh verwandelt, aber, nicht anders als Io, als Kuh betrachtet, gezählt, gewogen, taxiert. Nur zu schnell hätte man mich als reif für die Schlachtung erachtet. Und das bereits in einem Alter, in dem junge Frauen erstmals ernsthaft an eine feste Bindung denken. Man hätte mich aussortiert, in ein Ausgedinge abgeschoben, mich lebendig begraben, mutwillig all das verödet, was in mir zur Entfaltung drängte. Nun treibt es mich wie Io unstet und flüchtig durch die Welt. Io, ihrer Stimme beraubt, konnte sich verständlich machen. Mit ihren Klauen schrieb sie ihren Namen in den Sand. Vielleicht verbinde ich mit meinem Namen diese Hoffnung.
Wie ich als Mädchen genannt wurde? Ich werde diesen Namen nie mehr aussprechen. Er hatte nichts Weiches. Vielleicht verdankt sich mein Hang zum Aufbegehren mehr diesem Namen als meinen Genen. Inzwischen wird sich im Park wohl jemand mit der Namensgebung, also mit der Wirkung von Zischlauten, Vokalen, Konsonanten und deren Kombinationen befassen. Kühen kann man Namen von Popstars, Maschinen, Währungen oder medizinischen Geräten geben. Es spielt keine Rolle. Menschen sind da anders. Ich muss an die Köchin im georgischen Lokal denken, die mich erstmals mit meinem Namen ansprach. Es war mir, als hätte sie mich getauft, mich aus dem Wasser, der Brühe herausgehoben, in der ich zu ertrinken drohte.

Ich habe keine Eltern. Keine Mutter hat sich Haut an Haut mir mitgeteilt. Es nährten mich andere. Ich, ein Ammen-, ein Dienstleisterkind. Meine Herkunft liegt im Dunkeln. Meine Produktbezeichnungen sind mir unbekannt. Im REGISTER fänden sich zweifellos meine Eltern, fänden sich zahllose Geschwister, Halbgeschwister, darunter wohl manche, die genetisch von mir nicht zu unterscheiden wären, ganz zu schweigen von all jenen, denen ich genetisch Mutter oder Tante bin. Da mir das REGISTER verschlossen bleibt, könnte ich ein Wattestäbchen in den Mund stecken, es mit einer Drehbewegung an der Wangeninnenseite entlangziehen und in einen Briefumschlag stecken, diesen mit meiner Adresse versehen und an eines der Labors schicken, die vom Versprechen leben, Väter, Mütter und Geschwister zu finden. Zweifellos würde ich fündig. Ich könnte an Geschwister- und Halbgeschwisterzusammenkünften teilnehmen, in grüner Landschaft, in weißen, mit bunten Teppichen ausgelegten Zelten. Und befände ich mich mitten unter der versammelten Schar meiner Geschwister und Halbgeschwister, meine Suche bliebe trotzdem vergeblich. Information, und als nichts anderes muss ich meine Herkunft betrachten, kennt keine Geschwisterliebe. Zuneigung bedarf des Streits wie der Eifersucht. Nähme ich teil, ich würde meine Fremdheit erfahren. Ein großartiges Feld für die Zwillingsforschung. Gott bewahre mich vor meinen Duplikaten. Denke ich an all jene, die sich meinem Material, meinen Eizellen verdanken, dann überkommt mich entsetzliches Grauen.

Vor mir ein großer, geteerter Platz. Auf einer Mauer sitzend betrachtete ich Kinder, die es durch Kriegswirren bedingt aus einem anderen Land hierher verschlagen hatte. All diese Kinder hätte es ebenso gut an einen anderen Ort verschlagen können. Dass jetzt sie auf diesem Platz umherliefen, in einer für sie völlig fremden Welt, verdankte sich einzig Zufällen, etwa einem seit langem leerstehenden Ferienheim. Für die Besitzer eine willkommene Einnahmequelle. Einige der Kinder versuchten sich auf Rollerblades. Ihre unsicheren Bewegungen machten nur zu deutlich, dass ihnen solche Dinge bislang fremd gewesen waren. Lange beobachtete ich das Treiben der Kinder nur beiläufig. Aber dann wurde ich auf einen Jungen aufmerksam, der geschickter als die anderen auf dem Platz seine Runden drehte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, aber irgendwann müssen sich unsere Blicke getroffen haben. Mit jeder Runde, die er drehte, kam er mir einige Schritte näher, dabei stets meinen Blick suchend, so lange, bis er plötzlich vor mir stehen blieb, mich ansprach, mit Worten, die ich nicht verstand und die mir fremd waren. Ein sehr hübscher Junge mit offenen Augen, einem klaren Gesicht. Er mochte etwa zwölf Jahre alt gewesen sein. Es war mir, als wäre ich in meinem ganzen Leben noch nie einem so schönen Jungen begegnet. Was ich sagte, das muss ihm völlig unverständlich gewesen sein. Aber in diesem Augenblick schien es mir, als sei eine Verständigung jenseits der Sprache möglich. Kaum hatten wir einige Worte gewechselt, drehte er wieder ein paar Runden, um mir stolz seine Geschicklichkeit zu zeigen. Dann machte er wieder Halt vor mir, um erneut mit mir zu plaudern. Sicher hat mir dieser Junge, im Wissen, dass ich ihn nicht verstehen konnte, einige Geheimnisse seines Lebens anvertraut. Keine großen Geheimnisse, aber doch Dinge, die er anderen nie sagen würde. Manchmal ist es gut, eine Sprache nicht zu verstehen. Ich sagte ihm, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf ging, dass ich ihn gerne in meine Arme nehmen, seinen Kopf an mich drücken, Nacken, Stirn und Mund küssen würde: „Das ist nicht möglich, du musst dein eigenes Leben führen. Drehe weiter deine Runden. Versuch besser zu sein als die anderen. Dann ist es gleichgültig, ob aus dir ein Zuhälter oder ein Philosoph wird.“ Es war eine sehr kurze Begegnung. Ich sah diesen Jungen nie wieder. Und doch musste ich immer wieder an ihn denken. Noch heute sehe ich sein Gesicht vor mir. Ich hätte ihm Mutter sein können. Wer weiß schon, in welche Körper die mir ausgespülten Embryonen eingepflanzt, von welchen Frauen sie ausgetragen wurden.

Meine Vergangenheit verfolgt mich. Gehe ich durch die Stadt, so höre ich immer wieder meinen Namen rufen, laut: „Du hast uns enttäuscht!“ Den Namen, den ich damals trug. Stets aus großer Entfernung, eindringlich. Laufe ich den Rufen nach in der Hoffnung, jemanden zur Rede zu stellen, so sehe ich bestenfalls eine gnomenhafte Person, die weit entfernt, tanzend, an Regentagen mit einem Schirm fuchtelnd, in einer der Nebengassen verschwindet. Zwergwüchsige waren mir in meiner Kindheit unbekannt, Erwachsene, nicht viel größer als ein Kind, mit gedrungenem Körper und gegerbter Haut. Nun ist ein Zwergwüchsiger mir zum Schatten geworden, zu einem ungewollten Begleiter, der mich meine Vergangenheit nicht vergessen lässt, mich immer wieder in diese zurückstößt, immer dann, wenn ich meine, ihr entronnen zu sein, ein Schatten, den ich fürchte, vor allem dann, wenn sonst kein Mensch auf den Straßen zu sehen ist. Vielleicht träume ich all das nur: „Du hast uns enttäuscht. Du hättest nie zur Fruchtreife gelangen dürfen. Ein Sortierfehler ...“ Enttäuschen. Erwartungen, die an einen gestellt werden, nicht erfüllen. Ent-täuschen. Hinter scheinbar Selbstverständlichem eine fremde Absicht sehen.

Auf einem Golfplatz geschieht ein Mord. Die Polizei erscheint. Golfspieler kriechen auf dem Boden herum, als würden sie etwas suchen. Sie klammern sich an ihre Schläger. Ich bin zwar Zuschauerin, aber die ganze Geschichte hat nur mit mir zu tun, wie jeder Traum nur egozentrisch sein kann, selbst dann, stößt anderen etwas zu. Ich überquere den menschenleeren Hauptplatz von Sabbioneta. Abgesehen von einer Tankstelle scheint es kein neueres Gebäude zu geben. Als ich Schritte hinter mir höre, fühle ich mich plötzlich verfolgt. Ein großer Ball trifft mich am Kopf. Ein riesiger Stierkopf kommt auf mich zugeflogen. Ich versuche auszuweichen, aber er streift meine linke Schulter. Ich habe Angst, beschleunige meinen Gang. Obwohl kein Mensch zu sehen ist, fühle ich mich durch Schlitze geschlossener Fensterläden beobachtet. Ich höre das Lachen von Menschen. Dieses Lachen gilt mir. Ich gehe schneller, laufe durch eine enge Gasse und finde mich plötzlich auf dem Hauptplatz wieder. Ich treffe eine junge Frau. Auch sie sucht ein Versteck. Es bedarf keiner Verständigung. Eine Toilettentüre ist nur angelehnt. Ein langer schmaler fensterloser Raum, an dessen Ende eine altmodische Klomuschel steht. Der Raum hat kein Dach und wird nur durch gelbe Lehmmauern gebildet. Auf dem Boden verstreut liegen Küchengeräte aus Aluminium, Löffel, viel zu groß, um damit in Töpfen zu rühren, Kellen, Messer, auch eine Cremepresse, wie man sie zum Verzieren von Torten verwendet. Der Verfolger, ich erkenne den Zurüster, ist auf eine der Mauern geklettert. Ich versuche, ihn von der Mauer hinabzustoßen. Die Szene kippt. Nun liegt die junge Frau auf der breiten Mauer, mit hochgeschürztem Rock, gespreizten Beinen. Ihre Beckenbewegungen lassen keinen Zweifel. Sie will sich hingeben, will genommen werden. Der Zurüster beachtet mich nicht länger. Mit einer leichten Bewegung drückt er eine der Kellen gegen das Geschlecht der Frau. Weshalb denkt der Zurüster nicht an die Tortenspritze? Wieder kippt die Szene. Eine große Menge schwarz gekleideter Menschen am Fuße der Mauer verfolgt laut kommentierend das Treiben der beiden. Manche rufen, sie wollten auch behandelt werden, dafür nachmittags ihre Geschäfte geschlossen halten. Etwas später sitzen alle, in schwarze Mäntel gehüllt, in einer Cafeteria und warten geduldig darauf, endlich an die Reihe zu kommen. Und nicht anders als in einer Ordination streifen Männer ihre Hosen, Frauen ihre Röcke ab, machen ihren Unterleib frei, es muss ja alles in Eile geschehen, in der Hoffnung, vom Zurüster, der nur mit einem Hemd bekleidet ist, gegen einen der erstbesten Tische gedrückt von hinten oder vorne genommen zu werden. Wie ein Paket hebt der Zurüster einen greisen Zwerg hoch. So als hielte er ein Huhn in Händen, bewegt er den nackten Hintern des Alten, an seine Lenden gepresst, auf und ab, auf und ab. Er geht dabei im Raum umher, Selbstgespräche führend. Um die Arbeit des Zurüsters zu erleichtern, legen sich manche mit entblößtem Unterleib auf einen der Wirtshaustische, bieten ihre Körperöffnungen dar. Hat der Zurüster einen behandelt, so wischt er ihn mit einer raschen Handbewegung vom Tisch und lässt ihn auf den Steinboden klatschen. Schon ist er an einem der anderen Tische mit der Behandlung des nächsten beschäftigt. Von draußen dringt durch ein kleines Fenster und eine Tür, die nur einen Spalt offensteht, etwas Licht in den dunklen Raum.

Bewirtschaftet, gepflügt, geeggt, gedüngt, bis zum Überdruss gemästet, besamt, sortiert, mit Embryonen vollgestopft, geerntet, geschlachtet. Stets hat man es mit Herden zu tun, mit der Herde der Grauer-Star-Patienten, der Herde der Dementen, der Herde der Biertrinker, der Herde der Piercingwilligen, der Herde der Tattoogeschädigten (beschreiten sie im Enttäuschungsfall den Rechtsweg, so fallen sie aus einer Herde heraus, um im nächsten Augenblick nicht viel anders bewirtschaftet zu werden), der Herde der Hausbesitzer, der Herde der Wohnungslosen, der Herde der Sozialhilfeempfänger, der Herde der Solarium- und Saunabesucher, der Herde der Missbrauchsopfer, den vielen Herden von Autobesitzern, den Herden der Herdenbesitzer, den Herden der Herdenverwalter, der Herde der Berater von Herdenbesitzern, der Herde der jugendlichen Handybenutzer, der Herde der Inkontinenten, der Herde der Brustimplantierten, jener der Beinlosen, jener der Prothesenträger, jener der Viagrakonsumenten, jener der Impotenten, jener der letzten Briefeschreiber, jener der pubertierenden Mädchen, der Herde der Rollstuhlfahrer, der Zahnersatzbedürftigen, der Herzinsuffizienten, der Allergiker oder Depressiven, der Pensionsversicherten, der Kurzsichtigen, der Rheumakranken, der Antiquitätensammler, der Sodomiten und der Pädophilen, der Herde der, der Herde der. Herden ohne Zahl, doch unsichtbar, wird doch seriell gearbeitet. Es finden sich nicht alle Beinamputierten zur selben Zeit ein. Zweifellos wäre es höchst beeindruckend, vor einer auf Zahnkorrekturen spezialisierten Praxis alle Mädchen zu sehen, die sich in Behandlung befinden. Und dann: Wie könnten wir uns als Teil einer Herde begreifen, treibt es uns doch selbst. Es bedarf keiner Treiber, keiner Elektrozäune, keiner Gatter. Wie Vieh bewirtschaftet, von der Geburt bis zum Tod. Nur die Toten bilden keine Herde. Sie liegen einfach da. Es lässt sich nur noch gegen die Zeit leben, im Widerspruch, Einsamkeit in Kauf nehmend. Eine Gastwirtschaft meinte einmal all das, was die Bewirtung von Gästen zur Voraussetzung hatte, den Einkauf und die Zubereitung von Speisen, das Auftragen von Gerichten und Getränken wie das Abräumen der Tische. Inzwischen sind die Gäste selbst zum bewirtschafteten Gut geworden. Bewirten und Bewirtschaften.

Diesmal hatte ich Glück. Der Mesner einer barocken Klosteranlage hatte vergessen, eine der kleinen Seitentüren in der Kirche abzuschließen. Hinter dieser Tür befand sich ein langer, leicht abfallender und mit großen Steinplatten ausgelegter Gang. In zahllosen Nischen waren lebensgroße Wachsfiguren zu sehen, so etwa ein Mönch mit einer Kapuze, der ein nacktes Weib geißelt. Durchwegs schaurige Geschichten, zumeist Martyriendarstellungen, wohl der Grund dafür, dass dieser Gang, einstmals von vielen besucht, was die abgetretenen Steinplatten belegen, für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglich ist. Der Heilige Erasmus, nackt in einem Kessel siedenden Öles, interessierte mich nicht. Auch nicht sein geöffneter Bauch mit dem herausgezogenen Darm, nicht der Knecht, der an einem Spulapparat sitzend den Darm aufwickelt. Ich wollte mir nur Agathe anschauen, Agathe mit den abgeschnittenen Brüsten. Verödet wurde auch mir Vieles. Ich fand sie. Ganz allein stand sie in einer Nische. Nackt. Ihre Beine schamhaft geschlossen. In ihrer Rechten hielt sie einen Teller mit zwei wohlgeformten Brüsten, die mich an Früchte denken ließen, tatsächlich aber als Zeichen ihrer Tugend zu betrachten sind.[7] Zwei runde Fenster mit scharfen Rändern gaben den Blick frei auf Rippen, Muskulatur und Blutgefäße. Bemerkenswert der Widerspruch zwischen den klaffenden Wunden und dem sanften Gesichtsausdruck. Ihre Haare waren echt. Haar, das einer Frau oder einem Mädchen abgeschnitten wurde. Vermutlich einem Mädchen. Ein Haaropfer. Auch mein Kopf wurde kahlgeschoren. Präpariert sollte ich auf der Bühne erscheinen, makellos, mit glattester Oberfläche, an der alles abperlt, nicht durch Härchen entstellt, durch irgendeinen Eigenwillen, wie es Haare nun einmal zum Ausdruck bringen. Dagegen das lange und offen getragene Haar als Zeichen der Jungfräulichkeit. Jungfräulichkeit um des Himmelreiches willen. Die beiden Knechte, die mit Zangen Agathes Brüste aus dem Leib rissen, fehlten, auch Petrus, der nachts ihre Wunden mit Balsam gepflegt haben soll. Die vielen Jahre, die Agathe in ihrer Nische gestanden hatte, hatten ihrem Wachskörper zugesetzt. Mehrere Finger ihrer linken Hand waren abgebrochen. Der Anblick berührte mich nicht. Nichts als Staub, Wachs, Glasaugen, die ihren Glanz verloren hatten.
Kurz vor Sonnenuntergang betrat ich die Gnadenkapelle, in der eine schwarze Madonna verehrt wurde. Auf dem Haupt eine Krone, in der rechten Hand ein Szepter, auf dem linken Arm das gekrönte Jesuskind. Dieses hielt in der Linken einen Vogel und erteilte mit der Rechten den Segen. Machte sich jemand die Mühe, das Verweissystem darzustellen, es ergäben sich viele Linien, zahllose Dreiecke, wobei die eigentliche Arbeit erst dann ihren Anfang nähme, ginge es darum, die symbolischen Bedeutungen zu entschlüsseln. Als ich eintrat, wurde eben eine Messe gefeiert. Exakt im Augenblick der Wandlung, der Priester hob eben den Kelch hoch, leuchtete das durch eine kleine Oberlichte einfallende Sonnenlicht den Altarraum vollkommen aus. Der goldene Wolkenkranz, der das Gnadenbild umgab, erstrahlte in einem rötlichen Glanz. Nach der Kommunion, die die Gläubigen auf sehr unterschiedliche Weise entgegennahmen, kniend, stehend, mit dem Mund, mit den Händen, mit wahrer oder zur Schau gestellter Inbrunst, verschwand das Licht, und die Farben verloren ihren Glanz. Der Altarraum wurde nun nur noch durch einige Kerzen erhellt. Die Sonne lässt sich nicht wie ein elektrisches Licht ein- und ausschalten. Man hat sich nach ihr zu richten. Als ich in der Gnadenkapelle stand und das Lichtspiel betrachtete, musste ich an die Feiern in der Großen Kammer, die weder Fenster noch Oberlichten kannte, denken. Perfekt war da alles inszeniert. Mit Hilfe von künstlichem Licht ließen sich der Körper, eines oder mehrere Gesichter, ein Schuh, ein Gefäß, ganz wie der Ablauf es forderte, aus dem Dunkel heben. Den Beleuchter sah man nicht. Er blieb im Dunkeln, unsichtbar. An das einfallende Sonnenlicht, an den rechten Augenblick, musste also nicht gedacht werden, durfte auch nicht gedacht werden, galt es doch, so banale Dinge wie Dienstpläne, den Tagesrhythmus der Mädchen (nicht zu spät schlafen gehen) mit dem optimalen Befruchtungszeitpunkt in Einklang zu bringen. Ich erinnere mich noch, wie sehr mich das Licht blendete, das mich aus dem Dunkel herausheben, meinen Ornat zur Geltung bringen sollte. An den Ornat musste ich auch deshalb denken, da die Madonna auf dem Altar der Gnadenkapelle ähnlich üppig gekleidet war. Stets sollte sie den jeweiligen liturgischen Farben entsprechend gekleidet sein. Der Kirchenkalender kennt Tage der Freude, Tage der Hoffnung, Tage des Blutes und Tage der Trauer. Die Kleider der Madonna, auch ihr Schmuck, entsprachen der Mode der spanischen Hoftracht des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts. An diesem Tag trug sie ein erdbeerrotes, Damast imitierendes Kleid, das strahlenförmig nach unten fiel, auch eine lange Perlenkette. Ich habe nicht nachgesehen, aber ich muss an einem Tag des Blutes dort gewesen sein. Gerne würde ich einmal dabei zusehen, wie ihr Kleid gewechselt wird. Geschieht dies am frühen Morgen oder spätabends, womöglich nach Mitternacht, dann, wenn alles zur Ruhe gekommen ist, bestenfalls ein nächtliches Gewitter oder ein Auto aus der Ferne zu hören ist? Mit welcher Vorsicht oder Andacht öffnet der Mönch das Kleid der Madonna? Obwohl aus Holz, aus Lindenholz geschnitzt, wird sie als lebendiges Wesen betrachtet, nicht als Abbild, nein, sie ist es, die schützend ihre Hand ausstreckt, ruft man sie an, diese Figur ist es, die Bitten erhört, so etwa Bitten junger Frauen, die um Nachwuchs flehen. Badedienerinnen, wie ich sie in Erinnerung habe, gibt es wohl nicht, finden sich doch nur Mönche in diesem Kloster. Ohne jeden Zweifel haben wir es auch hier mit Banalitäten zu tun, mag sich auch manch verrückte Vorstellung in das Aus- und Einkleiden mischen. Ich war keine hölzerne, rußgeschwärzte Figur. Ich war lebendig. Das sah auch die Badedienerin, die mich mit zärtlichen Gesten, vom Altar hob. Die Feiern in der Großen Kammer kennen keine liturgischen Farben, weder einen Tag der Freude noch einen Tag der Hoffnung, des Blutes oder der Trauer, das wäre gar nicht möglich, fallen doch all die Tage in eins. Jede der großen Feiern hatte gleichermaßen mit Freude, Hoffnung, mit Blut und dem Tod zu tun. Ein solches Ereignis, zumal es gilt, das Reine vom Schmutzigen zu trennen, muss all diese Farben in sich tragen.

Mit wem auch immer ich zu tun hatte, niemand glaubte mir meine Geschichte. Wie hätte ich sie verständlich machen können! Es lässt sich nur mitteilen, was bereits bekannt ist, auf diese oder jene Art. Hätte ich erzählt, das Kind eines Mannes zu sein, der wegen dreifachen Mordes in einer Todeszelle sitze und auf seine Hinrichtung warte, Mitgefühl wäre mir sicher gewesen, vorausgesetzt, ich hätte es gehörig ausgeschmückt. Ich hätte erzählen können, Kind eines Gynäkologen mit dem Namen Keusch zu sein. Dieser, mein Vater, habe mich in frühester Kindheit auf seinen Schoß genommen und regelrecht gebraucht, mich zum Weib gemacht. Hätte ich versucht, meiner Mutter davon zu sprechen, so hätte sie dies, von Blindheit geschlagen, nicht ernst genommen, mehr noch, mich selbst als schmutzig beschimpft.[8] Ich hätte die Räume, in denen all das geschah, mit schweren Möbeln möblieren, die schweren Bilder beschreiben können, die an den Wänden hingen, Geräusche erwähnen, die aus dem Nebenraum oder von der Straße zu hören waren. Nicht vergessen seien die verschlossenen Jalousien, durch die nur spärlich Licht in das Zimmer fiel. All das könnte ich glaubhaft erzählen, obwohl ich es so nicht erlebt habe, sondern in zwar nicht unähnlicher, aber dennoch ganz anderer Weise. Dagegen glaubte mir kein Mensch, sprach ich von Zurüstern, von Ornaten, Himmelskühen, vom Aufwachsen der Mädchen oder vom Leben im Park, von den Feiern in der Großen Kammer. Selbst Deborah, die mit dem Unternehmen zu tun und meine schreckliche Verstörung erlebt hatte, betrachtete vieles als Ausdruck einer üppigen Phantasie. Gewiss, die Echtheit meiner Empfindungen sprach sie mir nie ab. Aber als Therapeutin war sie darauf trainiert, das Erzählte nicht wörtlich zu nehmen, sondern als metaphorisch zu betrachten. Geschichte hat ein Mensch nur dann, wenn er sie mitteilen kann, wenn sich andere darin wiederfinden. Da mir dies nicht möglich ist, habe ich keine Geschichte. Deshalb drängte es mich, meinen Ornat, wenn schon nicht mit meinen Fingern zu prüfen, zu fühlen, so doch zu sehen. Als man mich damit bekleidete, da war es mir, als spürte ich das Scharren und Trampeln dieser Kühe auf meiner Haut. Ein wohliges Kribbeln erfasste meinen ganzen Körper. Vermutlich hat sich dies erst lange später in meine Erinnerung gefügt. Damals war ich viel zu aufgeregt, um mich solchen Gedanken und Empfindungen hinzugeben. Auch war mir die Bedeutung von Kühen noch völlig fremd. Aber mit solchen Gedanken suchte ich nach meinem Ornat, hätte er doch all das, was ich erlebte, was mir widerfahren ist, bestätigt. Ich fand ihn nicht.
Wohl aus diesem Grund begann ich, nun mit ganz anderen Augen, mich für das Museum selbst zu interessieren. Wann immer ich es betrat, musste ich an Großaktionäre amerikanischer Schlachthöfe des neunzehnten Jahrhunderts denken. Sie verfügten über genügend Geld, um sich mit großartigen Kunstwerken (auch mittelalterlichen Madonnen) einzudecken. Die Großaktionäre sind nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil ihre Sammlungen Eingang in bedeutende Museen gefunden haben. Man mag die Kunstwerke, die in solchen Räumen zu sehen sind, noch so bewundern, das Gefühl, sich in einer Grabstätte oder einer Totenkammern zu befinden, drängt sich einem auf. Zumindest mir, einem von Großaktionären ins Werk gesetztem Wesen. Das Museum mit den Ornaten wird in hundert Jahren, sollte es dann noch existieren, auf die Besucher noch lächerlicher wirken, als es dies heute tut. Haushaltsgeräte ließen sich in ähnlicher Weise zur Geltung bringen, Kühlschränke, Staubsauger, anderes. Nur eine Frage der Rahmung, der Beleuchtung, des Lichts. Das Museum löscht die Geschichte all der Frauen, die einmal mit einem der gezeigten Ornate bekleidet waren, die mit gespreizten Beinen, als passive Geschöpfe, buchstäblich als Geschöpfe, auf dem Altar lagen, während gehorsame Diener geschäftig, nein, nicht Wein und Esskörbe auspackten[9], vielmehr sich an ihrem Geschlecht zu schaffen machten. All das unter den Augen vorrätig gehaltener Opfer, die, als Kühlschrankexistenzen gedacht, der Verdampfung dienen, in stetem Wechsel aufnehmen und abgeben sollten. Wer denkt schon daran? Kühlschränke dienen nicht nur der Kühlung, sie geben auch Wärme ab.
Betrachte ich die Ornate, dann fallen mir Frauen ein, die bei lebendigem Leib in den Morast getrampelt wurden. Handelte es sich um Opfer, galt es Götter gut zu stimmen? Hatten sie etwas verbrochen? Und wenn, welche Lächerlichkeit warf man ihnen vor? Fiel das Los auf sie? Haftete ihnen ein Zeichen an, das sie zum Opfer machte? Oder wurden sie nur deshalb geboren, liebevoll umsorgt, um, kaum hatten sie die Geschlechtsreife erreicht, standen die Zeichen (der Mond, die Sterne) günstig, unter großem Geschrei geopfert zu werden? Wie auch immer, auf jeden Fall fielen erregtes, freudiges Geschrei mit einem Verstummen, einem Verröcheln in eins. So lange stampfen, bis das letzte Röcheln erstirbt. Vielleicht blieben deshalb ihre Körper erhalten. Auch all den Geweihten, deren Ornate heute im Museum zu sehen sind, raubte man die Stimme. Stumm deshalb auch die Ornate. Allein ihre Anzahl ist erschreckend. Ich habe sie nicht gezählt, aber es sollen 653 Exponate zu sehen sein. Exponate, was für ein seltsames Wort. Expono, das meint aussetzen, bloßstellen, preisgeben, zur Schau stellen. Das gilt nicht nur für Kleidungsstücke. Einige der Exponate gefielen mir, aber nur wenige. Zumeist dekorative Stücke, mehr nicht. Kunsthandwerk. Oft genug Pflanzenornamente, Sämereien. Ornamentik eben. Nichts gegen Sämereien, aber keine der vielen Künstlerinnen hat sich genauer damit beschäftigt, sei es mit Luftfeuchtigkeit oder Wärme etwa, Voraussetzung dafür, dass sich eine Fruchtkapsel sprengt und ihre Samen ausschleudert, Samen von Flugschirmen abfallen.[10] Auch jeder Eisprung hat Verschiedenes zur Voraussetzung. Anders als in der Natur lassen sich hier Hitze und Sturm künstlich erzeugen. Zweifellos sind viele der Künstlerinnen stolz, im Museum vertreten zu sein. Wohl kaum eine von ihnen dachte auch nur einen Augenblick an den Körper, an den Menschen, den ihr Ornat umhüllen sollte, schon gar nicht an das rasche Verglühen der Geweihten, die spätestens im Alter von fünfundzwanzig Jahren, ich muss die Zahl ausschreiben, um diesem Umstand Bedeutung zu verleihen, als verbraucht gelten und dann, in dieser oder jener ihnen von anderen zugedachten Funktion ein verbittertes Leben führen und die Gewalt weitergeben, die sie am eigenen Leib, an der eigenen Seele erfahren haben. So stolz ich einst auf meinen Ornat war, im Museum sah ich nur leere Hüllen, Verpackungsmaterial, all der Gesten beraubt, die einmal mit der Verpackung und dem Aufschnüren eben dieser Verpackung einherging. Man hätte all die Ornamente gleich in die Körper einschreiben, einstechen können. Letztlich wurde ja eingeschrieben, eingestochen, nur auf ganz andere Weise. Über all das hat wohl keine der Künstlerinnen nachgedacht, hätte es auch nicht können, durfte doch keine von ihnen mit jenem zur Geschlechtsreife gelangten Mädchen zusammentreffen, für das das Kunstwerk gedacht war. Es wäre ein seltsames Zusammentreffen gewesen.
Nach dem Eigentlichen wird man in diesem Museum vergeblich suchen. Ich aber, ich sehe in dieser ganzen Fülle, in dieser schier endlosen Abfolge eine Leerstelle nach der anderen, all das Weggelassene. Für mich bildet das Museum die einzige Schnittstelle zwischen meiner Vergangenheit und der Welt, in der ich heute lebe. Bedauerlicherweise habe ich keinen Zutritt während der Abendstunden, zu jener Zeit also, in der es von Zuchtmüttern besucht wird. Damals, noch selbst im Programm, sah ich die Räume anders, ganz anders. Auch ich ließ mich vom Licht, von der Stimmung gefangen nehmen. Aber ich erinnere mich auch an Niobe, mit der ich oft genug während der frühen Abendstunden das Museum besuchte, um sie auf ihre Aufgabe vorzubereiten, auch an die Zweifel, die mich damals zunehmend plagten. Bereits damals erschienen mir all die Ornate als leere, entleerte Hüllen, nicht viel anders als die leeren Hüllen von Insekten, die als Wirt einem Parasiten dienten.

Mehrmals hatte ich Gelegenheit, mich mit dem Kustos über das Museum, die Sammlung und die Ornate zu unterhalten. Eine schreckliche Gestalt. Sein Denken so formlos wie sein Körper. Höchst unangenehm, diesem Mann zur Begrüßung die Hand zu geben. Ein schlaffes Stück Fleisch. Ihm schwebt eine Art Prunksammlung vor. Die verfügbaren Geldmittel erlauben es ihm, kostbare historische Messgewänder, ganz allgemein sakrale Kunst anzukaufen. Er könnte genauso gut eine Käfersammlung anlegen. Warum nicht Schmetterlinge? Manche der Geweihten erhielten während ihrer großen Feier Zweitnamen, die dem Universum der Schmetterlinge entlehnt waren. Darüber hätte ich mit ihm sprechen können, über Käfer und Schmetterlinge, deren Leben so rasch erlischt, über Larvenstadien und Verpuppungen, auch im Leben von Menschen. Das hätte ihn gelangweilt. Kostbar sollen die Dinge sein, Seltenheitswert haben. Stolz zeigte er mir Gewänder Pius IX, deren Wert nur darin liegt, dass sie mit dessen Namen verbunden sind. Ich ließ eine Stola durch meine Finger gleiten, die am einen Ende Isaak auf dem Opfertisch, am anderen Ende eine Kreuzigung zeigte. Plumpe Darstellungen, wie sie sich im neunzehnten Jahrhundert zur Genüge finden. Musste an die vielen Nonnen denken, die, so sie nicht in einer Kirche knieten, nur mit solchen Stickereien beschäftigt waren, an ihre wundgestochenen Finger, an Silber- und Goldfäden, die sich in die Kuppen von Daumen und Zeigefinger schnitten. An verödete Leben. Auch darüber ließe sich vieles sagen. Aber den Kustos schien all das nicht zu interessieren. Ich möchte nicht die Sekretärin sein, die in seinem Vorzimmer sitzt. Einmal führte er mich ins Museumsdepot, in den Tiefenspeicher. Aberhunderte von Gemälden, Plastiken und andere Objekte sind dort gelagert, in riesigen Schubladen, die sich herausziehen und zurückschieben lassen. Ich suchte nach Verkündigungsdarstellungen, schon der Schnittstelle wegen, die sich auf den meisten dieser Gemälde zeigen lässt, nämlich die klare Scheidung zwischen einem Innen- und einem Außenraum, wobei ersterer auf Mariens Körper, Leib müsste es eigentlich heißen, weist. Es fanden sich viele solcher Darstellungen, Stöße, ohne jede Sorgfalt gestapelt. All das sei Mist, unbedeutend. Können menschliche Erfahrungen, und zweifellos haben wir es auch hier mit solchen zu tun, unbedeutend sein? Vergeblich suchte ich dem Kustos den Bruch zu erklären, der auf Gemälden zu sehen ist, die während des Barock entstanden sind. Nicht länger geschah die Empfängnis durch das Ohr. Die Taube, also der Heilige Geist, zielte nun auf den Unterleib. Was Falloppio und andere in anatomischen Theatern ans Tageslicht beförderten und beschrieben, fand hier seinen Niederschlag. Davon hatte er noch nie etwas gehört. Stattdessen antwortete er mit anzüglichen Bemerkungen, die, ohne dass er es klar ausgesprochen hätte, ganz unmissverständlich meinen Unterleib im Visier hatten. Schon allein bei der Vorstellung, diese amorphe, nach einem schrecklichen Parfüm riechende Masse könnte mir zu nahe kommen, sich wie ein Teig über mich breiten, in mich eindringen, an mir haften und kleben bleiben, überfiel mich Ekel. Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, an die Verkündigungsdarstellungen war ohnehin nicht mehr zu denken, meinte ich: „Wie wollen Sie mich nehmen? Von vorne oder von hinten, auf dem Boden liegend, an ein Regal gelehnt? Zweifellos haben sie in diesen Räumen mehr Erfahrung.“ Dieser Dummkopf! Eine Röte machte sich in seinem Gesicht bemerkbar. Dann meinte er, ich solle ihm folgen. Ich war neugierig auf das, was ich nun zu sehen bekäme. Am Ende einer der dunklen Regalschluchten stand ein mit dunkelbraunem Leder bespannter Bock, ein Gerät, das mir aus Turnstunden bekannt war. So, als habe er all das schon öfter gemacht, zog er die letzte Lade aus einem Regal, knipste ein Licht an, das auf eine lebensgroße Darstellung der Heiligen Agathe fiel und diese besonders zur Geltung brachte. An ihren Armen festgebunden, nackt an einem Gestell hängend, den Blick schutzflehend zum Himmel gewandt. Ein makellos weißer Körper, selbst das kleinste Detail, jeder noch so kleine Blutstropfen war mit großer Genauigkeit dargestellt. Zwei finstere Schergen, die sich nur undeutlich vom dunklen Hintergrund abhoben, damit beschäftigt, Agathes Brüste mit Zangen abzuschneiden. Noch während ich über das Bild nachdenken, mich in Agathe versenken konnte, meinte dieser Idiot, ich solle mich über den Bock beugen, meinen Kopf auf meine Hände aufstützen und Agathe betrachten, vor allem ihre Brüste. Ich befolgte seine Anweisungen. Ohne ihn anzusehen, streifte ich meinen Slip bis zu den Knien, hob meinen Rock über das Gesäß, beugte mich über den Bock, klemmte den Rock ein, damit er nicht hinunter rutschte, grätschte meine Beine etwas, ließ meine Hand über mein Geschlecht gleiten, spreizte mit zwei Fingern meine Schamlippen, stützte meinen Kopf auf meine abgewinkelten Arme, so wie er es haben wollte. Ich hörte ihn den Gürtel öffnen. Und gewiss hätte ich im nächsten Augenblick seinen Gürtel oder seine Hände auf meinem Hintern gespürt, hätte ich mich nicht rasch aufgerichtet, mich umgedreht und gesagt: „Es ist doch etwas kühl hier. Ich erkälte mich noch in diesen Räumen.“ Ich zog meinen Slip hoch, brachte meinen Rock in Ordnung. Und noch ehe der Verdutzte etwas sagen konnte, verließ ich, ohne auf ihn zu warten oder mich von ihm zu verabschieden, das Depot. Die arme Sekretärin. Nun verstand ich, warum sie mich so seltsam angeschaut hatte, als er mich ins Depot einlud.
Vermutlich hatte der Dummkopf keine Ahnung vom Park und seinem Innenleben. Als ich mir die Kleidung des Papstes genauer anschaute, machte ich einige Bemerkungen, die ihn hellhörig hätten machen müssen. Ich meinte etwa, ähnliche Kleider würden Zurüster tragen. Nein, er hat nie an einer großen Feier teilgenommen. Er schaute mich nur blöde an. Wäre es anders, ich hätte Zeichen einer gewissen Irritation sehen müssen. Und hätte er in mir eine ehemalige Ornatträgerin vermutet, nie hätte er mich ins Depot gebeten. Er wusste nicht einmal etwas zur Funktion der vielen Ornate zu sagen. Sie sind aber nicht vom Himmel gefallen. Ein dummer Kunsthistoriker, wohl Voraussetzung für seine Anstellung. Ich fragte mich, wo sich die Prunkgewänder der Zurüster befinden, warum sie, da sie doch besonders üppig und grotesk ausgeführt sind, nicht gezeigt werden. Warum nicht die seltsamen Kopfbedeckungen, die sie tragen, ihr aus Stoffen gefertigtes Schuhwerk, das keine Sohlen kennt, um lautlos gehen zu können, in das sich hineinschlüpfen lässt wie in ein ...?
Vermutlich wurde mein Ornat meines Verhaltens wegen nicht in die Schausammlung aufgenommen. Vielleicht ist er längst verbrannt worden. Womöglich ist er in einer psychopathologischen Sammlung gelandet und wird nun zu Lehrzwecken verwendet. Eine eigenartige Vorstellung, angehende Zurüster, die in die Praxis der Embryonenproduktion eingeführt werden und dabei ein Stück Stoff betrachten, einen zugeschnittenen Stofffetzen, in den man mich einst kleidete und über den Kühe laufen.

Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Vgl. Sigmund Freuds „Notiz über den ‚Wunderblock’“ (1925). Der „Wunderblock“, ein Kinderspielzeug, erlaubt das wiederholte Beschreiben ein und derselben Fläche, vorausgesetzt, man zieht die über einer Wachsplatte liegende Folie heraus und schiebt sie dann für eine neuerliche Beschriftung zurück. Das Schriftbild lässt sich also einfach löschen. Allerdings bleiben die früheren Einschreibungen auf der Wachsplatte erhalten und lassen sich entziffern, betrachtet man sie „bei geeigneter Beleuchtung“. Wir haben es, so Freud, mit einer „Dauerspur“ zu tun.]

[2] [Günther Anders (1902 – 1992), österreichischer Philosoph und Schriftsteller. Hauptwerk: „Die Antiquiertheit des Menschen“.]

[3] Vor dem Explodieren in hellstem Glanz erstrahlen.

[4] [Da Minos den prächtigen Stier, anders als gelobt, nicht dem Poseidon opferte, sondern stattdessen zu einem Zuchtstier machte, schlug der Meeresgott Pasiphaë, die Frau des Minos, mit dem Begehren, sich mit dem Stier zu vereinen. Um diese Vereinigung zu ermöglichen, ließ sie sich vom Erfinder Daidalos ein mit einer Kuhhaut bespanntes Gestell bauen. In dieser Attrappe verborgen ließ sich Pasiphaë vom Stier begatten. Als Frucht dieser Vereinigung gebar sie den Minotauros, ein menschenverschlingendes Ungeheuer, ein Wesen mit menschlichem Körper und Stierkopf.]

[5] „Die ersten Schälle der stammelnden Zunge? Das Menschengeschlecht in seiner Kindheit hat sich ja eben die Sprache geformet, die ein Unmündiger stammlet: es ist das lallende Wörterbuch der Ammenstube – wo bleibt das im Munde der Erwachsnen?“ [Johann Gottfried Herder, „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“, 9. Kapitel.]

[6] [Auffallenderweise bleiben Sergej Eisensteins Memoiren „Yo. Ich selbst“ unerwähnt.]

[7] „Die Frauenleiber waren mit zarter Sinnlichkeit modelliert – mit rosigen Hüften und runden Brüsten. Ein kleiner Indianer wanderte mit seiner Frau vor mir her durch den Gang; die beiden starrten mit leerem Interesse – ich glaube nicht, dass sie etwas von der Sache begriffen – bloß eine Frau an, die geschlagen wurde, das war alles. Warum nicht? Das Böse in dem dumpfen Gang berührte sie nicht – auch nicht die Propaganda. Sie waren unschuldig.“ [Graham Greene, „Gesetzlose Straßen“. In einer der Kirchen in San Cristóbal de Las Casas sah Graham Greene einen ähnlichen Gang.]

[8] [Anspielung auf Sandor Ferenczi, „Das klinische Tagebuch von 1932“, S. 109.]

[9] [Anspielung auf Paul Scheerbart, „Tarub. Bagdads berühmte Köchin. Arabischer Kulturroman“ (1897).]

[10] Sämereien unter einem Mikroskop betrachtet. Manche sind überzogen von einer feinen Behaarung, andere lassen an pockennarbige Meteoriten denken, an archaische Boote. Mögen Gestalt und Oberfläche noch so verschieden sein, so kennen doch alle von ihnen eine Schnittstelle, eine Geburtsnaht. Was als kompakter Körper erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen nur zu schnell als Luftgebilde. Filigrane Strukturen mit vielen Zwischenräumen.