Kapitel 6

Feldnotiz 355 / Ich sehne mich nach Gestank, nach Lärm, nach dem Geschrei von Kindern, dem Bellen von Hunden, nach Müll, Unrat aller Art. Was gäbe ich jetzt, könnte ich sehen, wie ein gefesseltes Schwein, das sich zu entwinden sucht, auf einen Bratrost gelegt wird. Nur nicht länger in diesem fensterlosen, stickigen, vollklimatisierten Raum sitzen. Jetzt würde ich gerne zwei Bambusstäbe mit Federn kaufen, einen Abszess am Bein eines Eingeborenen behandeln, und sei es mit dem Hintergedanken, dafür einige Paradiesvogelfedern zu erhalten. Was gäbe ich im Augenblick dafür, mich über Körbe, Stoffe oder Äxte zu unterhalten. Der Park kennt weder Körbe noch Äxte. Womöglich irre ich mich. Vermutlich finden sich auch hier Körbe und Äxte, aber wenn, dann lassen sie sich nicht als solche erkennen. Statt mit Beilen habe ich es mit zahllosen Trennungen zu tun, mit räumlichen, symbolischen Trennungen. Zweifellos werden die Mädchen als Körbe gedacht, mit Eiern gefüllte Körbe.

Feldnotiz 356 / Wie in Yoshiwara scheinen im Park "ältere Schwestern" in der Erziehung der Mädchen eine Rolle zu spielen, zumindest der größeren Mädchen. Immer wieder sehe ich eine der jungen Frauen aus dem Garten mit einem der Mädchen bei einsamen Spaziergängen.

Feldnotiz 357 / Flüchte mich in Romanlektüre. Lese Maurice Renards Schauerroman "Der Doktor Lerne". Auch hier sind alle Erscheinungen trügerisch. Es ist zum Verrücktwerden. Angesichts dessen muss ich an Heinrich Lautensack denken, den Übersetzer des Romans. Bei Wedekinds Begräbnis auf dem Münchner Waldfriedhof verfiel er in Wahnsinn.[1] Eigentlich sollte ich Wedekinds Mine-Haha zur Hand nehmen. Aber es ist nicht meine Sache, kleinen und größeren Mädchen an der Isar beim Baden zuzusehen. Aus anderen Gründen ist mir die Erzählung im Augenblick viel zu nah. Ich würde anfangen, Mädchen, die ich auf den Bildschirmen betrachte, deren Namen ich nicht kenne, Namen aus der Erzählung zu geben: Blanka, Wera, Lora, Simba, Kairula, Pamela, Irma, Margareta, Diotima, Fanny, Melusine, Lydia, Filissa, Franziska. Mine-Haha, Mine-Haha, lachendes Wasser.

Feldnotiz 358 / Meine Beschäftigung mit Yoshiwara ist alles andere als ein Zufall. Champell erwähnte das Antiquariat. Der freundliche Antiquar schien auf mich gewartet zu haben. Ohne dass ich ihn gefragt hätte, zeigte er mir japanische Druckgraphiken erotischen Inhalts. Er war es, der mich auf das Yoshiwara-Buch aufmerksam machte. Zweifellos einer der seltsamen Einfälle von Champell.

Feldnotiz 359 / Wurde den ganzen Tag mit Bildern von Stoffmustern gefüttert. Auf jedem Monitor ein anderes Stoffmuster, nach wenigen Minuten wechselnd. Schlief ein, schlief wohl lange. Wurde durch laute Orchestermusik aus dem Schlaf gerissen. Auf dem Riesenbildschirm in der Totale wieder der Raum mit den beiden Hirschen und den schaukelnden Mädchen, die aufeinanderprallen würden, stünde die Zeit nicht still, wären die Gesetze der Schwerkraft nicht aufgehoben. Die Zeit stand aber nicht still. Ein Mädchen, nicht eines der an der Wand schaukelnden Mädchen, auch nicht jenes, das ich bereits gesehen hatte, wurde unter wüsten Beschimpfungen, was ich, da die Orchestermusik laut anschwoll, nur den Gesten entnehmen konnte, von der Dame rechts im Bild (vermutlich dieselbe wie zuvor), aus dem Raum gezerrt. Die Musik verstummte und ich sah nur noch die leere Bühne mit dem Wandgemälde. Ließ mir zwei Flaschen Whisky in mein Zimmer bringen. Betrank mich maßlos. Wachte verstört und mit einem schrecklichen Kater auf. Blieb im Bett liegen. Meine Gedanken drehten sich um Kamuros und ShinzŌ, um Schnittstellen, an denen sich Lächerliches, Groteskes und Boshaftes (der Plan!) zu überlagern beginnen.

Feldnotiz 362 / Ein schlechter Traum, der mich in den Tag verfolgt: Auf der Bühne ein großer, mit Stickstoff gefüllter Behälter, wie der Lagerungsapparat von Feten strotzend (schon wieder Gironcoli). Nebeldämpfe. Gehilfen des Oberpriesters hielten meine Arme fest umklammert und versuchten meinen Kopf in flüssigen Stickstoff zu tauchen, während schrill in meinen Ohren klang: ".... dich ergreifen wir ... an dir werden die heiligen Handlungen vollzogen ... ein Geisthauch gehe in dich ein und rufe eine Befruchtung hervor ...." Schweißgebadet wachte ich auf.

Feldnotiz 363 / Kamuros: Was für ernste Gesichter! Sie wirken wie kleine Erwachsene, als laste ein ganzes Leben bereits auf ihnen. Die Mädchen des Parks scheinen unbeschwerter, aber auch auf ihren Gesichtern liegt dieser bleierne Ernst. Letztlich erscheint mir der Unterschied nicht so groß, sehe ich einmal davon ab, dass die Mädchen des Parks nicht degradiert, zu niederen Diensten verdammt werden können. Keines von ihnen ist etwa bei Putzarbeiten zu sehen. Oder doch? Warum sollte es die Drohung nicht geben, sie aus dem Park zu verbannen, aus dem Paradies zu vertreiben, womöglich das Leben damit zu verbringen, eingepflanzte Embryonen auszutragen? Es wären auch andere Nutzungsformen denkbar. Nobelbordelle.

Feldnotiz 364 / Wieder einen Abend mit einer Laborantin verbracht. Langes schwarzes Haar, zu einem Knoten gedreht (öffnete es später), große, feste Brüste. Viel mehr ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Erzählte ihr von Kamuros und ShinzŌ. Schien sie nicht sehr zu interessieren. Ich setzte mich auf den Balkon, rauchte lange. Der Park, Yoshiwara, schwarze Haare und große feste Brüste schwirrten durch mein Gehirn. Empfand tiefen Ekel. Als ich wieder in mein Zimmer trat, war das Mädchen verschwunden. Ich genoss meine Einsamkeit und fiel bald in einen tiefen Schlaf.

Feldnotiz 367 / Das ständige Zappen zwischen den einzelnen Monitoren wird mich noch in den Wahnsinn treiben. Fehlt nur noch Werbung. Werbung des Unternehmens, es gibt sie sicher, wäre aufschlussreicher als alles, was ich hier sehe. Was sehe ich eigentlich? Haben die Räume, in die man mir Einblick gewährt, überhaupt etwas miteinander zu tun? Die Monitorwand bringt sie in eine räumliche Ordnung, die nichts oder wenig über ihre eigentliche Anordnung aussagt. Gut denkbar, dass all diese Räume Tausende von Kilometern voneinander entfernt liegen. Was immer ich auf den Bildschirmen sehe, findet jetzt, in diesem Augenblick, also zeitgleich statt. Wer sagt das? Die Monitorwand. Danke, Monitorwand. Vielen Dank, Monitorwand. Wenigstens du sprichst zu mir. Vielleicht bekomme ich Aufnahmen zu sehen, die vor Jahren gemacht wurden. Manchmal ist es mir, als hätte ich diese oder jene Aufnahme bereits mehrfach gesehen. Manches spricht dafür, anderes dagegen. Es ist Winter. Kommen mir jetzt auf einem der Bildschirme im Park spielende Mädchen unter, dann sehe ich sie in dicken Jacken. Kahl stehen die Bäume da. Also ist es auch im Park Winter. Aber warum sollen die Aufnahmen nicht aus einem früheren Jahr stammen?

Feldnotiz 372 / Dieser Raum, in dem ich jetzt sitze, ist ein Schauplatz, von dem ausgehend sich ein Roman schreiben ließe. Ein Roman als offenes Fenster zum Leben. Welche Handlung? Welche Figuren? Eine Liebesgeschichte, in der es an Sex und Gewalt nicht mangelt. Die Leser wollen es so. Champell würde mich gegen meinen Widerstand zum Chronisten seines erbärmlichen ehelichen Gehopses machen. Für mich nicht nachvollziehbar (dabei kann ich mir vieles vorstellen), aber in Champells ehelichem Liebesleben würde das Bidet eine wichtige Rolle spielen. Seine Frau, die Literaturwissenschaftlerin, hätte sich ihm kniend, vor ihm über das Bidet gebeugt (womöglich erbrechend), anzubieten. Er könnte nur kommen, würde er den Wasserstrahl auslösen, der auf ihre entblößten Brüste träfe. Nichts gegen Sauberkeit. So oder ähnlich stelle ich mir Champell vor. Schriebe ich einen Satz, so ergäben sich zehn weitere Sätze, und jeder dieser Sätze hätte weitere Sätze zur Folge. Aber ich fürchte, die von mir erfundenen oder aufgelesenen Figuren plapperten in meinen Text hinein, wie ich mich auch in sie hineindenken müsste.[2] So nähert man sich dem Zentrum aller Autorenschaft, jenem Punkt, an dem es keinen Autor mehr gibt, wird es doch still im Gehirn wie im Auge eines Hurrikans. Ich würde zu einem Gott mit gelähmten Gliedern.[3]

Feldnotiz 379 / Blieb im Bett liegen.

Feldnotiz 384 / Inzwischen interessiert mich die Monitorwand nur noch wenig. Statt dessen spiele ich mit Standbildern herum. Vergrößern bis zur Unkenntlichkeit. Der Mund, Mehrzahl: Münder. Ein gutes Beispiel: Es gibt einen Punkt, an dem, wüsste man es nicht, ein Mund nicht mehr von einer Wolke zu unterscheiden ist. Eine schöne Vorstellung, alles in Wolken aufzulösen, in nebelartige Gebilde, die Münder der größten Verbrecher. Champells Mund.

Feldnotiz 389 / Ein kleiner Erfolg. Fand mich morgens wieder allein im Bett. Ich habe mir die Laborantin, den mir zugewiesenen Schatten, nicht eingebildet. Sie lag mit mir im Bett. Ich fand ihren Slip unter der Matratze, genau an der Stelle, wo ich ihn, um nicht verrückt zu werden, am Vorabend, ohne dass sie es bemerkte, versteckt hatte. Zurückgeben? Wo? An der Bar? Wem? Ich werde es mit anderen Schatten zu tun haben.

Feldnotiz 391 / Wachte aus einem Alptraum auf. Sah mich im Traum als ersten Liebhaber einer ShinzŌ. Hinter der weißen Maske war M. zu erkennen (wie lange habe ich ihr nicht mehr geschrieben). Ich drohte unter einer furchtbaren Kleiderlast zu ersticken.

Feldnotiz 393 / Erst jetzt werde ich mir der Anstrengung bewusst, die es kostet, fühlt man stets ein Kameraauge auf sich gerichtet. Keine Selbstgespräche führen, nicht gähnen, etc. Ich kann mich auf den Boden legen, leere Blätter nebeneinander anordnen und mit einem dicken Filzstift auf jedes der Blätter da oder dort einen Punkt setzen. Ich muss mir nicht einmal den Anschein von Arbeit geben. Ich kann mich, um der Monitorwand zu entgehen, unter einem der Tische verkriechen, einen Golfball auf meine Stirn legen, um mich überraschen zu lassen, in welche Richtung er rollt. Wieder und wieder. Nur weil ich weiß, dass Kameraaugen auf mich gerichtet sind, gebe ich mich einem solchen Tun hin. Ob in einem anderen Raum tatsächlich jemand vor einer Monitorwand sitzt und mir zusieht oder nicht, ist diesbezüglich ohne Bedeutung.

Feldnotiz 394 / Hätte Lust, mit einem Hammer all die Bildscheiben einzuschlagen, einen Monitor nach dem anderen zu zerstören. Aber es wäre unsinnig, sind doch die Monitore und nicht das, was auf ihnen zu sehen ist, real. Lange Stunden habe ich damit verbracht, die Monitorwand zu zeichnen.

Feldnotiz 401 / Es ist mir völlig unklar, weshalb und wofür ich bezahlt werde, dazu noch von einem Unternehmen, das größten Wert auf Effizienz legt. Von meiner Arbeit ist nicht das Geringste zu erwarten, zumal mir die wichtigsten Informationen und Daten vorenthalten werden. Vermutlich werde ich als eine Art Hofnarr gehalten, sei es zu Champells persönlichem oder zu allgemeinem Vergnügen. Wie ein Hofnarr kann auch ich nicht bestraft werden (Kündigung, Versetzung, Degradierung). Und wie man mit Hofnarren Scherze treiben konnte, so werde auch ich hier oft genug zum Narren gehalten. Selbst wenn ich die Wahrheit sagte, ich würde kein Gehör finden. Da ich die Wahrheit nicht kenne, liegt keine Tragik darin. Es ist nur komisch.[4]

Feldnotiz 405 / Manchmal, so auch jetzt, verschwimmt die Monitorwand vor meinen Augen. Alles wird unscharf. An den Rändern des Blickfeldes beginnt eine gitterartige Struktur zu flimmern. Es hilft nicht, versuche ich mich abzulenken und in einem Buch zu lesen. Auch die Zeilen und Buchstaben lösen sich zu einem flimmernden Gitter auf. Erst nach längeren Spaziergängen vermag ich wieder klare Konturen zu sehen.

Feldnotiz 407 / Ich kann mich gar nicht mehr an all die Laborantinnen erinnern, mit denen ich im Bett lag, mögen sie noch so hübsch gewesen sein. Ich vermisse keine von ihnen. Denke ich an die eine oder andere, ich kann sie mir kaum noch vorstellen. Würde ich einer von ihnen zufällig an einem anderen Ort begegnen, ich würde sie wohl nicht mehr wiedererkennen. Letzten Abend eine andere Erfahrung. Wieder lag ich mit einer Laborantin ("Sekretärin") im Bett. Als ich durch ihre Haare fuhr, fing sie plötzlich zu heulen an. Ich versuchte sie zu trösten. Es gelang mir nicht. Sie setzte sich auf den Bettrand. Dann stand sie auf, kleidete sich an und verließ heulend mein Zimmer. Obwohl wir uns nicht näherkamen, die erste wirkliche Begegnung seit Monaten. Als ich allein war, überfiel mich ein Gefühl von Traurigkeit. Aber es war doch schön zu erfahren, nicht ganz allein, nicht nur von Automaten, Dienstleistern etc. umgeben zu sein. Wie gerne hätte ich mich mit ihr auf den Balkon gesetzt, geraucht, das eine oder andere Wort gesprochen, geschwiegen. Nicht mehr und nicht weniger. Einfach so.

Feldnotiz 411 / Warum bin ich noch hier? Schlage die Zeit tot. Zeichne Muster von Ornaten. Selbst nachts fallen mir noch Muster und Ornamente ein. Keine geometrischen Muster, sondern rhizomartige Wucherungen. Ausdruck meiner zunehmenden Entwurzelung (ich selbst werde mir fremd) oder Ausdruck jenes Unbehagens, das mich überfällt, wenn ich an das Unternehmen denke?

Feldnotiz 414 / Werde ich erstickt oder ersticke ich an mir selber?

Feldnotiz 415 / Ich bin unfähig, mich in meine Arbeit zu vertiefen. Fühle mich elend, mein Schädel schmerzt. Nichts will mir einfallen. Das Blut staut sich in meinem Kopf. Kongestionen zwischen Gehirn und Sehnerv, Druck auf den Augen. Unfähig, mich zu konzentrieren oder zu arbeiten. Mein Kopf reagiert nicht. Nach drei Sekunden habe ich vergessen, was ich im Sinn hatte. Gestern hatte ich nicht einmal Lust, einen Spaziergang zu machen, noch weniger meine ethnographischen Aufzeichnungen durchzusehen. Abends überfiel mich eine große Einsamkeit, empfand die Gegenwart von Menschen aber dennoch als unerträglich. Stopfte lustlos einige Bissen in mich hinein. Konnte nicht schlafen. Versuchte Chateaubriands "Reise nach Amerika" zu lesen. Musste aufhören. Zu absurd.

Feldnotiz 417/ Die Monitore verschwimmen zu Klecksen. Am liebsten würde ich mich geistlos auflösen oder zu einem Teil der Monitorwand werden, sei es nur zu Energie, um einen der Monitore zu speisen. Wie lange ließe er sich damit betreiben? Nicht lange, bestenfalls einige Tage. Doch lieber zu einem Bild werden, auf das ich starre, Oberlippe eines der Mädchen sein, die sich mit mathematischer Präzision in das Ballett fügen. Vielleicht könnten mich Malinowskis Tagebücher ablenken, aus meiner Lethargie reißen.[5] Aber da gäbe ich mich nur einer Täuschung, bestenfalls einer Tröstung hin. Ich muss mit meinen Notizen fortfahren, die groteske Feldforschung beschreiben, die ich hier betreibe. Den ganzen Tag sitze ich herum. Ich werde von keinen Wilden belästigt, muss keine Perlenketten herumschleppen, habe nichts mit unzuverlässigen Informanten zu tun, nichts mit Informanten, die meinen, mir ihre Welt so beschreiben zu müssen, wie sie annehmen, dass ich sie sehen will. Niemand belügt mich über Begräbnisriten. Ich muss mich nicht mit dem Elend in armseligen Dörfern herumschlagen, in kein Dorf laufen, nur weil ich vom Tod eines jungen Burschen erfahren habe. Und doch erfahre ich hier all das in geradezu gesteigerter Form, ist doch alles eine einzige Lüge. Auf Zeichen ist kein Verlass.

Feldnotiz 419 / Mir ist kalt, mich fröstelt, seltsam, ist doch der Raum voll klimatisiert. Im Mund habe ich einen Geschmack, als würde ich bereits in Verwesung übergehen. Eigenartig, in solchen Zuständen ist man sehr aufnahmefähig. Alles dringt in einen ein, vermengt sich zu grotesken Bildern und Träumen. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich laut loslache. Üblicherweise gilt ein solches Lachen als Zeichen beginnender Geisteskrankheit, aber ich weiß, warum ich lache!

Feldnotiz 421 / Seit Wochen hat sich Champell nicht mehr blicken lassen. Langsam beginne ich ihn zu vermissen. Laborantinnen laufen mir auch keine mehr über den Weg. Ich kann mich nicht länger betrügen, muss mich aber auch nicht betrügen lassen.

Feldnotiz 422 / Denke an M. Versuche, ihr einen Brief zu schreiben. Seit Wochen versuche ich das. Aber stets tut sich ein Abgrund auf zwischen dem, was ich erlebe, und dem, was ich verständlich machen kann. Wie an vielen anderen Tagen zuvor habe ich auch heute die Briefe des Vorabends zerrissen.

Feldnotiz 426 / Die Hauptschwierigkeit liegt darin, meinen Mund zu halten, schweigend vor der Monitorwand zu sitzen.

Feldnotiz 429 / Ich sehne mich nach unerträglicher Hitze, nach einem heftigen Monsunregen, nach heruntergekommenen Dörfern, in denen sich mehr Schweine als Menschen herumtreiben. Was für ein Glück wäre es im Augenblick, könnte ich Obsidianäxte klassifizieren, differenzieren zwischen alltäglichem und zeremoniellem Gebrauch.

Feldnotiz 437 / Seit Monaten keinen Brief mehr geschrieben. Deshalb bekomme ich auch keine Briefe mehr.

Feldnotiz 441 / Jedes wissenschaftliche Interesse ist mir abhanden gekommen.

Feldnotiz 446 / Seit Tagen plagt mich ein wirrer Traum. Ich sehe mich auf einer Miniaturausgabe eines gynäkologischen Behandlungsstuhles liegen. Ich bin viel zu groß, rage über ihn hinaus, wie es mir auch nicht gelingen will, nicht gelin[6], untersucht mich. All ihre Aufmerksamkeit gilt meinem Mund, den sie ihren kleinen Schülerinnen erklärt, dies nicht ohne mit Löffel und Schere in ihn einzudringen, wogegen ich mich heftig wehre. Vergeblich versuche ich zu sagen, schon wieder läge eine Vertauschung von oben und unten vor, da mir Susanna, kaum setze ich dazu an, mit einer Gerte auf den Mund schlägt, während sich ein monströser, an seinen Rändern höchst unscharfer, ins Flüssige und Nebelhafte verschwimmender Champell über mich beugt, mich zu ersticken droht und ich aus dem Traum aufschrecke.

Feldnotiz 450 / Anfall von Punktophobie, panischer Angst vor spitzen Objekten. Bedürfnis nach körperlicher Bewegung. War auf dem Golfplatz. Regen. Begegnete niemandem.

Feldnotiz 458 / Seit mehr als zwei Wochen keine Zeile notiert. Champell lässt sich nicht mehr blicken. Jetzt vermisse ich ihn beinahe. Auch die Laborantinnen scheinen mich zu meiden. So ich mich überhaupt noch in eine Bar setze, niemand mehr setzt sich neben mich.

Feldnotiz 461 / Wachte mit Kopfschmerzen und Übelkeit auf. Fühle mich krank, von einer tödlichen Krankheit befallen. Denke an meinen Tod. Sollte ich sterben, was mir ziemlich gleichgültig wäre, würde ich immerhin diesem Unsinn entkommen. Dieser ganze Unsinn, er ist endemisch, wuchernd, alles verschlingend. Nur noch Groteskes, Absurdes fällt mir ein. Einen lächerlichen Tod sterben! Er kann gar nicht lächerlich genug sein! Nur nicht inszeniert.

Feldnotiz 464 / Kollaps. Zittern. Sicher werde ich bald sterben. Ohne Wunsch weiterzuleben. Zweifellos ein guter Zeitpunkt, um zu sterben.

Feldnotiz 467 / Kopfschmerzen, Schwäche. Machte einen Spaziergang. Der von Schnee bedeckte Golfplatz lag menschenleer vor mir. Gefühl absoluter Sinnlosigkeit. Sitze teilnahmslos vor der Monitorwand.

Feldnotiz 471 / Ich kann nicht einmal Zorn entwickeln.

Feldnotiz 475 / Habe den Boden unter den Füßen verloren.

Feldnotiz 481 / Möchte nur noch aus diesem elenden Loch fortkommen.

Feldnotiz 486 / Meine Augen brennen. Kopfschmerzen.

Feldnotiz 491 / Einzig erstrebenswertes Ziel scheint mir, geistige Leere zu erreichen.

Feldnotiz 498 / Meine Augen schmerzen. Schwindelgefühl. Herzrasen.

Feldnotiz 501 / Den ganzen Tag fühlte ich mich schlecht, schwach. Grauenhaft, sich in diesem Pandämonium von Mädchen und Leerstellen bewegen zu müssen.

Feldnotiz 506 / Völlige Leere. Wenn nicht, so tanzen Mädchen in einer sinnlosen Choreographie in meinem Kopf herum.

Feldnotiz 509 / Notierte stundenlang stumpfsinnig einzig zwei Sätze: "Die wesentlichen Elemente isolieren und klassifizieren", "Vom Wert ethnographischer Studien für die Verwaltung".[7]

Feldnotiz 514 / Mädchen, Mädchen, Mädchen.



Anmerkungen

Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Im erwähnten Roman folgt der Ich-Erzähler Nicolas Vermont einer Einladung seines Onkels Lerne, der sich auf ein Schloß in den Ardennen zurückgezogen hat, um sich ausschließlich seinen wissenschaftlichen Forschungen zu widmen. Nicolas muss feststellen, dass sich sein Onkel in sonderbarer Weise verändert hat. Aus dem fürsorglichen Lerne ist ein herrschsüchtiger Alter geworden, der ihm den Zutritt zu seinen Laboratorien verwehrt, ihm vor allem jeden Kontakt mit seiner Geliebten Emma verbietet. Besonders irritiert Nicolas, dass sein Onkel plötzlich Französisch mit deutschem Akzent spricht. Der Garten, dem bislang Lernes Leidenschaft galt, liegt verwahrlost. Aber Lerne ist gar nicht Lerne. Vielmehr hat sein Assistent Klotz sein eigenes Gehirn in Lernes Schädel verpflanzen lassen, um sich in den Besitz seines Vermögens und seiner Geliebten zu bringen. Nicolas erwacht im Körper eines Stieres. Emmas Interesse gilt nicht Nicolas, sondern seinem Körper, nunmehr Behälter des Stiergehirns. Groteskerweise gerät Nicolas in rasende Eifersucht, als er sehen muss, dass sie sich "ihm" hingibt. Dass sich Renards Schauerroman heute noch lesen lässt, verdankt sich nicht zuletzt der Übersetzung Heinrich Lautensacks. Bei der Beerdigung Frank Wedekinds, Lautensack ließ das Ereignis filmen, wurde er auffällig und fiel dann in geistige Umnachtung.]

[2] [In der Geschichte der Ethnologie finden sich mehrfach Beispiele, in denen Ethnologen, angewidert von ihrer Arbeit, davon träumen, einen Roman zu schreiben. So skizziert etwa Michel Leiris am Ende seines afrikanischen Tagebuches eine Erzählung, "deren einzelne Elemente so weit wie möglich der gegenwärtigen Realität entlehnt wären."]

[3] [Anspielung auf eine Bemerkung Simone Weils.]

[4] [Anspielung auf Simone Weils Bemerkung zur Tragik der Narren bei Shakespeare und Velasquez.]

[5] [Malinowski entwickelte eine abgrundtiefe Verachtung gegenüber den Bewohnern der Trobriand-Inseln, denen seine Forschung galt. Er begann aber auch an jener Welt zu zweifeln, aus der er selbst stammte. Mit Selbstdisziplin und gymnastischen Übungen suchte er den Versuchungen, denen er sich angesichts halbnackter Mädchen und Frauen ausgesetzt sah, zu entgehen. Auf mangelnde Selbstbeherrschung ("hätte das lausige Mädchen nicht tätscheln dürfen") reagierte er mit heftigen Selbstvorwürfen. Seine Angst, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hatte zahllose Körperängste zur Folge. Bronisław Malinowski, "Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes". Malinowski (1884 - 1942) zählt zu den bedeutendsten Ethnologen, gilt als "Vater der Feldforschung". Seine Tagebücher, die er zwischen 1914 und 1918 in Neuguinea, vor allem auf den Trobriand-Inseln verfasste, spiegeln exemplarisch Konflikte der Feldforschung.]

[6] [Primiz: (lat. primitiae, "Erstlingsfrucht") die erste von einem katholischen Priester in seiner Heimatgemeinde gefeierte Messe. Der Neupriester zog in einer Prozession von seinem Elternhaus zur Kirche. Ein weiß gekleidetes "Primizbräutchen" trug auf einem reich bestickten Kissen eine "Primizkrone" oder einen Kelch voraus. Nicht zufällig wurde eine Primiz ähnlich wie eine Hochzeit gefeiert, vermählt sich doch in der katholischen Priesterweihe ein junger Mann mit der Kirche, die als Frauenleib imaginiert wird. Die weiße Kleidung wie der Blumenkranz im offen getragenen Haar des Primizbräutchens bezeichnen Reinheit und Unschuld.]

[7] [Bronisław Malinowskis "Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes. Neuguinea 1914 - 1918."]