Kapitel 19

Champell: „Wir sehen uns heute das letzte Mal.“
Neurath: „Dabei habe ich mich in letzter Zeit an unsere Unterhaltungen gewöhnt. Sie überraschen mich immer wieder.“
„Auch mir war es ein Vergnügen. An Vergnügen darf ich aber nicht denken. Die Angelegenheit ist zu ernsthaft. Ich möchte von Ihnen nur eine Frage beantwortet haben.“
„Und die wäre?“
„Das Unternehmen verdankt dem Park sehr viel. Aber wozu bräuchte es ihn noch, bedarf doch die Produktion hochwertiger Embryonen keiner menschlichen Körper mehr. Der von uns betriebene Aufwand ist überflüssig geworden. Wir haben unsere Produktion längst umgestellt. Die neuen Technologien kennen keine genetischen Überraschungen mehr. Wie Sie wissen, können die Nachkommen eines Nobelpreisträgers Dummköpfe sein. Einer der letzten amerikanischen Präsidenten bot sich uns als Samenspender an. Er dachte wohl, die Welt durch eine möglichst große Nachkommenschaft zu verbessern. Wir ließen ihn in seinem Glauben. Allein sein psychologisches Profil sprach gegen die Verwendung seines Spermas.“ „Was geschah damit?“
„Es landete den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend im Sondermüll, in einer Verbrennungsanlage. Was halten Sie davon, den Park für die Außenwelt zugänglich zu machen, wenn Sie so wollen, in ein offenes Reservat zu verwandeln?“ „Was wäre damit gewonnen?“
„Leerstehende Kühe kosten Geld, sagt ein Sprichwort. Ein gewinnorientiertes Unternehmen kann mit vielem leben, nicht aber mit Brachliegendem ...“
„Welche Möglichkeiten sehen Sie?“
„Wir denken an einen Erlebnispark ganz neuer Art. An Besuchern würde es nicht mangeln. Denken Sie an die zahllosen Menschen, die ihre Existenz dem Park verdanken und begierig darauf sind, etwas über ihre Herkunft zu erfahren. Ein Zahlencode vermag keine Eltern zu ersetzen. Viele wollen ihre leibliche Mutter sehen, mit ihr sprechen. Das REGISTER könnte diesbezüglich von großem Nutzen sein. Und den Frauen, die den Park bevölkern, käme, nachdem sie nun nutzlos geworden sind, eine neue Aufgabe zu. In leerstehenden Pavillons ließen sich Gästewohnungen einrichten.“
„Und was geschähe mit der Großen Kammer?“
„Sie würde jeden Abend bespielt. Außer an Montagen. Wir ließen uns von Museumsexperten beraten. Jeden Abend fände eine rituelle Inseminationsfeier statt. Leicht fänden sich Schauspieler, die in den Rollen von Zurüstern, Badedienern oder Maschinenobergefreiten aufträten, auch junge Frauen, deren Körper unseren Vorstellungen entsprechen. Natürlich wäre alles nur gespielt. Im Kelch befände sich kein Sperma. Es bedürfte keiner hormonellen Vorarbeit. Aber das sähe kein Besucher, keine Besucherin. Die Musik erklänge wie vor Jahrzehnten. Der Altar würde sich wie eh und je aus der Tiefe erheben und nach vollzogener Weihe wieder in der Tiefe verschwinden.“
„Das lässt mich an Schauspieler denken, die als Priester auftreten, all das unter dem Deckmantel der Traditionspflege. Mich haben solche Aufführungen nie berührt.“
„Es kommt auf den Schauspieler an. Ein guter Schauspieler muss nicht empfinden, was er darstellt, ausdrückt. Um das Publikum zu bewegen, muss er, ohne jede innere Beteiligung, ohne jede Regung, gleich einer Maschine, die Gesten bestimmter Gemütsbewegungen reproduzieren. Nur wenn er selbst nichts empfindet, vermag er andere zu rühren.[1] Man muss nicht gläubig sein, um die Matthäuspassion aufzuführen, man muss nicht einmal die deutsche Sprache beherrschen. Die Wirkung würde sich nicht allein Schauspielern, sondern vielem anderen verdanken. Denken Sie an das Licht wie andere Möglichkeiten, eine gewisse Stimmung, bestimmte Empfindungen zu evozieren. Die rituelle Insemination bildete nur einen Bestandteil einer viel komplexeren Erlebniswelt, einer umfassenden sinnlichen Reizung. Ich habe Sie lange gequält. Sie können ruhig rauchen. Nachdem wir uns heute das letzte Mal sehen, würde ich gerne mit Ihnen anstoßen. Whisky? Oder doch lieber einen Cognac?“
„Lieber Cognac, in dieser aseptischen Welt.“
„Seien Sie doch nicht so humorlos.“
„Soll ich jetzt lachen? Ich bin noch nicht betrunken. Der Cognac, vom Feinsten ... Die Vorstellung, den Park zu öffnen, die darin lebenden Frauen der Außenwelt, der voyeuristischen Unterhaltung zu überlassen, widerstrebt mir. Die über lange Jahre im Park entwickelten sozialen Strukturen, ich kenne keine vergleichbare Welt, würde innerhalb weniger Monate kollabieren. Für die Frauen hätte es katastrophale Folgen.“
„Sie denken vermutlich an indigene Kleinstgesellschaften im Amazonasgebiet.“
„ ... an völlig entwurzelte Menschen, die weder in ihrer Vergangenheit noch in der Gegenwart verankert sind, die keine Zukunft haben. Schauen Sie doch diese traurigen Gestalten an, schauen Sie sich an, was Konservendosen, billigste Fetzen, Laptops und andere Konsumgütern innerhalb kürzester Zeit aus diesen Menschen gemacht haben. Um es kurz zu sagen, der Aufbau von Strukturen erfordert sehr viel Zeit, zerstören lassen sie sich dagegen nur allzu schnell. Das sollten Sie bedenken. Den Park in seiner heutigen Form wird es nicht länger geben. So oder so. Aber lassen Sie ihn auf seine Art und Weise sterben. Ich bin mir der Tragweite meiner Empfehlung bewusst. Ich rate Ihnen, am gegenwärtigen Zustand nichts zu ändern. Machen Sie den Park nicht zugänglich. Stellen Sie sich doch einmal die Neugierigen vor, von denen der Park überschwemmt würde. Die ganze Welt der Mädchen und Frauen, die heute darin leben, bräche zusammen. Saß ich auch nur vor Monitoren, so empfand ich doch oft genug etwas von ihrem Glück. Zweifellos würden die Frauen durch eine Öffnung in ein tieferes Unglück stürzen als all die ans Unglück gewöhnten, zu denen auch ich mich zähle. Öffnen Sie den Park nicht. Warten Sie solange, bis die letzte der Frauen gestorben ist. Wie oft habe ich Sie doch sagen gehört, das Unternehmen sei sich seiner Verantwortung bewusst. Es produziere keine Autoteile, sondern Menschen, die künftige Gesellschaft. Denken Sie an Yo. Geben Sie ihr einen Platz, übertragen Sie ihr Verantwortung. Entschuldigen Sie sich bei ihr.“
„Sie sagen also nein.“ „Ich sage NEIN.“


Anmerkungen
Handschriftliche Randnotizen, eingelegte Notizblätter sowie Anmerkungen des Herausgebers. Letztere sind in eckige Klammern gesetzt.

[1] [Denis Diderot, „Das Paradox über den Schauspieler“.]