Kaffeesatzsammeln  
als Betrachtungsübung   







Beginnen wir also mit 3 Tonbandgeräten im Garten Eden. T-1 ist Adam. T-2 ist Eva. T-3 ist Gott, der seit Hiroshima die miese Gestalt des hässlichen Amerikaners angenommen hat. Oder auf unsere urgeschichtliche Szenerie übertragen: T-1 ist der männliche Affe in hilfloser sexueller Raserei, während ihm der Virus die Kehle zuschnürt. T-2 ist der winselnde weibliche Affe, der auf ihm reitet. T-3 ist DER TOD.
William Burroughs, Die elektronische Revolution




Lachen Sie nicht! Meine im Augenblick leidenschaftlichste Tätigkeit besteht darin, jenen Kaffeesatz zu trocknen und in Kübel zu kippen, den Krankenschwestern einer onkologischen Station für mich sammeln. Es bleibt eine feinkörnige, stumpfbraune Masse. Ihr Geruch, bestenfalls eine vage Erinnerung an Kaffee. Ich entdeckte diese Leidenschaft, als ich mir eingestehen musste, dass ich mehr Geld für meine Texte ausgebe als ich dafür einnehme. Kurz, meine Arbeit ist nicht nur sinnlos, sie ist, sitzt man stundenlang vor dem Bildschirm, mit Rückenschmerzen verbunden; der erhöhte Bedarf an Coffein wirkt sich auf den Magen, die beim Schreiben gerauchten Zigaretten auf die Lunge, das abends beim Schreiben getrunkene Bier neben anderen Organen auch auf das Gehirn aus. Die Arbeit eines Schriftstellers ist eine ungesunde Tätigkeit, und sofern er sich wie ich mit den Niederungen menschlichen Lebens beschäftigt, weckt sie zudem noch Zweifel an der Welt und drückt die Stimmung.

In einem Zustand solcher Nüchternheit erschien mir das Sammeln von Kaffeesatz als erstrebenswerte Alternative, nicht zuletzt deshalb, weil es keinen Zweifel am fehlenden Sinn dieser Tätigkeit und somit auch keine Enttäuschung geben kann. Als kontinuierliche Beschäftigung wirkt diese Betätigung entlastend. Sie strukturiert den Tag und macht die erbrachte Leistung sichtbar. Im Gegensatz zum Schreiben ist das Trocknen von Kaffeesatz keine besonders anstrengende Tätigkeit. Mögen die Krankenschwestern noch so viel Kaffee trinken, so sind täglich dennoch nur wenige Handgriffe nötig. Die gefüllten Filter sind aus einer Plastiktüte zu nehmen und auf Backblechen und Tabletts (Edelstahl; Gravur: Flughafen Pressburg; offensichtlich Diebesgut aus der NS-Zeit) zu legen, ab und zu zu wenden. Was die vielen Formen von Feuchtigkeit anlangt, eine sehr sinnliche Erfahrung. Kaffeesatz bedarf einer genauen Trocknung. Selbst die kleinste Restfeuchte führt zu einem Schimmelpilzbefall.

Ohne dass ich es wusste, hat mir die Beschäftigung mit dem Kaffeesatz der onkologischen Station ein großes Feld gedanklicher Assoziationen geöffnet. "Kaffeesatz lesen" - das ist die Kunst, im Unsinnigen, in der zufälligen Ordnung Künftiges zu erkennen. Früher gab es Experten, die es verstanden, etwa anhand verschiedenster Zeichen der Leber eines Opfertieres den Verlauf eines Vorhabens zu sehen. Heute bedarf es keines Opfertieres mehr, keines Tötungsaktes. Die moderne Eingeweideschau geschieht mit bildgebenden Verfahren. Computertomographen, Satellitenaufnahmen, Aufklärungsflugzeuge, Bildschirme. Aber der Tod ist auch hier allgegenwärtig. Die Vorhersagen scheinen trotz aller Technik nicht wesentlich aussagekräftiger geworden zu sein.

Kaffeesatz als konkrete Substanz bezeichnet, was sonst unsichtbar bliebe. Seine Gestaltlosigkeit kommt dem ebenso entgegen wie seine Nutzlosigkeit. Kaffeesatz ist Abfall, den es zu entsorgen gilt. Es muss nicht eigens erwähnt werden, die Arbeit von Krankenschwestern ist belastend, insbesondere wenn sie auf einer onkologischen Station beschäftigt, tagtäglich mit Sterbenden und ihren Angehörigen konfrontiert sind. Kaum jemand vermag ihre Arbeit zu sehen. Die Arbeit von Krankenschwestern hinterlässt wenig Spuren. Ihre Leistungen werden in der Regel, mag das Engagement noch so groß sein, als etwas Selbstverständliches wahrgenommen. Das "Trinkgeld", welches Angehörige nach einer Entlassung oder nach einem Todesfall in die "Schwesternkasse" geben, wird dafür verwendet, Kaffee zu kaufen. Kaffeepausen sind für das Pflegepersonal Momente der Selbstregeneration, Verschnaufpausen in einer Arbeit, der genaugenommen kein Mensch je gerecht zu werden vermag. Oft ist es nicht einmal möglich, die gesetzlich vorgeschriebenen Pausen einzuhalten oder während eines zwölf Stunden dauernden Dienstes zu Mittag zu Essen. In den Kaffeepausen findet sich eine der wenigen Möglichkeiten, von der Vorderbühne auf die Hinterbühne zu treten, Druck abzulassen, über nörgelnde Patienten oder inkompetente Ärzte zu schimpfen. "Kaffeesatz" - Gesprochenes, Sprechendes. Allein in diesem Zusammenhang erscheint mir das gesammelte Material als nahezu kostbar. Es ist das konkreteste Ergebnis der Arbeit von Krankenschwestern. All ihre Anstrengungen und Kränkungen verdichten sich in dieser wertlosen Masse. In einer Zeit von knapp fünf Monaten ist die erstaunliche Menge von 17,3 Kilogramm zusammengekommen.

Was sich in den Kübeln als trockene Masse anhäuft, ist für mich Ausdruck dessen, was die Krankenschwestern der onkologischen Station seit Mitte November des letzten Jahres bis auf den heutigen Tag investiert, erfahren oder auch empfunden haben. Es wäre wohl noch einiges hinzuzufügen, nehmen es doch einige mit dem Sammeln nicht so genau, andere werfen wiederum manchen Kaffeefilter aus Unachtsamkeit zum "normalen" Mull. Aber kein Zweifel, angesichts von soviel getrocknetem Kaffeesatz denke ich nicht an, vielmehr sehe ich Handgriffe, ich rieche den Geruch von Medikamenten, Putzmitteln, Schweiß und Kot, ich sehe Augen, sei ihr Blick nun suchend, fragend, bittend, vorwurfsvoll, dankend oder stumpf, ich sehe Tränen, auch verschluckte, ich höre Worte, die sich schon im Mund geformt haben, aber nie ausgesprochen wurden, aber auch plötzliche sprachliche Entladungen. Was sich hier anhäuft, ist Verschleiß an anderer Stelle, verweist auf die nachlassende Konzentrationsfähigkeit oder auf abgenützte Bandscheiben. Ein geschriebener Text, zumal er gedruckt ist, vermag sich besser zu behaupten als das gekonnteste Drehen und Wenden eines bettlägrigen Patienten. Schon wenige Stunden später gilt es, ihn wieder neu zu betten, zu waschen, ihm Speisen zum Mund zu führen, ihm zuzuhören. Aber was bleibt schon von einem Text, ist man gezwungen, kaum dass man ihn begonnen hat, an einem anderen fortzuschreiben. Die Antwort auf die Frage nach dem Produkt lautet einfach Papier, Anschläge, Abfall.

Dostojewski hat sich in seinen Aufzeichnungen aus einem Totenhaus mit dem Sinn menschlicher Arbeit beschäftigt: "Ich habe mir einmal überlegt: Wollte man jemand völlig zermalmen und vernichten, ihn auf das schrecklichste bestrafen, so sehr, dass selbst der grässlichste Mörder vor dieser Strafe zittern und Angst bekommen würde, so brauchte man seiner Arbeit nur den Charakter absoluter, vollkommener Nutz- und Sinnlosigkeit zu geben. [...] Zwänge man ihn beispielsweise, Wasser aus einem Zuber in einen anderen zu füllen und von dem wieder zurück in den ersten oder Sand zu zerstampfen oder einen Haufen Erde von einer Stelle zu einer anderen zu schleppen und dann wieder zurück - ich glaube, er würde sich nach wenigen Tagen aufhängen oder tausend Verbrechen begehen, um sich wenigstens durch den Tod von dieser Erniedrigung, Schmach und Qual zu erlösen."

Die Lust an der Arbeit wird an die Vorstellung von Künftigem genährt. Der Gefangene denkt an ein Leben nach seiner Entlassung oder der gelungenen Flucht. Sinn bedarf der Vorstellung des Ausgangs wie der Rückkehr. Wer schreibt, phantasiert, das Formulierte werde auf fruchtbaren Boden fallen, da und dort ein Eigenleben führen. Auf Umwegen sollen die Früchte der Arbeit wieder in die eigene Tasche gelangen. Letztlich hofft der Arbeitende auf Fruchtbarkeit, auf magische Vermehrung. Ein schöner Garten muss üppig sein, Früchte und Samen tragen. Wir vermöchten nicht zu leben, gäbe es nicht die Vorstellung, die über das Heutige hinauswiesen. Eine onkologische Station, es gibt wohl kaum einen Ort, an dem das eine so bizarr auf das andere trifft. Überbordende Zukunftshoffnungen neben dem Verlust all solcher Gedanken, zurückgeworfen auf das Ringen um Atem.

Die unsinnigste Tätigkeit wird dann zu einer sinnvollen, wenn jene, die sie verrichten, einen Sinn darin zu sehen vermögen. Ohne Zweifel ist es sinnvoller, sich wochenlang - einen Text schreibend - mit einem gesellschaftlichen Problem zu befassen, als Kaffeesatz zu trocknen. Dennoch erscheint mir Zweiteres im Augenblick sinnvoller, als Texte zu schreiben, die mir bestenfalls ein spärliches Auskommen erlauben, und die letztlich nur dazu beitragen, einen Mahlstrom an Informationen aufrechtzuerhalten, im dem sich das eine durch das andere nicht viel anders aufhebt, als würden die beiden Pole einer Batterie kurzgeschlossen.

Als ich vor Monaten mit dieser Tätigkeit begann, zeichnete sich mit dem Truppenaufmarsch am Golf bereits ab, dass es trotz aller UN-Inspektoren diesen Krieg geben wird. Wie ist heute die Arbeit der Soldaten zu definieren? Militärstrategen denken an Funktionen und Leistungen, sie denken an jene Voraussetzungen, die notwendig sind, um diese zu ermöglichen. Der einzelne Soldat vermag allerdings nur dann wirklich zu "funktionieren", wenn er die in ihn gesetzten Erwartungen sinnhaft zu besetzen weiß. Dies verbindet ihn mit Dostojewskis Gefangenen. Auch hier ist nach dem Ergebnis der Arbeit und möglichen Äquivalenten zu fragen. Der Kaffeesatzsammler ist nüchtern genug. Er denkt nicht an "Befreiung" oder ähnliches. Ihn beschäftigt Konkretes. Getrunkener Kaffee, weggeworfene Tüten, abgefeuerte Marschflugkörper, abgenützte Ketten, ausgebrannte Panzer, unbrauchbar gewordene Luftfilter, zersplitterte Scheiben, zerstörte Gebäude, verdorbenes Essen, verbrauchtes Toilettenpapier, Landebahnen mit Löchern, Fensterscheiben, Tassen, Kinderwägen, zerschmetterte Oberschenkel, durchtrennte Nerven, unnütz gewordene Gedanken, Bezeichnungen, die ihren Sinn verloren haben. Jeder Krieg ist an der Zerstörung und Entwertung geleisteter Arbeit, an toter Arbeit, an tödlicher Arbeit zu messen. Im Augenblick erleben wir, dass sich die Technik trotz all der in sie gesetzten Erwartungen als höchst krisenanfällig erweist. Abgeschossene Hubschrauber und Kampflugzeuge, irregeleitete Marschflugkörper und Geschosse. Dabei vergessen wir, dass wir - wenn auch auf völlig andere Weise wie die unmittelbar Betroffenen - Teil eben dieser Narration sind. Auch wir denken in Zeit- und Wegstrecken, fiebern dem Ende der Geschichte entgegen. Ein Stocken des Fortgangs, die Wiederholung ähnlicher Ereignisse: schon erleben wir Langeweile. Die technologischen Möglichkeiten, seien es die des Krieges oder die der Berichterstattung, vermögen den Blick nicht nur zu schärfen, Unsichtbares sichtbar zu machen. Sie verstellen den Blick auf die Wirklichkeit auch gründlich. Die Tatsache, dass Soldaten in erschreckend hoher Zahl Opfer eigener Verbände werden, belegt dies ebenso wie Bilder, die wir nur allzuschnell für die Wirklichkeit halten, obwohl sie die Realität nur bedingt abzubilden vermögen. Heute misstrauen viele Menschen dem Wirklichkeitsgehalt medial vermittelter Bilder. Sie denken an Zensur oder Propaganda und vergessen dabei, dass das Medium selbst vielfältigste Verzerrungen bedingt. Brecht notierte, die Lage werde dadurch so kompliziert, "dass weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität' etwas über die Realität" aussage. "Eine Fotografie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht." Will man möglichst wenigen Täuschungen verfallen, dann ist es notwendig, das Nahe mit dem Entfernten zu verschränken, etwa die Frage nach dem Produkt von Soldaten etwa an jenem von Krankenschwestern abzuhandeln. Da wie dort geht es um die Versprechungen der Technik, da wie dort geht es um Termine und Zielsetzungen, letztlich um Fragen der Narration wie des Überlebens. Man kann sich der Obszönität des Krieges nur widersetzen, wenn man die vorgegebenen Regeln der Rezeption bricht, Fernsehbilder ohne den Ton betrachtet oder umgekehrt, kleinste mediale Abfälle zusammenträgt, eine Nachrichtensendung der vorletzten Woche betrachtet und so fort. Soldaten kennen kein Trinkgeld, ihnen werden keine Tortenstücke überreicht. Beutegut entschädigt sie für das eingegangene Risiko und erlebte Entbehrungen, und mag sich das Beutegut nur noch in der Negation finden, in der Zerstörung der Arbeit anderer.

Das Ideal des modernen Krieges liegt in Fernwirkungen. Nicht länger soll der Soldat das Weiß im Auge seines Gegners sehen. Marschflugkörper, exakt auf ein bestimmtes Ziel programmiert, Geschosse, die satellitengesteuert ihr Ziel erreichen. Der Soldat, auf sicherem Terrain vor einem Bildschirm sitzend. Die Erfahrung lehrt, dass auch der moderne Krieg so nicht möglich ist. Nur hier kennt das Konkrete in den Erfahrungen der Kämpfenden wie jener, die zwischen die Linien geraten, seine Entsprechungen. Vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges schrieb William Burroughs seinen Essay Die elektronische Revolution. Seine Anleitungen zur subversiven Rezeption enden mit einem bösen Plädoyer für die Rückkehr zum Konkreten: "Warum sparen wir in unserem Verteidigungshaushalt nicht eine Menge ein und verlegen uns wieder auf Flinten mit Feuerstein - und Luntenschlössern. Auf Schwerter, Rüstungen, Lanzen, Pfeil und Bogen, Speere, Steinäxte und Keulen? Warum nicht weiter zurückgehen? Warum lassen wir uns nicht wieder Fangzähne und Klauen wachsen, Giftzähne und Stachel, Hackschnäbel und Saugnäpfe und Stinkdrüsen und tragen es im Sumpf um die Ecke aus?"

Kriegführen im Sumpf um die Ecke, das wäre ein menschliches Maß. Liveübertragungen von Bombardements, mögen wir sie noch so beklagen, sind Entsprechungen von Geschossen, die ihre Bombenlast über tausende von Kilometern tragen, sie entsprechen Entscheidungen, die das Schicksal von Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel betreffen. Das traurige Schicksal von Menschen gilt es zu beklagen. Aber es wäre eine Lüge, würde ich behaupten, dies wäre mir bei nur einem Opfer möglich. Blutflecken und verstümmelte Körper führen in die Irre. Man muss sich mit der leichtfertigen Zerstörung von Arbeitsvermögen beschäftigen, was lange vor dem ersten Schuss beginnt. Man muss neben vielem anderen zur Kenntnis nehmen wie leicht Politiker nicht nur den Tod vieler Menschen in Kauf nehmen, sondern kaum Probleme damit haben, dass abertausende von jugendlichen Erwachsenen traumatisiert aus diesem Krieg zurückkommen werden.

Das Sammeln von Kaffeesatz oder andere Bemühungen, der Katastrophe etwas entgegenzusetzen, mögen zwar ohnmächtige Gesten sein, aber sie sind konkret. Sie wenden sich gegen die Verhäuslichung des Krieges auf Wohnzimmerformat, in der jeder glaubt, noch so komplexe Sachverhalte oder den Fortgang des Konflikts erklären zu können. Scheinbar sinnlose Gesten wie das Sammeln von Kaffeesatz können dazu beitragen, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, die Dinge anders als behauptet zu sehen. Es sind Betrachtungen im eigentlichen Sinn, Betrachtungen, die unserer Medienwelt vollkommen fremd sind. Noch vor wenigen Wochen fehlte dieses Bild. Lasse ich heute Kaffeesatz durch meine Finger gleiten, dann denke ich manchmal, ist er noch feucht, an Erde, ist er getrocknet, an Sand, an Wüstensand. Es fällt nicht schwer, an Felder zu denken, die verseucht sein werden. Wie ich unfähig bin, die im Kaffeesatz enthaltenen Insektizide oder Pestizide wahrzunehmen, so wird sich die Verseuchung des Erdreichs nur indirekt mitteilen.

Im Frühjahr, um die Zeit der Kirschblüte, wird der gesammelte Kaffeesatz im Garten entsorgt. Alle organischen Abfälle, sind sie entsprechend aufbereitet, verdaut dieser Garten innerhalb kürzester Zeit. Für eine NZZ benötigt er gerade einmal drei Wochen. Auf jeden Fall hat ein Garten deutlich weniger Verdauungsprobleme als wir Menschen. Wie der Kaffeesatz während des Trocknungsvorganges den größten Teil seines Gewichtes und vielleicht 60 % seines Volumens verliert, so schrumpft die verbleibende Menge, bringt man sie in den Garten ein, noch dramatischer. Am Ende des Verrottungsprozesses, bei dem der größte Teil der Masse als CO2 in die Atmosphäre entweicht, bleibt vielleicht nur 0,5% jener Masse, die ich anfangs auf Backbleche zum Trocknen legte. Nebenbei begreift man, wie vieler Millionen Jahre es bedurfte, bis sich eine Humusschicht bilden konnte. So betrachtet beginnt man sich im Weltgefüge neu zu denken, begreift sich als abfallverwertende Mikrobe (was ist Schreiben anderes als nach Angriffsflächen des Lebendigen zu suchen, sich daran zu weiden und im besten Fall die Ausscheidungsprodukte zu kunstvollen Gebilden zu formen, nicht viel anders als dies die einfachsten Schimmelpilze tun), kann man nicht länger darüber hinwegsehen, dass wir potentielle Opfer des Einverleibung sind, bieten wir nur genügend wunde Stellen. Alle Lebenskunst besteht darin, andere zu nähren, ohne selbst verzehrt zu werden, ohne auszutrocknen oder zu verbluten. Dies gelingt nur selten. Worin besteht die Lebenskunst des Soldaten?

Ein Garten, das unterscheidet ihn von allen höheren Lebewesen, mag zwar gefrässig sein, fehlt es ihm aber an Nahrung, dann gibt er sich sehr genügsam. Ein Garten gedeiht oder gedeiht nicht. Narration im eigentlichen Sinn ist ihm fremd. Ein Garten reagiert, Antworten vermag er keine zu geben. Jede Narration bedarf wechselseitiger Bezugnahmen. Heutige Rezipienten verdauen in der Regel Informationen nicht viel anders, als dies eine Erdschicht mit allen möglichen Dingen tut. Da helfen auch alle Umfragen nichts, in denen die Seher angehalten werden, durch die Wahl einer bestimmten Nummer ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen: "Glauben Sie, dass der Krieg kurz oder lang dauern wird. Wenn ja, dann wählen Sie ..."

Dieser Krieg wird in der Menschheitsgeschichte ein wichtiges Datum sein. Es wird zwar viele Bücher geben, aber keinen Chronisten wie Thukydides, der das Drama zu analysieren wüsste, mehr noch, einen Feldherrn, der nicht nur um Verschränkungen weiß, sondern seinen Gegnern Verstand und Gefühl zubilligte. Thukydides, Vorbild für den Kaffeesatzsammler und subversiven Rezipienten. Er wusste um die Folgen öffentlichkeitswirksam präsentierter Bilder. Aber es konnte ihn nur geben, weil es nicht an geduldigen Zuhörern mangelte, die den Inhalt des Dramas, nämlich den Untergang Athens, nicht nur beklagen, sondern auch verstehen wollten. Auch während des Peloponnesischen Krieges fanden viele Ereignisse fernab statt. Nachrichten erreichten Athen manchmal erst nach Wochen oder gar nach Monaten. Es bedurfte also des Berichts wie der Erzählung. Liveübertragungen machen jede Erzählung unmöglich. Letztlich lassen sie jedes noch so schreckliche Ereignis trivial werden. Wir erzählen nicht, wir sind Teil einer Narration geworden, die uns zu ihren Mitspielern macht. Heute wäre Thukydides wohl dazu verdammt, Kaffeesatz zu sammeln oder sich einer anderen scheinbar absurden Tätigkeit hinzugeben.

In einer Ecke ist mein Bett aus Laub und Farnen. Daneben ein Gestelle mit ein paar Büchern: die Dichter und die heiligen Schriften. Dabei steht eine Harfe und eine Laute. Rings um mein Haus ist Wald, nur gegen Westen zu ein Blick ins Tal. Wenn ich zu traurig bin, um zu lesen, oder wenn meine Augen nicht mehr lesen können, da ist keiner, der mich aus meiner faulen Ruhe stören, kein Freund, dessen Gegenwart mich beschämen könnte. Ich habe nicht die Regel des Schweigens auf mich genommen, aber so allein wie ich lebe, da habe ich zu sprechen fast verlernt [...] Wenn der Hirsch furchtlos vor meiner Hütte verweilt und mich ruhigen Auges anblickt, da fühle ich, wie weit weg ich bin, wie fern der Welt. Nur für eine kleine Weile, dachte ich, würde die Hütte mein Haus sein, nun sind darüber Jahre vergangen, und sie ist mit mir alt geworden. Sie ist klein, doch des Nachts habe ich ein Lager, darauf zu schlafen, des Tags eine Matte, darauf zu sitzen. Sie hat alles, was ein Mensch braucht. Und hat sie nicht zu viel? An einem ruhigen Morgen dachte ich lange darüber und fragte mich, ob ich so würdig lebe oder in Eitelkeit oder aus Angst vor meinen Begierden. Mein Herz, das ich fragte, gab mir keine Antwort darauf.
Hojoki, Tagebuch aus meiner Zelle


Seit Tagen plage ich mich nun schon, eine Formel zu finden, mit der sich die Arbeit des einzelnen Soldaten in der Gesamtmaschinerie bestimmen ließe. Ich bin kläglich gescheitert. Die Probleme beginnen bei der Frage der Zeit (sind Rauchpausen als untätige Zeit zu begreifen?), sie setzen sich fort bei den abgefeuerten Geschossen (manche geben keinen einzigen Schuss ab) bis hin zu den verzehrten Essensrationen. Nahezu endlos ist das Feld von Festlegungen und Zufällen. Keine Formel vermöchte die Komplexität des Zusammenhangs darzustellen. Ergiebiger sind andere Überlegungen. Etwa: Hat die heutige Vorstellung eines "Blitzkrieges" etwas mit Fastfood zu tun? Ich möchte kein einziges der wegen ihres Geschmacks angepriesenen Menüpakete verzehren. Standardisiertes Material. Aufreißen, Aufnehmen, Verdauen, Ausscheiden. Der Soldat isst sein Paket, einverleibt werden soll ein Land. Fastfood auch in der Berichterstattung. Schnelle Nahrung für den täglichen Bedarf.

Geschichtslos ist alle Nahrung. Trotz aller historischen Anleihen haben wir es mit dem Phantasma geschichtsloser Beute zu tun. Jeder Beute wird ihre Geschichte abgesprochen. Dabei bewegt sich der Soldat auf geschichtsträchtigem Terrain. Es würde Bücher füllen, wollte man die wichtigsten der an diesen beiden Flüssen ausgetragenen Schlachten beschreiben. Es ist eine tragische Ironie der Geschichte, dass dieses Land wie kaum ein anderer Fleck dieser Erde Schlachten kennt, in denen auf zahlenmäßige Überlegenheit und neue Waffentechnologieen gesetzt wurde. Die Kriegstreiber lesen keine Bücher. Sie sind in erschreckender Weise ungebildet. Die Räume, in denen sie leben, zeugen von schlechtem Geschmack. Sie wären vollkommen unfähig, auch nur einen jener Texte zu lesen, die man ihnen ans Herz legen möchte. Sie sind weder Gärtner, noch Köche. Wie Priesterkönige der Bronzezeit geben sie sich als gottberufen: Im Todeszeremoniell blühen sie auf. Ihren Einflussbereich machen sie zu einem Totenacker statt zu einem Garten. Da wünsche ich mir goldene Throne herbei, auf denen die heutigen Feldherrn - in Sichtweite zu den kämpfenden Soldaten - das Drama verfolgten. Ganze Bataillone wären damit beauftragt, den Wüstensand zu peitschen, sollte ein Sandsturm das Fortkommen behindern, die Straßen in Ketten zu legen, würde sich der Asphalt den Angreifern nicht entgegenschlagen



Wochen später: Die Geschichte (welche? eine? viele?) nahm ihren Lauf. Nun droht der Krieg im Irak auf der Hitliste der Nachrichten bereits seinen ersten Platz zu verlieren. (Leicht)verletzte amerikanische Soldaten sprechen auf einer Pressekonferenz über Deckung und Flankenfeuer, um sich zu zum Schluss bei den Krankenschwestern und Pflegern zu bedanken.


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