Ist es nicht wie in Dachau und Mauthausen?
Zu den Wehrmachtserfahrungen des österreichischen Publizisten Nikolaus
Hovorka
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"Als ich heute Früh zum Gefängnis kam, sah ich schon von weitem ein gewisses
Lastauto vor der Tür stehen. Polizisten und Soldaten mit Karabinern dabei,
etwa ein halbes Dutzend Mann. Als ich hinkam, fragte mich mein
SS-Unterscharführer scherzhaft: ‚Sie kommen wahrscheinlich, um Verbände
anzulegen.' Und dann weiter: ‚Sie müssen etwas warten.' Drinnen im Wagen
waren schon einige verfrachtet und lagen lautlos und still wie Leichen. Ich
sah nur ihre Schuhsohlen. Gerade wurde einer hinuntergetragen, ein langer,
hübscher Kerl, der schrie und weinte. Er wurde hineingebracht und die
SS-Männer bemühten sich, ihn zum Schweigen zu bringen, was aber trotz allem
nur teilweise gelang. Es war nicht so leicht, alle Gefangenen, die auf der
Liste standen, herauszufinden, weil sie sich beim Namensaufruf nicht
meldeten und ihre Namen nicht sagten. ‚Der Kerl macht uns noch alle übrigen
unruhig', hörte ich. Die Soldaten murrten, weil es so lange dauerte. Der
Unterscharführer fragte mich, ob ich mitfahren wolle. Ich: ‚Warum führt ihr
sie nicht zu Fuß hin?' - ‚Es ist viel schneller erledigt'. Zum Schluss kamen
drei Frauen, unter ihnen Marussja Omeltschenko. Sie wandte sich an den
Hauptscharführer. Offenbar sagte sie, wie ich ihren Gesten entnahm, sie
arbeite doch dort drüben im Lazarett. Er schwankte einen Augenblick,
vielleicht würde sie zurückkehren. Nein, heute würde sie woanders arbeiten.
Sie stieg als erste Frau hinauf, musste sich über die anderen legen. Ich sah
nur noch ihre armseligen Schuhe und die ausgewaschenen Wollstrümpfe. Ich war
zur Seite getreten. Sie hatte mich glücklicherweise nicht gesehen. ‚Sind es
jetzt alle?' Die Rückwand wurde hochgeklappt. Die Bewaffneten stiegen auf
und setzten sich auf den Rand und das Lastauto fuhr los."
An Marussja Omeltschenko gäbe es wohl keine Erinnerung, hätte der
Sanitätsobergefreite Nikolaus Hovorka nicht über sie geschrieben. Marussja
war 25 Jahre alt, als sie mit anderen am 17. November 1943 in Gaissin
erschossen wurde, einzig deshalb, weil sie für den SD als politisch
verdächtig galt. Wie so oft in seiner Zeit bei der Wehrmacht wurde Hovorka
auch hier von seiner eigenen Geschichte eingeholt, war er doch selbst lange
Gefangener, selbst davon bedroht, etwa "auf der Flucht" erschossen zu werden.
Nur wenige Tage nach dem "Anschluss" wurde Hovorka, er war Herausgeber der
im Reinhold-Verlag erschienenen Schriftenreihe BERICHTE, verhaftet. Zum
Verhängnis wurde ihm nicht zuletzt das Buch "Zwischenspiel Hitler" aus dem
Jahr 1932, welches wie andere Schriften der Reihe einen politischen
Katholizismus vertrat und den Nationalsozialismus vehement ablehnte. Nach
der "Machtergreifung" 1933 wurden die BERICHTE in Deutschland verboten, was
den Verlag in finanzielle Schwierigkeiten brachte. In der Folge arbeitete
Hovorka als innenpolitischer Redakteur für die den Christlichsozialen
nahestehende REICHSPOST, wurde Chefredakteur des vom Ständestaat
beschlagnahmten, ehemals sozialdemokratischen KLEINEN BLATTES. Nach seiner
Verhaftung kam er in das KZ Dachau. Im Herbst 1939 wurde er in das KZ
Mauthausen überstellt und dort im Juli 1942 in die Wehrmacht entlassen. Von
einer Entlassung im eigentlichen Sinn, mochte er diese auch herbeigesehnt
haben, konnte freilich keine Rede sein, wechselte er doch bruchlos von einem
Gewaltsystem ins nächste: "Du weißt, man braucht Menschenmaterial,
Menschenmaterial, Menschenmaterial. [...] Wieder in die Niedrigkeit."
Hovorka war zunächst in der Ukraine, dann in Frankreich stationiert. Während
dieser Zeit schrieb er mehr als dreihundert zumeist sehr lange Briefe an
seine Frau Maria. Er war nicht nur ein guter Beobachter, seine
Feldpostbriefe fallen allein schon deshalb aus dem Rahmen, weil sich in
ihnen die Konflikte von KZ-Häftlingen, die aus "politischen" Gründen
inhaftiert waren und später für das Deutsche Reich kämpfen sollten, spiegeln.
Bei der Wehrmacht erlebte Hovorka vieles, was ihm aus Dachau und Mauthausen
bekannt war, allerdings in seltsam verkehrten Rollen. So hatte der ehemalige
Häftling plötzlich selbst Gefangene zu bewachen: "Ich habe den Schlüssel zum
Schuppen bei mir, wo Schaufeln gefasst werden. Bei mir melden sie sich, ich
übernehme sie, teile ihnen die Arbeit zu, halte sie zur Arbeit an, bin für
ihre Leistung verantwortlich, verantwortlich auch dafür, dass nichts
gestohlen wird, dass sie ihre Arbeit bis zu Ende verrichten, dass sie nicht
auf und davon laufen. Und genau wie in Mauthausen hören sie zu arbeiten auf,
sobald man nicht hinschaut. […] Es ist so wie in Dachau und Mauthausen. Nur,
dass ich jetzt Gefangene bewache und zur Arbeit antreiben muss. Die Parole
ist: ‚Bewegung, Bewegung!', genau wie dort und mag es auch noch so sinnlos
sein: Bewegung, Bewegung." An einer Stelle schreibt er, ihn interessiere
alles, was Gefangene betreffe. Auffallenderweise erwähnt er Gefangene oft
mit ihrem Namen, und zwar nicht nur mit ihrem Vornamen. Er muss sich oft mit
ihnen unterhalten haben, so auch mit Marussja Omeltschenko.
In seinen Briefen erwähnt er sie fünf Wochen vor ihrem Tod das erste Mal:
"Ich hole aus dem Gefangenenlager drei zivilgefangene Frauen ab. Ich habe
einen Schein, auf dem steht ihr Name: Omeltschenko Maria, Pazuk Kathrina,
Tekotschuk Helene, das geladene Gewehr geschultert." Beiläufig notiert er:
"Vorgestern sind acht Frauen und sechs Männer erschossen worden.
Wahrscheinlich auch solche darunter, die bei uns Lasten getragen haben." In
den folgenden Wochen erwähnt er Marussja oft, einmal schreibt er, sie tue
ihm so leid, habe sie doch aus irgendeinem Anlass zwanzig auf den Hintern
bekommen. Er kenne das aus eigener Erfahrung. Am Tag vor ihrem Tod notiert
er: "Man muss ihr nichts anschaffen: die Zimmer sind immer sauber
aufgeräumt, gekehrt, aufgewaschen, geheizt; das ‚Kochgeschirr' gewaschen,
die Karbidlampen geputzt, die Schuhe gebürstet, die Wäsche gewaschen. Das
muss eine vorbildliche Hausfrau gewesen sein. Ihr Mann ist seit Jahren in
der russischen Armee und sie hat keine Nachricht von ihm. Zu Hause sind ihre
beiden Kinder bei der Großmutter. Sie ist als politisch Verdächtige im
Gefängnis. Sie hat eine gute Figur, ein sympathisches, immer freundliches,
aber doch schmerzlich lächelndes Gesicht mit schönen Zügen."
Nach Marussjas Erschießung kehrte Hovorka ins Lazarett zurück. Dort
organisierte er für die Gefangenen, die er zu beaufsichtigen hatte,
übriggebliebene Erbsensuppe, auch einen Sack mit Brotresten. Er kümmerte
sich allgemein um die Gefangenen, verhalf ihnen etwa zu Schuhen oder
Strümpfen. Gleichzeitig verhandelte er mit der SS bezüglich der Überlassung
von Gefangenen, und das im Wissen, dass eben diese Männer oder Frauen, die
Bretter oder Steine schleppten, Putzarbeiten oder anderes verrichteten,
bereits am nächsten Tag erschossen werden konnten: "Um mir weiterhin die
Gefangenen zu sichern, die mich so sehr interessieren und deren Verwaltung
mir eine gewisse Bewegungsfreiheit sichert, bemühe ich mich beim SD um
Zivilgefangene. Ich fand dort im Büro die mir so vertrauten SS-Uniformen.
Zwei der SS-Dienstgrade sind sogar Österreicher. Mit großem Entgegenkommen
wurden mir zu den bereits bei mir arbeitenden sieben weitere siebzehn Männer
und Frauen zur Verfügung gestellt. Dies war Sonntag. Heute Dienstag ergab
sich eine Schwierigkeit, weil eine Anzahl der Zivilgefangenen erschossen
werden sollte."
Als Hovorka im Spätherbst 1942 in die Ukraine kam, waren die meisten Juden
bereits ermordet worden. Seine Einheit war schon ein Jahr zuvor in derselben
Gegend und damals maßgeblich an der "Ausrottung" der Juden beteiligt. Er
ließ sich die "Judenerschießung" von Kameraden erzählen. Mit angelegter
Waffe habe man die Juden aus ihren Schlupfwinkeln geholt. Wieder ein Jahr
später schreibt er an Maria: "Ich hätte Dir so viel zu erzählen. Ich sagte
Dir schon, dass unsere Einheit schon vor zwei Jahren einmal hier am selben
Ort war. Gerade zur Zeit, als die Juden ausgerottet wurden, mit einer
Gründlichkeit, die an Mauthausen erinnert, aber wieder andere, sozusagen
farbigere Methoden. Aber es würde zu weit führen. Ich begnüge mich damit,
den Spuren nachzugehen." Ausführlich beschreibt er ein Lager, in dem Juden
zusammengepfercht waren und Zwangsarbeit zu verrichten hatten. Er denkt an
Dachau und Mauthausen, nur dass er hier hinzufügt: "Ist es nicht wie in
Ägypten und Babylonien?"
Hovorka befand sich in einem unlösbaren Konflikt. Einmal schreibt er, es
wäre überaus unangenehm, würde ihm einer der Gefangenen entfliehen, dann
wiederum bedauert er es, Marussja und wohl auch anderen diese Chance nicht
gegeben zu haben. Eines Tages gelang einer Zivilgefangenen die Flucht.
Hovorka hätte es verhindern können. Er sah sie unbewacht herumstehen und
unterhielt sich sogar mit ihr. Aber wäre er an diesem Tag für die Bewachung
der Gefangenen verantwortlich gewesen, zweifellos hätte er ihre Flucht zu
verhindern gewusst: mehr als vier Jahre Dachau und Mauthausen - die
Erfahrungen dieser Zeit hatten sich tief in ihn eingegraben. Dort hatte er
die SS als allmächtige Instanz erlebt, deren Entscheidungen man hinzunehmen
hatte. Und in ähnlicher Weise erlebte er die SS auch während seiner
Wehrmachtszeit.
Die Ukraine muss Hovorka als besonders bedrückend erlebt haben. Während der
Zeit, die er dort verbrachte, schreibt er öfters, er habe Heimweh nach
Mauthausen. Würde er vor die Wahl gestellt, ob er bei seiner Kompanie
bleiben oder für die gleiche Zeit nach Mauthausen zurückkehren wolle, so
würde er sich ohne Bedenken für letzteres entscheiden: "Und wenn es sein
müsste, die doppelte Zeit." Das erstaunt, schreibt er doch an anderen
Stellen wiederholt, während der ersten Monate seiner Internierung in
Mauthausen hätten alle gehofft, vielleicht doch noch einmal nach Dachau
zurückzukommen: "In Dachau herrschte über uns eine satanische Ordnung, aber
es war immerhin noch irgendeine Ordnung. Hier aber herrschte das Nichts, das
alles Leben und alle Menschlichkeit sinnlos in den Abgrund des Todes
hinabriss."
Ende Juni 1943 wurde Hovorka ein Urlaub genehmigt. Und wo dachte er seinen
Urlaub mit seiner Frau zu verbringen? In der Gegend von Mauthausen! Gewiss,
"ein merkwürdiger Wunsch ist es, der mich schon zur Zeit beschäftigte vor
einem Jahr, als ich wusste, dass meine Zeit dort ihrem Ende entgegengeht:
mit Dir diese Gegend zu besuchen, Dir diese Stätte zu zeigen. Wenn meine
Vorgesetzten von damals noch dort sind, würden sie meinen Besuch gerne
entgegennehmen und mich auch mit Dir näher an das Lager heran lassen. [...]
Verzeih mir diesen Traum. Ich vergesse nicht, dass es Träume sind und dass
Deine Pflichten als Mutter meinem Recht als Gatte vorgehen." Später schreibt
er, an die Zeit, da er das "Ehrenkleid des Deutschtums" getragen habe, wolle
er gar nicht erinnert werden: "Sie war die bisher hässlichste meines ganzen
Lebens."
Sicher, seine Situation in Mauthausen hatte sich verbessert. Ganz am Anfang
habe man ihn zu Bauarbeiten, zum Verladen von Brettern und ähnlichen
Verrichtungen herangezogen, kurze Zeit habe er auch im Steinbruch arbeiten
müssen. Mit seinem Wechsel ins Krankenrevier war Hovorka in der
Häftlingshierarchie aufgestiegen und zählte fortan zu den "Prominenten".
Mochte er auch weiterhin vor der Willkür des Wachpersonals nicht völlig
geschützt sein, so konnte er sich doch besser kleiden, besser ernähren. Er
war besser untergebracht und musste nicht länger schwere körperliche Arbeit
verrichten. Nicht zuletzt waren ihm andere Häftlinge dienstbar: "Da hatte
ich meine Leute, die mir die Schuhe putzten, das Essen holten, das Geschirr
und die Wäsche wuschen, das Bett machten."
Bei der Wehrmacht stand er an unterster Stelle, hatte Vorgesetzten zu
gehorchen, die zumeist wesentlich schlechter gebildet waren als er selbst,
die ihre Stellung womöglich dem Umstand verdankten, zu den Illegalen gezählt
zu haben: "Es ist hier wie in Dachau und Mauthausen: Da ist einer ganz arm
und elend herumgekrochen, gerade froh, dass er noch nicht verhungert und
erschlagen ist. Wenn er aber ein ganz kleines Pöstchen erhielt, das ihm eine
Überlegenheit und sei es auch nur über einen einzigen Kameraden verschaffte,
so begann er sich schon aufzuspielen: Leute aber, die als Capo Dutzende, ja
hundert Schicksalsgenossen unter sich hatten, oder als Blockältester,
Schreiber, Schneider, Schuster, Krankenpfleger, Machtmittel in die Hände
bekamen, die wurden ganz große Herren. Ihr Übermut, ihr Stolz, ihre
Brutalität gegen Schwächere, ihre Genusssucht und Gewissenlosigkeit
steigerte sich immer mehr, bis sie eines Tages über irgendein kleines
Hindernis stolperten und dann in einen tieferen Abgrund fielen, als das Loch
war, in das sie sich früher verkrochen hatten. Jetzt kam für sie die Zeit
des Kriechens und Bettelns und sich Demütigens, bis es ihnen nach einiger
Zeit wieder gelungen war, sich irgendwie eine Stufe zu heben. Und dann
begann das Spiel von Neuem." Besonders verhasst war ihm das Appellstehen.
Das erinnerte ihn zu sehr an Dachau und Mauthausen. Aber als er dort seine
"Stellung" erreicht habe, da habe er nicht mehr antreten müssen. Vor allem
habe er in seiner Arbeit einen Sinn gesehen. Nun, bei der Wehrmacht,
erscheine ihm alles sinnlos.
In Mauthausen habe ihm eine innere Rechtfertigung Haltung verliehen. Er habe
darin einen tieferen Sinn gesehen. Trotz aller Misshandlungen, Leiden,
Entbehrungen und Beschimpfungen sei in Dachau und Mauthausen die moralische
Lage klarer, eindeutiger und die Zeit daher leichter zu ertragen gewesen. Im
Lager sei er geblieben, was er war. Jetzt als "Waffenträger des deutschen
Volkes", als "Soldat Hitlers" müsse er für eine schlechte und verlorene
Sache kämpfen, "für den Räuber-Staat", dessen Opfer er in den schweren
Jahren zuvor gewesen war. Er trage jetzt das Kleid derjenigen, die
Verfolgung ausübten.
Schon während seiner Grundausbildung setzte Hovorka alles daran, als
Sanitäter eingesetzt zu werden. Das erschien ihm als einzige Möglichkeit,
den Krieg moralisch zu überstehen. Nach vielen Bemühungen wurde er
tatsächlich zur Sanität abgestellt. Das verschonte ihn allerdings nicht
davor, zu einem Mitakteur in einem schmutzigen Krieg zu werden. Die Einheit,
der Hovorka angehörte, lässt sich anhand des vorhandenen Textmaterials nur
grob skizzieren. An keiner Stelle erwähnt er die Struktur, die
Zusammensetzung oder die Größe der Einheit, nie ihre Bezeichnung. Namentlich
werden nur Personen in untergeordneter Stellung genannt. Aber einige
wesentliche Einzelheiten lassen sich dennoch den Briefen entnehmen. Die
Einheit war nie an der Front eingesetzt, operierte sowohl in der Ukraine als
auch in Frankreich im Hinterland, war, wie es euphemistisch lautete, mit
"polizeilichen" Aufgaben betraut, sie diente also der Partisanenbekämpfung,
wobei es sich beim Begriff "Partisanen" um einen höchst dehnbaren handelte.
In dieses Bild fügen sich die "Hiwis", ukrainische Hilfswillige, die sich
der Wehrmacht oder der SS angeschlossen hatten. Es handelte sich um
berittene Kosakenverbände, die sich durch ihre Beweglichkeit in unwegsamem
Gelände bestens für die Partisanenbekämpfung eigneten. Weiters müssen die
Grenzziehungen zwischen Wehrmacht und SS bzw. SD sehr unscharf gewesen sein.
Immer wieder werden Strafaktionen oder Erschießungen erwähnt. Einmal notiert
er: "Wir sind mehr ein kämpfender Haufen als ein Lazarett. Ich kann es Dir
nur kurz andeuten."
In Feldpostbriefen ließ sich vieles nicht schreiben. Manches lässt sich aber
doch zwischen den Zeilen herauslesen, so etwa all die Konflikte, in denen
sich Hovorka befand, auch die Strategien zu ihrer Bewältigung. Das Überleben
in einem absolut totalitären System wie Mauthausen hatte unterschiedlichste
Anpassungs- und Verarbeitungsleistungen zur Voraussetzung. Eines der
Beispiele findet sich dort, wo die unmenschliche Welt als absurd, als
unwirklich erlebt wird, gleichsam als Theater, in dem man Zuschauer oder
Mitspieler ist, mag die zugedachte Rolle auch den eigenen Tod zur Folge
haben.
"Wenn es mir unerträglich wird, diesen widerlichen militärischen Drill
mitzumachen, dann versuche ich, mir mit der Vorstellung, ich sei auf dem
Theater und hätte verschiedene Rollen zu spielen, das Ganze erträglich und
sogar interessant zu machen. Dann gehen mir die Kommandos besser von den
Lippen und ich freue mich, dass alles so gut klappt, wie ein Regisseur bei
der Theaterprobe. So sehr denke und fühle ich als Zivilist. Und ebenso ist
es, wenn ich die Kommandos anderer ausführen muss. Ich bewege mich wie ein
Schauspieler auf der Bühne und habe dasselbe Interesse daran wie ein
Schauspieler." Hovorka, der in jungen Jahren eine Schauspielschule besucht
hatte und in erster Ehe mit der Burgschauspielerin Friederike Datz
verheiratet gewesen war, befand sich nicht im Theater. Er bewegte sich in
einer grausamen Wirklichkeit. Die Gefangenen spielten ihre Rollen nicht. Sie
waren Gefangene.
Hovorka war sich dessen nur allzu bewusst. Da brauchte er nur an allerorts
angeschlagene Plakate zu denken, auf denen Ukrainer im wehrfähigen Alter
aufgefordert wurden, in deutsche Polizei-Bataillone einzutreten: "Der Führer
ruft euch, weil er euch für würdig hält, mitzuarbeiten an dem großen
Aufbauwerk." An dieses Aufbauwerk glaube Hovorka keinesfalls. Diesem Plakat
stellt er ein anderes entgegen, das den Ukrainern das Betreten der Straße
nach sechs Uhr abends verbot. Und beiläufig fügt er hinzu: "In einem schönen
Aufruf des Gauleiters der Ukraine an die Deutschen in der Ukraine wurde
hervorgehoben, dass 750.000 Ukrainer jetzt in den Arbeitsprozess im Reich
eingegliedert seien und dass der, ich weiß nicht wie viel tausendste Zug mit
Lebensmitteln aus der Ukraine ins Reich gerollt sei." Hovorka sah den
Raubzug, er wusste nur zu gut, was es bedeutete, mit falschen Versprechungen
"ins Reich" gelockt oder einfach verschleppt zu werden, was es bedeutete,
auf diese Weise in den "Arbeitsprozess" eingegliedert zu werden.
Selbst als sein Platz im Lazarett sicher schien, wurde er zu
Partisaneneinsätzen abkommandiert: "Bald hingen rote Feuerfahnen über
einigen Häusern. Geschossen wurde sehr viel. Wir hatten einige Verwundete,
auch schwere, hier ging es noch glimpflich zu. Das nächste Dorf wurde etwa
zu einen Drittel eingeäschert. Im dritten Dorf übernachteten wir und
zündeten es erst am nächsten Morgen an, jene Häuser, wo keine Männer zu
Hause waren. Die nächsten zwei Dörfer wurden zur Gänze restlos den Flammen
übergeben. Ein Hauptsturmführer der SS leitete das Unternehmen dieses
Flügels. Ich will Ihnen die schaurig schönen Einzelheiten dieser Tage nicht
erzählen, wenigstens nicht bei dieser Gelegenheit. [...] Ich denke an die
Frau, die vor ihrem brennenden Haus reglos kniend unablässig betete. [...]
Ich muss an die Frau denken, die Dienstag so entsetzlich schrie, als sie,
gerade als ich vorüberfuhr, an ihr brennendes Haus kam, das sie beim
Weggehen verschlossen hatte und jetzt waren drinnen ihre drei Kinder und man
konnte nicht mehr an das Haus heran. Und dort steht ein junges Mädchen, das
Haus wird gleich angezündet werden."
Und als Hovorka auf seinem Schlitten durch die Dörfer fuhr, die Haus für
Haus in Brand gesteckt wurden, erlebte er sich wie eine "Figur aus Pappe,
die reglos vorn auf der Grottenbahn im Prater durch die Merkwürdigkeiten
fährt, die dem erstaunten Auge gezeigt werden." Es ging nur noch um Raum und
Zerstörung: "Manche trieben uns ihr Vieh zu. Teilweise wirklich schöne
Tiere. Unsere Abteilung allein brachte gegen 150 Stück mit. Nicht gerechnet
die sozusagen privaten Requirierungen." Schafspelzmäntel, die den aus ihren
brennenden Häusern Geflüchteten abgenommen wurden. Mitten im Winter. Auch
Hovorka kam in den Besitz eines solchen. Ein volksdeutscher Reiter habe ihn
ihm zugeworfen. Kurze Zeit später überrollte die Rote Armee diese Gegend.
Während dieser Zeit war Hovorka auffallend häufig unpässlich. Er litt unter
Appetitlosigkeit und einer geradezu unüberwindlichen Müdigkeit. Er fühlte
sich abgeschlagen. Dazu kamen Anfälle von Benommenheit und Schwindelgefühl.
Er musste sich an Wänden anhalten, glaubte, sich sofort niederlegen zu
müssen. Und solche Zustände besserten sich stets nur kurz und kehrten bald
wieder: "Ich glaube, ich bin seelisch krank. Versteh mich recht. Nicht, dass
mein Denken und Fühlen irgendwie abnormal wäre und ungesund. Vielleicht ist
‚seelisch' auch nicht das richtige Wort. Was ich in jenen 4 ½ Jahren
gesehen, gehört, selbst erlebt habe, das hat seine tiefe Spur, das hat seine
tiefen Narben hinterlassen. Ich komme darüber nicht hinweg. Ich habe den
Glauben an die Menschen verloren. So groß und grenzenlos früher mein
Vertrauen zu den Menschen war, so sehr bin ich heute von der Verdorbenheit,
Bosheit und Dummheit überzeugt. Sie stehen alle unter dem Gesetz Satans.
Schon Jaspers, immer etwas zur Schwermut neigend, drückte natürlich meinem
Wesen seinen Stempel auf."
In diesen Monaten verletzte sich Hovorka im Labor mit Salpetersäure: "Das
Gemisch explodierte und spritzte mir ins Gesicht und floss über die Hände.
Glücklicherweise stand ich neben einem Wasserhahn und hatte die
Geistesgegenwart, in der gleichen Sekunde das Gesicht unter den Wasserstrahl
zu halten, so dass die Augen und das Gesicht verschont blieben." Außer dem
scheußlichen Anblick, der wohl noch einige Wochen dauern werde, ein wenig
Schmerzen und der Behinderung durch die starke Anschwellung des Handrückens
habe dieser Unfall keine weiteren Folgen. Zwei Wochen später: Gesundheitlich
gehe es ihm wieder gut, auch wenn eine gewisse Müdigkeit noch an die kranken
Tage erinnere. Er trage die Hand noch im Verband, aber die Wunden seien
schon fast ganz ausgeheilt und es würden kaum Narben bleiben. Wieder zwei
Wochen später erwähnt Hovorka eine Phlegmone, diesmal an der rechten Hand.
Sie stehe am Handrücken noch in schönster Blüte, er trage seine Hand
verbunden. Gleichzeitig erwies er sich als besonders diensteifrig, schleppte
Bretter und anderes, schonte sich nicht. Gut denkbar, dass Hovorka selbst
die Phlegmone zum Blühen gebracht hat. Mit Phlegmonen war er durch seine
Erfahrungen in den Krankenrevieren in Dachau und Mauthausen bestens
vertraut. Ohne jeden Zweifel hat er sich in die entsprechende Literatur
eingelesen. Wenn, dann haben wir es mit einer Selbstverstümmelung zu tun, um
bestimmten Einsätzen zu entkommen. Dass absichtlich erzeugte, selbst
gesetzte Phlegmonen zum Repertoire der Selbstverstümmelungen zählten, legt
allein der Umstand nahe, dass die Wehrmacht, um Simulanten zu erkennen, eine
diesbezügliche Studie in Auftrag gab. Die Versuche wurden an Häftlingen im
KZ Auschwitz durchgeführt.
Wenige Wochen nach der Erschießung Marussja Omeltschenkos beschäftigte sich
Hovorka mit der Frage nach dem Sinn des Krieges. Diese Frage drängte sich
ihm immer wieder auf. Er beantwortet sie mit einem bemerkenswerten Bild: Der
Krieg "ist wie ein Naturereignis über die Menschen hereingebrochen. Man
könnte es mit der Schwangerschaft einer Frau vergleichen. Wenn einmal die
Frau empfangen hat, ist das, was sie zu tragen hat, was sie erwartet, der
menschlichen Willenskraft entzogen. Wir können nichts machen, als tragen,
was uns zu tragen auferlegt ist und warten, bis die Zeit reif ist. Alle
Berechnungen, alle Hoffnungen und Zweifel, alles Klagen und Anklagen, alles
Sich-Aufbäumen, alles Nachgrübeln nützt uns nicht."
Eine Schwangerschaft hat in der Regel Leben zur Folge, Krieg dagegen
zerstört Leben. Statt die Kriegstreiber, die Verantwortlichen zu benennen,
was Hovorka an anderer Stelle sehr wohl tut, sieht er ein Strafgericht
Gottes am Werk: "Dieser Krieg ist eine Gottesgeisel, die über die Menschheit
hernieder gefahren ist. Wir müssen ihn hinnehmen. Keiner von uns weiß, ob er
die Seinen wiedersehen wird, wann er sie wiedersehen wird, ob er in die
Heimat zurückkommt und ob er die Heimat überhaupt wiederfindet. Die
Menschheit ist von Gott abgefallen und Gott lässt nicht mit sich spielen.
Wir haben ein Ereignis über uns heraufbeschworen, über das wir keine Macht
mehr haben. Das Einzige, was wir tun können, ist, dass wir es hinnehmen, wie
es uns auferlegt ist und dass ein jeder von uns an seinem Platz das Beste
tut und gibt, was er tun und geben kann. So ist es besser, nicht nach dem
Ende zu fragen, sondern immer nur nach dem Heute und seiner Aufgabe."
Das heißt in letzter Konsequenz, alles hinzunehmen, was auferlegt ist.
Hovorka betrachtete bereits seine Internierung in Dachau und Mauthausen als
Strafe Gottes für früher begangene Sünden, seinen Abfall vom Glauben. Ganz
abgesehen davon, dass ein solcher Gott rachsüchtig und grausam sein müsste,
werden bei solcher Betrachtung die übelsten Schergen zu Werkzeugen Gottes.
In den Lagern und bei der Wehrmacht wandelte sich der politische zu einem
fatalistischen Katholizismus, zur Umdeutung der grausamen Wirklichkeit zum
Weltengericht, zum Kampf zwischen Gut und Böse: "Ich glaube an den Sieg des
Lichts, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Schönheit. Gott ist stark.
Jetzt treibt er den Teufel vor sich her." Hovorka hat für Marussja und
andere gebetet, vertraute darauf, dass auch sie, die ständig von der
Liquidierung bedroht waren, beten würden.
Das schützte ihn freilich nicht davor, dass in ihm immer wieder eine
unbändige Wut oder ein unsäglicher Hass hochkochte, er vom Gedanken nach
Rache und Vergeltung beseelt war: "Bilder tauchen vor mir auf und die Wut
steigt in mir auf: Männer und Frauen, junge und alte, hohe und niedrige,
werden gequält, gefoltert, grausam zu Tode gebracht." Sein Hass sei zuweilen
unerträglich. Vielleicht sei das die einzig mögliche Haltung. Manchmal sei
es ihm, als könne er sich in den Rahmen, in den er gezwungen sei, innerlich
fügen, als habe er ein tragbares Verhältnis gefunden: "Aber im Grund bleibt
doch nur der Hass übrig gegen diese ganze Lebensform, körperlicher Ekel,
Abscheu, Verachtung und Verneinung und das allein macht mir vieles noch
erträglich. Nur, dass dann manchmal Augenblicke kommen, wo ich etwas
zerschlagen möchte, einen gläsernen Kolben, den ich in der Hand halte,
zwischen den Fingern zerdrücken, dass mir das Blut hinuntertropft, oder den
Erstbesten, der mir in den Weg kommt, auf den Boden schmettern und mit den
Füßen seinen Kopf einschlagen." Aber kaum hat er dies notiert, vermeint er
"das Sündhafte, das schwer Sündhafte" solcher Gedanken zu erkennen. Nicht an
Blut denken! Nicht an Hass. Aber: "Darf man Mit-Leid, Liebe selbst für den
Teufel empfinden? Gegen den Teufel und seine Söhne? Ich weiß es nicht und
will es nicht untersuchen, ob dies nicht schon eine Regung ist, die in die
Nähe der Sünde kommt." All das hatte ihn bereits in Mauthausen beschäftigt,
wo sich seine privilegierte Stellung nicht zuletzt dem Umstand verdankte,
dass er im SS-Revier "höhere SS-Führer" massierte: "Habe ich nicht die
gepflegt, die mich und meine Kameraden quälten? Habe ich nicht alles
Nachdenken, alle Erfinderkraft aufgewendet und immer neue
Behandlungsmethoden erfunden, um denen zu helfen, um die zu heilen, an deren
Händen Blut klebte? Habe ich nicht alle Liebe, die in meinem Herzen war,
ausgeschöpft und sie denen dargeboten, von denen ich täglich sah, dass sie
Werkzeuge des Teufels waren?"
Die viereinhalb Jahre, die er in Dachau und Mauthausen verbrachte, sollten
nicht verloren, nicht vergebens durchlitten sein. Das könnten andere mit
ihrem kleinbürgerlichen Hirn nicht verstehen. Sie meinten wohl, am besten
sei es, das alles aus dem Gedächtnis zu löschen und sich damit zufrieden zu
geben, dass man für sich und die seinen gerade knapp zu essen hat. Er wolle
nicht vergessen, denn das müsste er als Verrat an den Leidenden betrachten.
Was sich im Herzen Europas zutrage oder zugetragen habe, das dürfe man nicht
aus seinem Gedächtnis drängen. Er glaube an den Tag der Vergeltung. Darüber
nachzudenken sei jetzt nicht die Zeit: "Aber dass die Gerechtigkeit wieder
hergestellt werden muss, das muss Tag für Tag unser Bewusstsein erfüllen. Es
muss erst wieder der Boden hergestellt, der Boden erkämpft werden, auf dem
Menschen menschlich leben können."
Dabei kommt er wiederholt auf seine Erfahrungen als Sanitäter zu sprechen:
"Da liegt z.B. ein Neunzehnjähriger: beide Arme und ein Bein amputiert, Tag
und Nacht vor Schmerzen stöhnend. Ein Kind von neunzehn Jahren! Und das ist
kein einzelner. [...] Manche wimmern wie Kinder, manche schreien vor
Schmerz. Wenn doch all dieses Stöhnen, dieser Schmerz, dieses Blut und
dieser Eiter den Verbrechern ununterbrochen vor die Augen träte, die diesen
Krieg angezettelt haben. Aber die sind ja gut geschult im Anblick von
Schmerzen und Menschenjammer, ich habe das in Dachau und Mauthausen selbst
gesehen."
Wenige Wochen nach einem Partisaneneinsatz erhielt er einen Brief einer
Angehörigen, die fürchtete, Wien könnte von den Alliierten, diesen
"Mordbuben", ähnlich bombardiert werden wie viele deutsche Städte. Hovorka
reagierte gereizt. Freilich könne man nicht wissen, "wie weit diese
Mordbuben in ihrem Vernichtungsdrang" gehen würden, zumal wichtige
Rüstungsbetriebe nach Wien verlegt worden seien. Warum sollten sie gerade
diese ruhig weiterarbeiten lassen? "Ja, ja, wir sind in die Hand von
‚Mordbuben' geraten, kein Jahrhundert der Weltgeschichte hat noch so
Grauenvolles verbrochen, erlebt und erlitten, wie das unsere. Noch nie hat
der Vernichtungsdrang solche Orgien gefeiert, die Verachtung von
Menschenglück, Menschenfreiheit, Menschenwürde, von Recht und
Gerechtigkeit." Ein halbes Jahr später reagiert er auf die "Empörung" einer
guten Bekannten in Wien noch deutlicher: "Ich erinnere mich noch an die
Brandschatzungen und Plünderungen, die ich im April sah. An Gott geweihter
Stätte. Und an die langsam zu Tode Gequälten in Dachau und Mauthausen und
der Ukraine und die ‚Welt' ging darüber zur Tagesordnung über. Und wollte
nichts wissen davon."
In den Briefen findet sich eine längere Episode, in der Hovorka seine
Bemühungen beschreibt, einen jungen Franzosen, der sich freiwillig zur SS
gemeldet hatte, von seinem Entschluss abzubringen. Beim Lesen fragt man sich
zwangsläufig, warum er nicht übergelaufen ist. Das konnte er nicht. Er
fühlte sich den Bedingungen, denen er seine Entlassung verdankte,
verpflichtet, obwohl er weder die Ziele der Wehrmacht und schon gar nicht
jene des Hitler-Regimes teilte. Um das zu verstehen, muss man sich in den
Häftling des Frühjahrs 1942 hineindenken. Hovorka wollte unbedingt aus
Mauthausen freikommen. Wie einem seiner damaligen Briefe zu entnehmen ist,
sah er sich unmittelbar gefährdet. Seine Entlassung aus dem "Totenreich"
feierte er fortan als zweiten Geburtstag. Dieses zweite Leben verdankte er
der SS. Wie in Mauthausen hatte er auch bei der Wehrmacht mit der SS zu tun,
da wie dort war sein Leben von seiner Loyalität abhängig. In seinen Briefen
erwähnt Hovorka eine Reihe von Mithäftlingen, die wie er in die Wehrmacht
entlassen worden waren. Sie alle scheinen sich bei der Wehrmacht als loyal
erwiesen zu haben, unter ihnen fromme Leute, auch Priester, manche, die sich
vor dem "Anschluss" mutig den Nationalsozialisten entgegengestellt hatten.
Aber ihre Loyalität hatten sie bereits in Dachau oder Mauthausen unter
Beweis gestellt, waren sie dort doch alle zu Funktionshäftlingen
aufgestiegen, was von vornherein eine Kooperation mit der SS zur
Voraussetzung hatte.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Hovorka auf Desertionen
ablehnend reagierte, so auch auf die eines "jungen Österreichers", den er
als "eidvergessenen Abenteurer" bezeichnet. Wenige Tage später, Ende August
1944, wäre der Krieg für Hovorka beinahe zu Ende gewesen, ausgerechnet bei
einem Angriff der Résistance, der er durchaus Sympathie entgegenbrachte,
kurz bevor sich seine Einheit fluchtartig aus Lons-le-Saunier zurückzog.
Auffallend sein Verhalten während des Angriffs: "Ich legte mich unter das
Bett, um nicht gleich entdeckt und niedergeschossen zu werden. Denn die
Schüsse fielen so nahe, dass mindestens schon beim Tor des
Verwaltungsgebäudes hereingeschossen werden musste. Ich warf die Waffe weit
von mir ins Zimmer, denn Widerstand schien ausgeschlossen zu sein. - So lag
ich auf dem Bauch unter dem Bett. Die Tür wurde aufgerissen und nach mir
gerufen. Ich meldete mich nicht. Auch nicht, als ein zweites Mal mit einer
roten Taschenlampe hereingeleuchtet wurde." Als sich die Partisanen, ihr
Angriff war wohl schlecht vorbereitet, zurückzogen, kroch Hovorka unter dem
Bett hervor, nahm seine Waffe, setzte sich den Stahlhelm auf, verließ
vorsichtig das Zimmer und kehrte zum Truppenverbandsplatz zurück, um sich
wieder in die ihm zugewiesene Rolle zu fügen. Die erlebte Zerrissenheit
macht etwa folgende Eintragung deutlich: "Heute war wieder einmal
Waffenzähl-Appell. Wir standen in Reih und Glied. Ich stellte mir vor, wie
es wäre, wenn ich jetzt plötzlich jemand niederschießen würde. Mit Macht kam
mir dieser Gedanke und ganz lebhaft. Und dann wieder stand ich da, wie
einer, der erschossen werden sollte. Es war keine Angst mehr in mir. Nur ein
süßes, schmerzliches Gefühl, jetzt alles überwunden zu haben, über alles
hinausgewachsen zu sein, Abschied zu nehmen."
Wer wie Hovorka so lange in Konzentrationslagern interniert war, hatte einen
diabolischen Lehrplan durchlaufen, Verhaltensformen entwickelt, die auch
nach der Entlassung wirksam waren, und dies umso mehr, als ja die Wehrmacht
in vielerlei Hinsicht Lagererfahrungen ins Gedächtnis rief. Das macht nicht
zuletzt Hovorkas Umgang mit Kameraden oder Vorgesetzten deutlich. Um seine
Situation zu verbessern, investierte er systematisch in Kontakte. Das begann
bei kleinen Geschenken und Gefälligkeiten und reichte hin bis zur
Befriedigung narzisstischer Wünsche. Dabei kam ihm seine Erfahrung als
Masseur zustatten. Auch konnte er dank seiner Privatapotheke, in der er etwa
Mitigal, Pervitin oder Opium gegen Durchfallerkrankungen bei sich führte,
diese oder jene Beschwerden behandeln. Das Vertrauen anderer erwarb er sich
nicht zuletzt durch seine Begabung, anderen zuzuhören, von anderen ins
Vertrauen gezogen zu werden. Durch "Beweise erhöhter Dienstbereitschaft"
suchte er sich die Unterstützung seiner Vorgesetzten zu sichern. So hatte er
sich in Mauthausen nicht nur das Wohlwollen des Lagerapothekers erworben.
Wie in Dachau und Mauthausen erlebte er sich auch bei der Wehrmacht in einem
permanenten Zustand höchster Unsicherheit und Gefährdung. Gelang es ihm,
eine bevorzugte Stellung einzunehmen, die ihn vor bestimmten Einsätzen
verschonte oder ihm kleine Privilegien gewährte, etwa nicht in einem
Massenquartier schlafen zu müssen, dann fürchtete er die Missgunst seiner
Kameraden. Höchst sensibel registrierte Hovorka auf kleinste Veränderungen,
die seine Position, letztlich seine Sicherheit gefährden konnten. All das
hatte er in Mauthausen trainiert. Und wie dort sah er sich bei der Wehrmacht
in einer Zwangsgemeinschaft: "Oh, wie ich diese Masse Männer, in der ich das
fünfte Jahr schon zu leben gezwungen bin, verabscheue … kein einziger, mit
welchem man ohne Maske reden könnte. Sonst alles gute Kerle, aber roh,
primitiv, fremd, fremd, fremd." Wiederholt schreibt er, dieser oder jener
sei ihm ein "bester Freund". Aber keinem von ihnen erzählte er von seiner
Internierung.
Sein Verhältnis zu Vorgesetzten, deren Unterstützung er nicht zuletzt durch
"Beweise erhöhter Dienstbereitschaft" zu gewinnen suchte, blieb dabei stets
ambivalent. Den "väterlichen Freund" erlebte er schnell als jemanden, der
ihn ins Verderben zu stürzen drohte. Seinen "Chef", "ein Fall für Gugging,
aber allen Ernstes", muss er sehr gefürchtet haben. Saß dieser im
Offizierskasino, so mied Hovorka die Küche, um nicht von ihm überrascht zu
werden. Wurde er zum "Chef" zitiert, hatte dies Panikgefühle zur Folge.
Dabei dachte dieser vielleicht nur an einen "weltanschaulichen" Vortrag. Es
entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Hovorka, der wegen des von ihm
herausgegebenen Buches "Zwischenspiel Hitler" interniert worden war,
weltanschauliche Vorträge vor Offizieren, unter ihnen auch SS-Angehörige, zu
halten hatte: "Wofür kämpfen wir?" oder "Weltanschauung des
Nationalsozialismus". Sich dieser Absurdität nur zu bewusst, übte er sich in
Doppeldeutigkeiten oder Übertreibungen. Gleichzeitig, und das ist nur auf
den ersten Blick ein Widerspruch, fühlte er sich geehrt, lobte der Chef
seinen Vortrag: "Er, der nie lobt, immer nur auszusetzen, zu nörgeln und zu
tadeln versteht: aus NS-Grundsätzen, um damit die Leute anzuspornen." An
anderer Stelle schreibt er, er fühle sich zu ihm hingezogen, auch bilde er
sich ein, dass der so Gefürchtete ihm nicht übel gesinnt sei. Der "Chef",
Hovorka erwähnt nie seinen Namen, auch nicht seine SS-Zugehörigkeit, konnte
mittlerweile identifiziert werden. Es handelte sich um den SS-Oberführer Dr.
Walter Lichtschlag.
In Dachau und Mauthausen konnte Hovorka mit manchen Mithäftlingen offen
sprechen. Trotz der extremen Konkurrenz erlebte er in den Lagern so etwas
wie Kameradschaft: "Nun, ich will nicht leugnen, dass ich in Mauthausen
einige Male in unmittelbarer Lebensgefahr war. Das eine Mal, als eine
Alkoholsache hoch ging, bei der ich, der ich damals in völlig ausgehungertem
Zustand ins Revier kam, Alkohol gegen Wurst, Brot und Suppe eintauschte.
Wenn damals der Wiesbauer Ederl, als er gemartert wurde, meinen Namen als
Bezugsquelle genannt hätte, wäre ich wahrscheinlich mit dem Leben nicht
davongekommen. Schlimmer war es bei einer anderen gleichen Angelegenheit,
bei der es zwei Tote gab; auch damals haben die Kameraden geschwiegen,
insbesondere jener Hamburger Zimmerälteste mit dem dicken Kopf, der die
Sache überlebte, und der Blockschreiber, bei dessen Obduktion ich Protokoll
führte! Am schlimmsten aber war es, als die Sache mit der Häftlingskammer
hochging. Ich war auch irgendwie damit verwickelt, weil ich mir durch die
Vermittlung von Paur wissenschaftliche medizinische Bücher angeschafft und
auf dessen illegales Konto von Maria für diesen Zweck Geld einzahlen
gelassen hatte. Paur ist vor meinen Augen im elektrischen Draht gehangen und
hat schließlich sein Leben gelassen. Ich habe von Viertelstunde zu
Viertelstunde einen grausamen Tod erwartet und tagelang um mein Leben
gebangt. Ein Wunder hat mich gerettet."
Sieben lange, schwere Jahre habe er darauf gewartet, in den verzweifeltsten
Lagen niemals daran zweifelnd, dass er sicher kommen würde, "dieser Tag, auf
den all meine Hoffnungen aufgebaut waren, um dessen Heraufkommen ich betete,
nicht nur meinetwillen, sondern um der Heimat willen, um der ganzen
Menschheit willen, um der ganzen Menschlichkeit willen - in das Geschehen
doch auch wieder, innerlich und äußerlich, verstrickt, da das Schicksal der
Menschheit mir als mein Schicksal erschien und mein persönliches Schicksal
als das der gesamten Humanität, dieser große Tag, alle die unzählbaren und
doch einzeln durchlittenen Stunden herbeigesehnt, damit die erdrückende Last
endloser Jahre aufgewogen würde." Die Nachricht von Hitlers Tod hörte
Hovorka im englischen Nachrichtendienst. Er hörte Dönitz sagen: "Unser
Führer Adolf Hitler ist gefallen." Und nun das Erstaunliche: Er nahm die
Nachricht ohne jede Erregung, ohne innere Rührung zur Kenntnis.
In amerikanischer Kriegsgefangenschaft registrierte er die bessere
Verpflegung, einen anderen Umgang mit Gefangenen: "Alles sauber in Dosen
verpackt, z.B. etwas mehr als ein Esslöffel Frühstücksmarmelade in einer
winzigen Blechdose. So der fette Schinken, Speck, Schinken mit Ei, gut
gewürztes Konservenfleisch, Schokolade, Milchkaffee, nur in Wasser
aufzulösen, Zucker, Erfrischungsgetränke, Kaugummi, verschiedene Kekse usw.
Aber nur ein Drittel der Tagesration für den amerikanischen Soldaten. [...]
Auf der Wiese wurde Fußball gespielt; Amerikaner schauten interessiert zu.
Sie benahmen sich überhaupt überaus gesittet und ich musste lächelnd denken
an die SS in Dachau und Mauthausen, wie die sich den Gefangenen gegenüber
benommen hatten." Wie früher hörte er sich Ehe- und Liebesprobleme seiner
Kameraden an, während sich diese, nun Mitgefangene, seine KZ-Erlebnisse
erzählen ließen: "Und ich tue es gern, um zu sehen, wie ich das alles
erzählen und darstellen kann, ob es Interesse weckt und wie ich eine solche
Darstellung gestalten müsste." Damals dachte Hovorka daran, ein Buch über
Mauthausen zu schreiben, aber er verwarf diesen Gedanken gleich, hätte dies
doch bedeutet, sich mit dem zu beschäftigen, was der Mensch an "Satanischem"
in sich herumträgt. Die "moralische Lage" in Mauthausen war eben nicht so
klar, verdankte sich das eigene Überleben doch entscheidend der Kooperation
mit der SS.
Offiziere und Ärzte des Lazaretts, unter ihnen SS- oder Parteimitglieder,
kamen, um sich von ihm zu verabschieden. Der Krieg war vorbei, sie hatten
nun andere Nöte, suchten Kontakte. Hovorka gab ihnen Adressen in Wien und
anderen Städten. Ärzte dachten an die Praxis, die sie da oder dort eröffnen
wollten, an Bestände des Lazaretts für deren Einrichtung. Die
Laboratoriumskiste mit dem Mikroskop, die Hovorka aufgebaut und in all den
Jahren mit sich herumgeschleppt hatte, wurde ihm von zwei Feldunterärzten
weggenommen: "Ich war aber schließlich trotz meines großen Ärgers froh
darüber: ich habe damit von der Deutschen Wehrmacht, einem integrierenden
Bestandteil des dritten Reiches, nichts geschenkt erhalten, nichts, nicht
das Geringste. Das Dritte Reich hat mir nur Schaden zugefügt!"
Ende Juni 1945, inzwischen aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft
entlassen, befand sich Hovorka in Traunkirchen im Haus eines Freundes. Er
machte sich Gedanken über das Verhältnis zu den Siegermächten und schrieb
eine kluge demokratiepolitische Abhandlung. Er rechnete mit den
österreichischen politischen Eliten der 1930er Jahre ab, ging hart ins
Gericht mit den Christlichsozialen, denen er damals nahegestanden hatte. Er
fragte sich nach seiner Mitschuld. Ja, er habe gegen den Nationalsozialismus
gekämpft, aber wohl nicht mit den richtigen Mitteln, nicht mit der
Aufbietung der letzten Kräfte und Reserven. Er habe nichts gesagt gegen den
Vertrag vom 11. Juli 1936, also das Juliabkommen, welcher der
nationalsozialistischen Propaganda Tür und Tor geöffnet habe, da er von
einer Regierung abgeschlossen worden war, der er sich verpflichtet gefühlt
habe. Er habe auch nichts Wirksames getan gegen die Zerstörung der
Demokratie in Österreich, was es unmöglich gemacht habe, gerade mit jenen
Staaten zu kooperieren, mit denen gemeinsam auch einem kriegerischen
Überfall die Stirn geboten werden hätte können. Wie hätte es zu einem
Bündnis mit der Tschechoslowakei, mit Frankreich kommen können, wo doch
Österreich immer faschistischer geworden sei. So habe er das Abschlachten
der kleineren mitteleuropäischen Staaten mitverschuldet. Nein, er könne und
wolle sich nicht von Schuld freisprechen. Als katholischer Publizist hätte
er es ohne weiteres riskieren können, sich von einer katholischen Regierung
in ein Anhaltelager stecken zu lassen.
Hovorka unterhielt sich mit Leuten, die noch vor kurzem vom "deutschen Sieg"
überzeugt gewesen waren, nun aber nicht mehr an die Vergangenheit erinnert
werden wollten: "Auch das ist typisch für diese Menschen. Dieses zerhackte
Denken, dieses unvollständige Gedächtnis, dieses sowohl als auch. [...] Dass
sie mit mir sprechen wollen, hat wohl sicherlich auch seinen guten Grund. Es
war schon spät geworden, ein Uhr vorüber; ich hatte mich leider verführen
lassen, auch vom Lager einiges zu erzählen. Mit merklicher Erleichterung
nahmen sie meine Weigerung zur Kenntnis, mich von ihnen zum Nachtmahl
einladen zu lassen. Ich schützte die späte Stunde vor; die normale
Abendbrotzeit war natürlich lange vorüber. Beim Abschied sagten sie mir: ‚Es
war sehr interessant, so viel von der Vergangenheit zu sprechen. Wir müssen
noch einmal zusammenkommen, um uns über die Zukunft zu unterhalten.' - Was
will man mit solchen Leuten von der Zukunft sprechen!"
In Traunkirchen wurde er Zeuge einer für ihn bemerkenswerten Szene. Von
amerikanischen Soldaten eskortiert, marschierte an ihm ein Zug Uniformierter
vorbei: "Schon ihr Gesichtsausdruck zeigt es - oh wie wohlbekannt sind sie
mir, wie charakteristisch erscheinen doch diese Gesichter - und bei
einzelnen bestätigen es die Abzeichen auf den Spiegeln. Ich schaue genau
hin, die meisten haben es abgetrennt, aber man merkt es auch am Schnitte des
Kragens: es ist das der SS. Es sind SS-Angehörige, Männer, Unterführer und
Führer, hoher und niederer Dienstgrad. Wohin werden sie geführt? Nach
Ebensee, 4 km von Traunkirchen entfernt, wo ein großes Zweiglager von
Mauthausen bestand; am Schluss sollen über 20.000 Häftlinge dort
untergebracht gewesen sein. Ich suche nach bekannten Gesichtern; aber ich
erkenne niemand. Nur bei den meisten dieser typische Gesichtsschnitt, der
das Gesicht prägt, ob es dick oder dünn, rund oder länglich ist."
Hovorka suchte den Übergang in das zivile Leben. Er schrieb Briefe, besuchte
Bekannte. All diese Begegnungen endeten für ihn enttäuschend. Er traf sich
mit einem Pfarrer, einem ehemaligen Mithäftling in Mauthausen. Die beiden
tauschten Erinnerungen aus, Nachrichten von ehemaligen KZlern: "Er wird ein
braver Beamter sein, pünktlich seine Messe lesen, sein Brevier beten und
seine pfarramtlichen Funktionen ausüben. Im Übrigen wird er sich an seiner
Hauswirtschaft erfreuen, gut essen und trinken und in wenigen Jahren ein
dickes rundliches Pfäfflein sein, das den Herrgott einen guten Mann sein
lässt. Jetzt ist er in sein Format und seine Pfarre noch nicht ganz
hineingewachsen, aber er wird es bald geschafft haben. Warum die
Nationalsozialisten solche Leute mit Gewalt zu Märtyrern machen wollten, die
doch gar kein Zeug dazu hatten?"
Ausgerechnet bei einem Mithäftling, mit dem er in Dachau sehr befreundet
gewesen war, musste er die Erfahrung machen, dass sich solche Freundschaften
nur bedingt in das zivile Leben übertragen ließen, trotz der Herzlichkeit,
mit der er aufgenommen wurde. Hovorka, der den Kameraden aus Dachau als
übervorsichtigen, überängstlichen, von allen Hunden gehetzten, nach allen
Seiten ausspähenden, nervösen, sich duckenden, dünnen kleinen Kerl in
Erinnerung hatte, erlebte ihn nun als Haustyrannen, der herrisch,
unerbittlich und scharf agierte und keinen Einwand duldete. Dachau lag lange
zurück. Die beiden waren sich fremd geworden: "So ausgezeichnet wir uns
sprechen und verstehen, von mir aus ist es kein Verkehr von Herz zu Herz,
sondern eine genaue Beobachtung des anderen, ein genaues Berechnen seines
Charakters, eine kalte und beinahe boshafte Belauerung. Mein Herz ist von
ihm nicht angesprochen. Ich bewahre ihm gegenüber Haltung, ich öffne mich
ihm nicht."
Hovorka musste an sich eine merkwürdige Reizbarkeit feststellen. Er
betrachtete diese als Folge einer Fehlentwicklung seiner Gedankenwelt wie
auch seines Charakters, einer falschen Einstellung der Umwelt gegenüber. All
das würde ihm den Umgang mit Menschen erschweren, ihn belasten und ihm
hinderlich sein bei der Durchsetzung seiner Absichten. Diese falsche innere
Haltung sei wohl aus all den Erlebnissen zu erklären, die er in den
vergangenen sieben Jahren zu bestehen gehabt hätte. Es sei eine Krise des
Übergangs zum normalen, gesunden persönlichen und sozialen Leben. Um dieser
Reizbarkeit Herr zu werden und wieder zu einer ausgeglichenen Haltung zu
finden, suchte er die Begegnung mit Menschen, nahm selbst beschwerliche
Reisen auf sich, ging auf Ämter, auch um Anliegen anderer zu vertreten.
"Also, es kommt vor, dass ich einen völlig fremden Menschen vor mir habe,
einen Mann, den ich gar nicht kenne. Er geht vor mir, er beachtet mich
nicht, er kümmert sich nicht um mich, er hat nichts mit dem zu tun, er geht
einfach seines Weges wie ich des meinen. Und doch ist etwas in seinem Gang,
das mich stört. Etwas irritiert mich an seinem Gang. Sein Gang hat etwas
Beleidigendes für mich. Ich ärgere mich über seinen Gang und ich möchte am
liebsten, dass er von der Erde verschlungen würde. Aber solche Einfälle sind
verhältnismäßig selten, sie dringen auch nicht tief und sind so schnell
vergessen, wie sie kommen. Ernst zu nehmen ist es schon, wenn jemand ein
ungehöriges oder ungezogenes Benehmen an den Tag legt. Was geht mich dieser
Mensch an, der da in der Nase bohrt; öffentlich gähnt, als würde er sofort
die Maulsperre bekommen; auf der Straße so unvernünftig spaziert, dass die
Autos ihre Fahrt verlangsamen müssen, um ihn nicht niederzuführen? Was geht
er mich an? Und doch ärgere ich mich über ihn. Es ist beinahe noch etwas
mehr als Ärger. Denn nicht wahr, man freut sich, wenn man einen Reiter
elegant auf seinem Pferd über das Gelände dahinfliegen sieht; alles Schöne
freut einen, ein schönes Mädchen, ein liebliches Kind, der weltentrückte
Schimmer auf einem Greisen-Antlitz, das Mondlicht, das über sie rieselt,
eine gut modellierte heilige Figur auf einem Altar, die Wucht eines
Gebirgsstockes. Aber man freut sich nicht über den Staub auf der Landstraße,
über den Gestank einer Jauchengrube. Da ärgert man sich schon eher, wenn man
seine Gefühlsreaktionen nicht in der Hand hat, und schaut davonzukommen.
Aber alles das ist normal. Aber bei mir kommt etwas noch hinzu. Wenn
irgendwo ein Unterrock nachlässig hervorschaut, wenn einer laut rülpst, wenn
einer gar seinem Nachbarn blödsinniges Zeug vorschwätzt, dann fühle ich mich
geradezu persönlich verletzt.
Schlimmer ist es, wenn ich selbst daran beteiligt bin. - Da stehe ich z.B.
vor einem Schalter in irgendeiner gleichgültigen Angelegenheit. Vor mir
warten einige Leute auf ihre Abfertigung. Wenn alles glatt geht, komme ich
dann und dann dran. Es geht aber viel langsamer, als es sein müsste. Die
Beraterin ist noch nicht gut eingearbeitet, die Leute sind furchtbar
ungeduldig, es kostet viel mehr Worte und Zeit, als nötig wäre. Und ich muss
warten. Wie komme ich dazu, meine kostbare Zeit zu verlieren, weil diese
Leute so ungeschickt sind! Jetzt läutet gar das Telefon, vom Dienstlichen
gleitet das Gespräch ins Persönliche, da wird geschwätzt und geschwätzt: ich
aber muss warten und warten. Ist es nicht schon viel, wenn ich bereit bin,
Geduld zu üben, bis alle vor mir abgefertigt sind? Was für eine Zumutung,
das endlose Privatgespräch abzuwarten! Eigentlich sollte ich ja überhaupt
sofort vorgenommen werden, ich, der ich das und das hinter mir habe! Wenn
ich dann endlich an die Reihe komme, dann bin ich vor Ärger geradezu
schüchtern und befangen. Und ärgere mich jetzt erst recht, über mich, über
die Leute, über den Lauf der Welt."
Wie er sich während seiner Wehrmachtszeit über die Sinnlosigkeit und das
Grauen hinweghalf, indem er das Reale gleichsam als unwirklich, als Theater
wahrnahm, so erlebte er sich auch jetzt wieder gleichsam in einem Theater:
"Das ständige Zusammensein mit fremden Menschen, auch wenn mich die
kleinkarierten Eitelkeiten ebenso belustigen und amüsieren wie die im Grunde
lächerliche Komödie auf dem Welttheater, die von den gleichen unzulänglichen
Menschen aufgeführt wird, dieses ständige Zusammensein mit fremden Menschen,
die mir völlig gleichgültig sind und mir vorkommen wie die Puppen eines
Marionettentheaters, deren Drähte etwas zu sichtbar sind: das alles habe ich
satt. Mein Herz möchte sprechen und muss doch stumm bleiben."
Wenige Tage später schreibt er: "Ach, manchmal denke ich mir, es wäre das
Beste, bald zu sterben und zu Gott einzugehen. Ich habe eine junge Frau und
bin ein alter Mann geworden." Hovorka fühlte sich krank. Schwer lasteten die
sieben Jahre auf ihm. Nachts wachte er mit heftigen Schmerzen über der
linken Brustseite auf. Es war ihm, als würde er erdrückt. Dabei habe er noch
nie ernsthaft mit der Lunge oder mit dem Herz etwas zu tun gehabt. Er musste
an das Herzasthma seines Vaters denken, an Beklemmungs-, Angst- und
Vernichtungsgefühle, an dessen Tod: "Es gilt Abschied zu nehmen. [...] Du
tust mir leid, Maria. So lange hast Du auf mich gewartet und dann bekommst
Du einen Mann zurück, der vom Tod gezeichnet ist. Wie kann ich das an Dir
gut machen? Ich hätte mir doch so sehr gewünscht, Dich ganz froh und
glücklich zu sehen."
Wieder in Wien, trat Hovorka der KPÖ bei, obwohl er es als Widerspruch
betrachtete, "als Christ eine Politik aus dem Glauben ausgerechnet auf dem
Boden der kommunistischen Partei" zu betreiben. Ausschlaggebend für diese
Entscheidung war wohl der Umstand, dass ehemalige Nationalsozialisten in der
ÖVP wieder willkommen waren. Den Kommunisten rechnete er es sehr hoch an,
dass sie als einzige den "Anschluss" stets abgelehnt hatten. Bei der KPÖ
wurde er Bildungsreferent. Auch arbeitete er für die VOLKSSTIMME. In diese
Zeit fällt seine Schrift "Der Kampf um die geistige Wiedergeburt
Österreichs". Seine Mitgliedschaft in der KPÖ dürfte allerdings von Beginn
an konfliktreich gewesen sein, erwähnt er doch bereits im Juli 1946 ein "vor
einem Parteigericht schwebendes Verfahren." Nach dem päpstlichen Dekret vom
1. Juli 1949, das Angehörige kommunistischer Parteien mit Exkommunikation
belegte, kam es nach einer Stellungnahme Hovorkas in der FURCHE zu einem
offenen Briefwechsel zwischen ihm und Friedrich Funder, den er fünf Jahre
zuvor noch als einen der vielen "Totengräber der Unabhängigkeit" betrachtet
hatte. In der Folge wurde ihm klar, dass die KPÖ doch nicht die richtige
Partei für ihn war. Die KPÖ kam 1950 seinem Parteiaustritt mit einem
Ausschluss zuvor. In den nächsten drei Jahren war Hovorka arbeitslos. Er
versuchte eine Neuherausgabe der BERICHTE, allerdings ohne damit Erfolg zu
haben. Ab 1955 arbeitete er für den ÖAAB, war Chefredakteur, später
Herausgeber der Wochenzeitung "Freiheit". Hovorka starb 1966. Er ist
weitgehend in Vergessenheit geraten. Dabei würde sich die Beschäftigung mit
ihm lohnen. Und zwar nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart wegen.
© Bernhard Kathan, 2016