Wundersame Bergbauernvermehrung




„Aus tagesfrischer Heumilch von den umliegenden Bauernhöfen der Zillertaler Heumilchsennerei kneten die Käsemeister nach alter Tradition den Sauerrahm zu köstlicher Butter. Die Kühe verbringen den Sommer auf der Alm oder auf den Heimweiden der Bergbauernhöfe. Saftige Gräser, würzige Kräuter, duftendes Heu im Winter und frisches Quellwasser geben der Butter ihre besondere Note.“

„Seit über 600 Jahren pflegen die Walser die traditionelle Kunst des Käsemachens in den Vorarlberger Alpen im Westen Österreichs. Die steilen Berghänge und hochgelegenen Alpwirtschaften fordern von den Walser Bergbauern ihren vollen Einsatz. Den Kühen hingegen bietet die Alpenwelt saftige Wiesen. Und das schmeckt man. Der Rohstoff ist für jeden WALSERSTOLZ Käse gleich: Naturbelassene Heumilch. Ebenso wird jeder einzelne Laib in traditioneller Handarbeit im Biosphärenpark ‚Großes Walsertal’ erzeugt. Die dafür verwendete Rohmilch lässt an die mit Löwenzahn, Alpenvispergras, Goldhafer, Rotklee und Silbermantel übersäten Bergwiesen erinnern. Frisch angeliefert, befindet sich die Rohmilch dann in den fachmännischen Händen der Walser Käsemeister, die dem WALSERSTOLZ ihre persönliche Note verleihen. Nur die Käse von Walser Sennereien und Walser Alpen dürfen die Bezeichnung ‚WALSERSTOLZ’ tragen.“

Während Bergbauern in vielen alpinen Tal- und Hanglagen die Milchwirtschaft aufgeben, erleben wir in der Werbung eine geradezu wundersame Vermehrung der Bergbauern: „Bergbauernbutter“, „Bergbauernkäse“, „Bergbauernsennerei“. Werbung ist stets ein guter Indikator für gesellschaftliche, technologische wie ökonomische Verwerfungen. Die heimische Werbung für Milchprodukte ist ein gutes Beispiel dafür. Betont wird REGIONALES („Mensch, Region und Produkt bilden eine Einheit“), TRADITION („Nach alt überlieferten Arbeitsweisen und Rezepturen“), HANDWERK („Natur. Handwerk. Zeit. Sonst nichts“), REINHEIT („aus frischem Bergquellwasser“, „kristallklare Bergluft“), schließlich die NATUR, das NATÜRLICHE: „Unsere Bio-Bergbauern bringen uns durch ihre Arbeit etwas Besonderes zurück: Im Gleichklang mit der Natur bewirtschaften sie ihre Heimat und hegen dadurch die alpine Kulturlandschaft mit gesunden Böden, Wiesen und Wäldern als Lebensraum für die außerordentliche Vielfalt an Pflanzen und Tieren.“ Im Bergbauern findet sich die diesbezügliche Verdichtung.

Das Regionale steht für Überschaubarkeit in einer zunehmend unübersichtlicheren Welt. Nicht zuletzt reflektiert sich darin die Mobilität, die heutigen Menschen abverlangt wird, und zwar nicht nur jene zwischen Orten, sondern auch zwischen unterschiedlichsten Identitäten, Berufen und Beziehungskontexten. Man denke an die Forderung nach lebenslangem Lernen, an Formulierungen wie „Lebensabschnittspartnerschaft“. Tradition, Verwurzelung und Überschaubarkeit, feste Verankerung in Raum und Zeit, vor allem in der Schöpfung, in der Natur. Handwerk. In den damit verbundenen Phantasmen schrumpft die als bedrohlich erlebte Wirklichkeit, das Fremde und Unübersichtliche, zur Gemütlichkeit einer „Wohnküche“ (Ludwig Giesz), zum stimmungsvollen: It is not real, but it is familiar. Da die Küche, dort die Kirche mit dem Friedhof, dahinter ein Bauer, der seine Kühe auf Bergwiesen treibt.

Das Vokabular der Werbung scheint einem Setzkasten entnommen. Es lässt sich gleichermaßen auf Käse, Wein, Fleisch oder andere Produkte anwenden. Im Widerspruch zur behaupteten Einzigartigkeit ist es höchst austauschbar. An die Stelle konkreter Orte sind „Marken“ getreten, die in solchen Werbetexten in nahezu jedem Satz genannt sein wollen. Es verdankt sich Marketingabteilungen von Agrar- bzw. Lebensmittelkonzernen. Man muss Werbung in einem binär-strukturalistischen Verfahren untersuchen, zum Behaupteten also das Weggelassene hinzudenken, zu den Hygieneversprechen den Schmutz gleich welcher Art, zur Handarbeit die Automatisierung, Förder- und Fließbänder, zur Betonung von Geschichte Geschichtslosigkeit, zur Betonung von Ortsbezügen Bindungslosigkeit, zur Betonung von Einzigartigkeit Standardisierung. Ist etwa zu lesen, „gewachsen und veredelt in Tirol“, dann wird ausgeblendet, dass es Braten oder Speck ohne Tötungsakt nicht geben kann. Der inflationäre Gebrauch des Bergbauernvokabulars in der Werbung reflektiert den Niedergang alpiner Milchwirtschaft, die nicht nur über viele Jahrhunderte das Leben im Alpenraum geprägt hat. Ohne Rinderhaltung wäre die Besiedelung hochgelegener alpiner Täler nicht denkbar gewesen.

Wer immer sich mit Milchwirtschaft beschäftigt, weiß um den enormen Kostendruck, um Rationalisierungen und so fort. Wer über rudimentäre botanische Kenntnisse verfügt, wird auf den behaupteten „Heuwiesen“ von Ausnahmen abgesehen eines nicht finden, nämlich Artenvielfalt. Neben einigen Gräsern dominieren Wiesenstorchenschnabel, eingesähter Klee, Hahnenfuß, Löwenzahn, Wiesenampfer, Spitzwegerich. „Duftendes Heu“ wird man selten riechen, auch nicht in Betrieben, die keine Silage verfüttern. Die „Bergkäserei“ kann sich im Tal befinden, in einer Industriezone wie der Nähe eines Autobahnanschlusses. Und was den Einklang mit der Natur betrifft: Die noch verbliebenen Bergbauern bewirtschaften ihre Landwirtschaft zumeist im Nebenerwerb, also unter großem Zeitdruck. Natur nehmen sie vor allem als Störung wahr. Sie ist unberechenbar, richtet sich nicht nach Dienstplänen. Wo nur möglich, wird sie maschinentauglich gemacht.

Während in der Werbung Handarbeit behauptet wird, haben wir es in Wirklichkeit mit der Automatisierung der Produktion zu tun. In der Milchwirtschaft lässt sich das von der Tierhaltung bis hin zum Endprodukt beobachten, man denke an Melkroboter, automatisierte Tiererkennung, oder an Roboter, die Bergkäse während des Reifungsprozesses pflegen. Während das Regionale betont wird, verdankt sich die Milchleistung heutiger Kühe nicht zuletzt auf dem Weltmarkt eingekauftem Kraftfutter; und ohne Exporte wäre es um die österreichische Milchwirtschaft auch schlecht bestellt. In der Werbung für Milch und Milchprodukte sieht man keine Kühe, die in ihrem eigenen Kot auf Spaltenböden herumstehen. Bemüht wird die freie Natur, blühende Wiesen oder bäuerliche Architektur. Oft genug sind Rinder mit Hörnern zu sehen. Und im Widerspruch zu den Entwicklungen der Rinderhaltung werden Kühe gerne im engen Gefüge mit dem Menschen gezeigt. Es lohnte sich, der Werbung für Milch und Milchprodukte, die sich an Konsumenten richtet, Werbung von Landmaschinenherstellern wie Lemmer Fullwood oder DeLaval entgegenzusetzen, die an Bauern adressiert ist. Von saftigen Bergwiesen oder ähnlichem ist da nicht die Rede. Es geht einzig um Menge und Effizienzsteigerung.

Zu Heumilch ließen sich ganz andere Texte schreiben, beispielsweise über den sehr komplexen Verdauungsapparat des Rindes. Unter den Wiederkäuern verfügt das Rind über den differenziertesten Verdauungsapparat, der es ihm erlaubt, sich überwiegend von schwer verdaulicher, nährstoffarmer Zellulose zu ernähren. Ein Rind benötigt täglich etwa 50–100 kg Grünfutter und bis zu 100 l Wasser. Das Gras wird nahezu unzerkaut geschluckt und gelangt dann in den Pansen, den ersten der vier Mägen. In diesem großen Gärorgan beginnt mit Hilfe von Mikroorganismen die Verdauung, also der Aufschluss der Zellulose. Zerkleinerte und vorverdaute Nahrungsteile wandern in den Blättermagen, gröbere Nahrungsbestandteile werden nach ein bis zwei Stunden, wenn das Rind ruht, durch den Netzmagen über die Speiseröhre zurück ins Maul gewürgt und dort, nachdem das Heraufgepresste gründlich gekaut wurde, erneut geschluckt. Diesmal gelangt das Geschluckte direkt in den Blättermagen, dessen Funktion vor allem darin besteht, dem Brei das Wasser zu entziehen. Erst im Labmagen beginnt die eigentliche Verdauung, wird die Zellulose mit Hilfe von Verdauungssäften teilweise in Zucker aufgespalten. Auf den Labmagen folgt ein langer Darm, über den die Nahrung über die Darmwände in den Körper aufgenommen wird. Es ließe sich darüber schreiben, was einem Rindermagen zuzumuten ist, was nicht.

Die enorme Milchleistung heutiger Kühe verdankt sich entscheidend der Negierung des Pansens. Hochleistungskühe werden ganz gegen ihre Anlage mit einem hohen Anteil leicht verdaulicher Kohlenhydrate und Eiweiß gefüttert. Die aufgenommene Nahrung soll möglichst rasch den Pansen passieren. Die damit verbundenen negativen Auswirkungen (häufiger Antibiotikaeinsatz, typische Krankheitsbilder wie Ketose oder Pansenazidose, Fertilitätsstörungen, dadurch bedingt eine kürzere Lebens- bzw. Nutzungsdauer) seien hier nur am Rande erwähnt, ebenso die ökologische Problematik einer solchen Rinderhaltung. Man kann sich fragen, ob eine so produzierte Milch noch gesund sein kann. Um ein eindrückliches Bild zu erwähnen: Das HIDDEN MUSEUM erhielt für den Garten von einem milchproduzierenden Bergbauern einen Anhänger Mist seiner Hochleistungskühe. In diesem Mist fand sich, der Haufen lag lange Zeit da, weder ein Insekt, noch ein Regenwurm. Totes Material. Nie wurden mir die Folgen des Antibiotikaeinsatzes in der Rinderhaltung deutlicher bewusst.

Werbung kennt keine Fragen, sie evoziert, freilich nicht für den durchschnittlichen Konsumenten, der an Werbeversprechen glaubt, Fragen. In welchen Nischen werden Bergbauern überleben können? Lässt sich wirkliche Heumilch heute noch produzieren? Was müsste sie kosten? Wie müssten sich Bauern organisieren? Warum wird in Landwirtschaftsschulen, die Jugendliche aus bergbäuerlichen Familien ausbilden, so wenig Theater gespielt? Warum bleibt diesen Jugendlichen zumeist ein fundiertes ökonomisches, ökologisches und technologisches Wissen fremd? Wie ließe sich lange tradiertes Erfahrungswissen mit künftigen Möglichkeiten verbinden? Bergbauern, und das gilt insbesondere für milchproduzierende Betriebe, werden nur dann eine Zukunft haben, kopieren sie nicht länger industriell geführte Betriebe, die von ganz anderen Bedingungen ausgehen.

© Bernhard Kathan, 2017
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