I
Es ist noch nicht lange her, da lebten Menschen in Stallwohnungen. Kinder
wurden in kalten Nächten zum Schlafen in Krippen gelegt, war es im Stall
doch wärmer als in Kammern ohne Öfen. Wie eng die Bindung von Mensch und
Tier war, macht etwa deutlich, dass mancherorts ein Todesfall im Haus den
Kühen angesagt werden musste. Man fürchtete, diese würden sonst keine Milch
mehr geben. Kleine Bauern konnte ein Gefühl von Trauer überfallen, blieb ein
Platz im Stall leer, wurde eine Kuh verkauft oder geschlachtet, stand der
ganze Stall leer, hatte man das Vieh auf die Alm getrieben. Die kleinen
Bauern lebten mit ihren Kühen oft Wand an Wand, nur durch eine Holzwand
getrennt, sie schliefen in Räumen, in denen Wiederkäu- und Atemgeräusche zu
hören waren. Wer sich daran erinnert, weiß um das Beruhigende solcher
Geräusche. Längst sind die Räume der Bauern von denen des Viehs getrennt. In
wenigen Jahren wird es kaum noch einen Anbindestall geben, in dem sich das
hören ließe, was über Jahrhunderte hinweg den kleinen Bauern sehr vertraut
war. Heute bietet sich die letzte Gelegenheit, dies zu dokumentieren. Zwar
hört man auch in heutigen Laufställen atmende und wiederkäuende Kühe, aber
es sind nicht mehr dieselben Geräusche. Laufställe haben immer etwas
Unruhiges. In Anbindeställen waren alle Kühe demselben Rhythmus unterworfen,
wodurch sich während der Nacht eine ganz andere, sehr eindringliche Art von
Ruhe einstellte.
II
Gegen landläufige Vorstellungen ist es gar nicht so einfach, die nächtlichen
Geräusche in einem Anbindestall zu dokumentieren. Probleme der Aufnahme:
Inzwischen muss man nach Anbindeställen suchen. Der Stall darf nicht zu groß
und nicht zu klein sein. Die Akustik in betonierten Räumen ist schwierig.
Zumeist ist Verkehrslärm zu hören. Belüftungsanlagen und Kühlaggregate. In
einem Stall mit 60 oder mehr Kühen betätigt alle Augenblicke eine Kuh eine
der Selbsttränken. Man hört Geräusche, die durch das die Rohre
durchfließende Wasser verursacht werden. Sind die Kühe mit Ketten an einer
aus Metallrohren gefertigten Aufstallung angebunden, so übertönt stetes
Kettengerassel nahezu jedes Atem- und Wiederkäugeräusch. Kalbende Kühe.
Unruhe der Kühe, durch diese oder jene Umstände bedingt.
III
Dann haben wir es stets nicht nur mit einem Kuhstall, sondern mit einem
sozialen Feld zu tun. Es gibt nicht einfach einen Bauern, der einem die Tür
aufsperren und die Steckdose zeigen würde. Das Vorhaben will verständlich
gemacht sein. Und womöglich hat man es nicht nur mit Unverständnis, sondern
mit Scham oder anderen Empfindungen zu tun. Eine Familie wollte auf keinen
Fall Film- oder Fotoaufnahmen, so als könnte auf den Bildern etwas sichtbar
werden, was kein Mensch sehen darf. Es brauchte einige Stunden, bis ein
gewisses Vertrauen vorhanden war. Zum Glück verfügt der Jungbauer über eine
musikalische Ausbildung. Er hat Ziehharmonika und Harfe spielen gelernt. Ein
Bauer als Harfenspieler ist eine recht seltsame Sache. Bauernfinger eignen
sich nicht gut zum Harfenspiel; und dann zählt die Harfe zu jenen
Instrumenten, die in der Musikgeschichte weitgehend Frauen überlassen
blieben. Der Jungbauer wohnt in einem Zwischentrakt zwischen dem
Stallgebäude und dem Wohnhaus. Ersteres wurde um 1970 errichtet, letzteres
dürfte etwa fünfzehn Jahre alt sein. Das Zwischengebäude war ursprünglich
wohl als Knechtwohnung gedacht. Es gibt darin nur eine Nasszelle, ein sehr
enges Zimmer und einen Wandschrank.
IV
Der Jungbauer ist etwa 35 Jahre alt. An den Wänden seiner Kammer Fotos von
posierenden muskulösen nackten Männern. Frauen existieren nur in
Engelsgestalt. Über der Tür des Zimmers ein kleiner Lautsprecher. Zuerst
dachte ich, dieser Lautsprecher diene dazu, zu hören, ob im Stall alles in
Ordnung sei, ob alle Kühe noch angebunden seien. Dieser Lautsprecher wurde
aber installiert, um einem Knecht, heute dem Sohn, Anweisungen zu geben,
diesen daran zu erinnern, dass es endlich Zeit sei aufzustehen, dass er dies
und das zu tun habe, dass die Suppe auf dem Tisch stehe, dass, dass, dass,
dass. In der engen Kammer ein Mischpult mit Verstärker, zwei Boxen, mit
denen sich ein großer Raum beschallen ließe. Ein Versuch, den kleinen
Lautsprecher zu neutralisieren. Ich musste an die zungenschlagenden Kühe im
Stall denken. Nach dem auffälligen Verhalten der Tiere gefragt, meinte der
Jungbauer, dieses sei genetisch bedingt. Mehrere seiner Kühe mit diesem
Verhalten stammen vom selben Stier. Zum Zungenschlagen von Rindern gibt es
unterschiedliche Erklärungen. Manche vermuten eine genetische Disposition.
Wahrscheinlicher ist, dass wir es mit einer haltungsbedingten
Verhaltensstörung zu tun haben. Der Jungbauer, so erzählte eine seiner
Schwestern, soll es mit den Melk- und Fütterungszeiten nicht sehr genau
nehmen, manchmal auch mitten in den Nacht melken. Auffallend am Stall ist,
dass seit seiner Errichtung in den frühen 1970er Jahren nicht das Geringste
darin verändert wurde. Es gibt noch eine Schwemmemistung. Die damals übliche
Aufstallung blieb bis heute unangetastet, ebenso die Ketten, die damals
zumeist bereits nach wenigen Jahren durch Nylonbänder ersetzt wurden. Immer
noch steht derselbe Steyrtraktor vor den Betonsilos. Wie damals werden diese
auch heute noch befüllt. Der Vater, der seine Landwirtschaft nun seit vielen
Jahren jeweils nur auf ein Jahr an seinen Sohn verpachtet, hatte mit seinem
Vater dieselben Probleme. Auch er wollte weg, wollte alles anders machen.
Leben in der Welt eines herrschsüchtigen Vaters (ich habe ihn nicht
gesehen), in der Vergangenheit, mit kleinen Ausflüchten in diese oder jene
Fantasien. Das ist insofern bedrückend, als der Jungbauer, als der Vater den
Stall errichtete, noch gar nicht geboren war. Alles an den Entwicklungen in
der Landwirtschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte scheint hier spurlos
vorübergegangen zu sein, sieht man einmal davon ab, dass die Milch heute
gekühlt werden muss, da sie nicht mehr jeden Tag abgeholt wird. Als
Gegensatz dazu das elterliche Haus, vor dem große Autos deutscher
Feriengäste stehen. Im Haus ein feiner Geruch nach frisch gebackenem Brot,
so wie es sich Feriengäste auf einem Bauernhof erwarten, Feriengäste, die
bei Kerzenschein zu Abend essen, während sich nebenan der Sohn in der
Knechtwohnung eingemauert hat.
V
Die Atemfrequenz einer Kuh beträgt zwischen 10 und 45 Atemzüge in der
Minute. Ein Atemzug enthält drei bis vier Liter Luft. Bei jungen Tieren ist
die Atemfrequenz höher, ebenso bei warmem Wetter und Hochträchtigkeit. Eine
Kuh macht an einem Tag bis zu 20.000 Kaubewegungen, kaut eine zwischen 80
und 120 g schwere Wiederkauportion vierzig bis fünfzig Mal. Kühe verbringen
vier bis sechs Stunden täglich mit Wiederkäuen. Die Übergänge von Rasten,
Ruhen, Dösen und Schlafen sind fließend und nur schwer zu unterscheiden. Die
gesamte Tiefschlafdauer der Kuh beträgt, verteilt auf mehrere Perioden, nur
dreißig Minuten pro Tag. Dies weiß man freilich nur, stattet man eine Kuh
mit Elektroden aus und studiert die Linien des Elektroenzephalogramms. In
einem nächtlichen Kuhstall geht das Ruhen jeder einzelnen Kuh in einer
allgemeinen Bewegung auf. Auf kurze Phasen von Unruhe folgen stets etwas
längere Phasen von Ruhe. Ausatmen, Hochwürgen, Ausatmen, Wiederkäuen,
Schlucken, Ausatmen, Hochwürgen und so fort.
VI
Zur Aufnahme fuhr der Tontechniker allein hin. Die Kühe waren sehr unruhig.
Dabei befand sich niemand im Stall. Das Licht war gelöscht. Das
Aufnahmegerät stand in einer angrenzenden Garage. Die nächtliche Aufnahme
muss die Familie in Aufregung versetzt haben. Alle wollten mit dem
Tontechniker sprechen. Ich musste an Pasolinis Theorema denken. Ich
fürchtete mich vor den zungenschlagenden Kühen und all dem, was dabei für
mich mitschwingt. Ich musste an meine eigene Kindheit denken. Auch mein
Vater hat um 1970 einen solchen Stall errichtet. Auch da gab es einen
befahrbaren Mittelgang, eine Schwemmemistung, Betonsilos. Als ich die
Knechtwohnung sah, fiel mir ein Klosterhof aus derselben Zeit ein. Dort gab
es eine recht ähnliche Knechtwohnung. Ich erinnere mich an den jungen
Knecht. Dieser kaufte sich eine der damals teuersten Tonbandanlagen und
stellte sie in „seine“ Knechtkammer. Aber das liegt nun bereits vierzig
Jahre zurück. Der Jungbauer unserer Geschichte schien mir wie aus einer
anderen Zeit zu kommen, aus einer Zeit, die ich längst vergangen glaubte.
Mit einem Feld haben wir es auch dort zu tun, wo sich solche Beispiele in
ähnlicher Form hundertfach wiederholen.
VII
Als ich mir die Aufnahmen anhörte, machte mich der Lärm in diesem Stall
betroffen. Es sind zwar Atem- und Kaugeräusche zu hören, diese werden
allerdings von schrillen Kettengeräuschen und anderem Lärm weitgehend
überlagert. Für einen Ruheraum eignet sich dieses Klangmaterial nicht.
Natürlich wäre es einfacher, wären keine klirrenden Ketten zu hören, gäbe es
keine familiären Konflikte, keine zungenschlagenden Kühe. Verfügte man über
genügend Geld, man könnte Aufnahmen machen, die sehr nahe an die nächtliche
Klangwelt früherer Kuhställe kämen, und das mitten in der Stadt. Räume
lassen sich schalltechnisch ebenso organisieren wie das von Kühen gewünschte
Verhalten. Wir machen keine Werbespots für die Milchindustrie. Die
Wirklichkeit, mag sie auch im Widerspruch zu den Intentionen stehen, ist
wichtiger. Ein Rinderstall ist eben Teil eines Feldes, und zu diesem Feld
zählen selbst Menschen, die den Stall gar nicht mehr betreten, auf diesen
aber so oder so einwirken. Es wäre einfach, könnte man irgendwo hinfahren,
einige Mikrophone aufstellen und sich dann vor ein Mischpult setzen. Allein,
die Höflichkeit gebietet es, mit dem Besitzer zu sprechen. In unserem
Beispiel war das nicht der Jungbauer, sondern der Altbauer. Man muss also in
das Wohnhaus gehen, welches der Jungbauer seit langem nicht mehr oder
möglichst wenig betritt. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, warum
sich die Mutter so für die Anbindehaltung einsetzt. Laufställe seien doch
keine richtige Rinderhaltung. Es ging um etwas ganz anderes. Einen Laufstall
darf es nicht geben, hieße dies doch anzuerkennen, dass die Welt sich
ändert, dass etwas geändert werden müsste, dass der Vater nicht einfach
recht hat, weil er Vater und Besitzer ist.
VIII
Angesichts des Kettengeklirrs haben wir uns darüber unterhalten, ob sich die
Unruhe der Menschen auf die Kühe in diesem Stall überträgt. Kühe wissen
nicht um menschliche Konflikte, haben keine Vorstellung von den Problemen
einer Hofübergabe. Und doch sind sie die Seismographen jener, die sie mehr
oder weniger gut versorgen. Auf Unruhe reagieren sie mit Unruhe. So
betrachtet ist im Zungenschlagen der Kühe mehr zu sehen als nur eine
Verhaltensstörung. Sie bringen das zum Ausdruck, was zwischen Stall und Haus
und Knechtwohnung unausgesprochen bleibt.
IX
Ein anderer Stall, auch Anbindehaltung. Ich entdeckte ihn auf einem meiner
Spaziergänge. Obwohl es Tag war, ging von ihm eine beeindruckende Ruhe aus.
Als ich versuchte, alle nur erdenklichen Nebengeräusche zu hören, die einer
Aufnahme entgegensprächen, beobachtete ich durch die offen stehende Tür des
Stalles den Bauern. Mit einer Mistgabel in der Hand ging er die Reihen ab,
schabte da und dort Kot in den Mistgraben, legte Einstreu nach. Da es erst
früher Nachmittag war, tat er also nichts anderes, als nach dem Rechten zu
sehen. Die Kühe dösten weiter, wurden durch sein Erscheinen nicht im
Geringsten in Unruhe versetzt.
X
Als wir Wochen später an einem Abend, das Licht war bereits gelöscht, die
Mikrophone aufbauten, gerieten diese Kühe in eine ziemliche Unruhe. Der
Stall war von einem einzigen Gemuhe erfüllt. Dieses Muhen galt einzig dem
Ungewohnten, jener Störung, die wir hineintrugen. Die Aufnahmegeräte standen
in einem betonierten Vorraum, der zur Lagerung von Kraftfutter dient. Als
wir uns einige Stunden später mit dem Bauern in diesem Raum trafen und
abwechselnd den Kopfhörer aufsetzten, waren wir gleichermaßen von den
Ruhegeräuschen der Kühe beeindruckt. Mich durchströmte ein wahres
Glücksgefühl. Freilich ist es auch eine Frage der Technik, aber selbst der
Bauer hatte das Gefühl, diese Geräusche noch nie in dieser Form wahrgenommen
zu haben. Das Beispiel zeigt auch, die Anbindehaltung von Rindern setzt
einen wesentlich höheren Zeitaufwand voraus. Allgemein wäre anzumerken, die
Landwirtschaft benötigt nicht weniger, sondern mehr Menschen.
Text / Konzept: Bernhard Kathan
Tontechnik: Martin Lauterer
2010
Nachtrag
Die Klanginstallation wurde in unterschiedlicher Weise realisiert, im HIDDEN
MUSEUM als Außenrauminstallation, tontechnisch betrachtet mit bester
Wirkung. Da es sich um einen semiprivaten Raum handelt, hatten wir es
durchwegs mit geladenen Gästen, zumeist Kunstinteressierten zu tun. Auf
Einladung des MUSEUMs IN BEWEGUNG war die Klanginstallation auch in St.
Antönien (Prättigau) in einem LKW-Auflieger ("Tricklaster") zu hören, der
auf einem öffentlichen Parkplatz in der Mitte des Bergdorfes abgestellt war.
Die Akustik im langgestreckten Raum des Aufliegers war wesentlich schlechter
wie manches auf Grund der bescheidenen finanziellen Mittel nicht optimal
gelöst werden konnte. Das Heu, welches freundlicherweise von einem Bauern
zur Verfügung gestellt wurde, hatte wenig mit luftigem Bergheu gemein. Der
auseinandergezettete Heuballen ließ mehr an Einstreu als an Heu denken, ein
Grund, warum sich anders als gedacht niemand wirklich niederlegen wollte.
Das Publikum war sehr inhomogenen, reichte von Kunstinteressierten über
Kinder, die sich neugierig (ob von Eltern geschickt oder aus eigenem Antrieb
vermag ich nicht zu sagen) in den LKW drängten, bis hin zu älteren Menschen.
Die räumlichen Bedingungen waren weder im HIDDEN MUSEUM noch in St. Antönien
ideal. Zumeist waren andere zugegen, was eine gewisse Selbstkontrolle zur
Folge hat und es erschwert, sich den Geräuschen wirklich zu überlassen. In
St. Antönien hätte man einen besseren Standort finden müssen, einen
Standort, der den Eintretenden die Sicherheit geboten hätte, dass sich
innerhalb von zehn Minuten oder mehr niemand dem LKW nähern kann. Wie könnte
man sich in einem Raum, der jederzeit von anderen betreten werden kann,
wirklich niederlegen? Im HIDDEN MUSEUM hätte ich abwesend sein, den Raum
wirklich anderen überlassen sollen. Die eigene Anwesenheit hat zumeist
sofort Fragen und Erklärungen zur Folge. Man spricht über Anbindehaltung,
Aufstallungen, über das Wiederkäuen, den Rindermagen etc. Das ist zwar auch
nicht schlecht, verhindert aber, dass die Besucher sich auf das einlassen,
was sie hören. Erklärungen wirken wir Plomben gegen jede Form der
Irritation. Letztlich müsste man konsequent an Erfahrungsräumen arbeiten.
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