Kuhstall bei Nacht


Foto: Bernhard Kathan


Hannes: Vater, i bin schon sechsundvierzg Jahr alt! (Streicht sich mit der Hand über sein ergrauendes Haar.) Da, schau mich an: meine Haar werdn schon grau!
Grutz: Ja, wies halt geht! Zuerst werdn die Haar grau, und spater fallen sie gar aus! (Streicht sich über sein ziemlich kahles Haupt.) Da, schau mich an! (Das Gespräch abschneidend.) Und jetz zum Roggn, mach vorwärts!
Hannes: (vertritt ihm den Weg). Vater, du mit deine vierundsiebzg Jahr! Laß jetz mich amal dran!
Grutz: (schaut ihn an). Hannesla, i bin noch nit schlafrig! Und vor i nit ins Bett geh, ziech i mi nit aus!
Mena: Soll er denn in alle Ewigkeit Knecht bleiben, auf dem Grutznhof da?
Grutz: (lauschend, wie auf einen fremden Ruf). Der Mausgeier pfeift! (Dann zu Mena.) Er kann ja anderstwo Knecht werdn!
Hannes: (schreiend). Knecht, Knecht, Knecht! (Wirft sich auf die Ofenbank. Vor den Fenstern ertönt gedämpft das Gepfeife eines Dudelsacks.)
Grutz: (aufbrausend). Du bist kein Baur und du wirst kein Baur! Du bist zum Knecht gschaffen! (Dann.) Warum bist nit in die Welt und hast dier a Nest baut? Hab i dich vielleicht ghalten?
Karl Schönherr, Erde


I

Es ist noch nicht lange her, da lebten Menschen in Stallwohnungen. Kinder wurden in kalten Nächten zum Schlafen in Krippen gelegt, war es im Stall doch wärmer als in Kammern ohne Öfen. Wie eng die Bindung von Mensch und Tier war, macht etwa deutlich, dass mancherorts ein Todesfall im Haus den Kühen angesagt werden musste. Man fürchtete, diese würden sonst keine Milch mehr geben. Kleine Bauern konnte ein Gefühl von Trauer überfallen, blieb ein Platz im Stall leer, wurde eine Kuh verkauft oder geschlachtet, stand der ganze Stall leer, hatte man das Vieh auf die Alm getrieben. Die kleinen Bauern lebten mit ihren Kühen oft Wand an Wand, nur durch eine Holzwand getrennt, sie schliefen in Räumen, in denen Wiederkäu- und Atemgeräusche zu hören waren. Wer sich daran erinnert, weiß um das Beruhigende solcher Geräusche. Längst sind die Räume der Bauern von denen des Viehs getrennt. In wenigen Jahren wird es kaum noch einen Anbindestall geben, in dem sich das hören ließe, was über Jahrhunderte hinweg den kleinen Bauern sehr vertraut war. Heute bietet sich die letzte Gelegenheit, dies zu dokumentieren. Zwar hört man auch in heutigen Laufställen atmende und wiederkäuende Kühe, aber es sind nicht mehr dieselben Geräusche. Laufställe haben immer etwas Unruhiges. In Anbindeställen waren alle Kühe demselben Rhythmus unterworfen, wodurch sich während der Nacht eine ganz andere, sehr eindringliche Art von Ruhe einstellte.

II

Gegen landläufige Vorstellungen ist es gar nicht so einfach, die nächtlichen Geräusche in einem Anbindestall zu dokumentieren. Probleme der Aufnahme: Inzwischen muss man nach Anbindeställen suchen. Der Stall darf nicht zu groß und nicht zu klein sein. Die Akustik in betonierten Räumen ist schwierig. Zumeist ist Verkehrslärm zu hören. Belüftungsanlagen und Kühlaggregate. In einem Stall mit 60 oder mehr Kühen betätigt alle Augenblicke eine Kuh eine der Selbsttränken. Man hört Geräusche, die durch das die Rohre durchfließende Wasser verursacht werden. Sind die Kühe mit Ketten an einer aus Metallrohren gefertigten Aufstallung angebunden, so übertönt stetes Kettengerassel nahezu jedes Atem- und Wiederkäugeräusch. Kalbende Kühe. Unruhe der Kühe, durch diese oder jene Umstände bedingt.

III

Dann haben wir es stets nicht nur mit einem Kuhstall, sondern mit einem sozialen Feld zu tun. Es gibt nicht einfach einen Bauern, der einem die Tür aufsperren und die Steckdose zeigen würde. Das Vorhaben will verständlich gemacht sein. Und womöglich hat man es nicht nur mit Unverständnis, sondern mit Scham oder anderen Empfindungen zu tun. Eine Familie wollte auf keinen Fall Film- oder Fotoaufnahmen, so als könnte auf den Bildern etwas sichtbar werden, was kein Mensch sehen darf. Es brauchte einige Stunden, bis ein gewisses Vertrauen vorhanden war. Zum Glück verfügt der Jungbauer über eine musikalische Ausbildung. Er hat Ziehharmonika und Harfe spielen gelernt. Ein Bauer als Harfenspieler ist eine recht seltsame Sache. Bauernfinger eignen sich nicht gut zum Harfenspiel; und dann zählt die Harfe zu jenen Instrumenten, die in der Musikgeschichte weitgehend Frauen überlassen blieben. Der Jungbauer wohnt in einem Zwischentrakt zwischen dem Stallgebäude und dem Wohnhaus. Ersteres wurde um 1970 errichtet, letzteres dürfte etwa fünfzehn Jahre alt sein. Das Zwischengebäude war ursprünglich wohl als Knechtwohnung gedacht. Es gibt darin nur eine Nasszelle, ein sehr enges Zimmer und einen Wandschrank.

IV

Der Jungbauer ist etwa 35 Jahre alt. An den Wänden seiner Kammer Fotos von posierenden muskulösen nackten Männern. Frauen existieren nur in Engelsgestalt. Über der Tür des Zimmers ein kleiner Lautsprecher. Zuerst dachte ich, dieser Lautsprecher diene dazu, zu hören, ob im Stall alles in Ordnung sei, ob alle Kühe noch angebunden seien. Dieser Lautsprecher wurde aber installiert, um einem Knecht, heute dem Sohn, Anweisungen zu geben, diesen daran zu erinnern, dass es endlich Zeit sei aufzustehen, dass er dies und das zu tun habe, dass die Suppe auf dem Tisch stehe, dass, dass, dass, dass. In der engen Kammer ein Mischpult mit Verstärker, zwei Boxen, mit denen sich ein großer Raum beschallen ließe. Ein Versuch, den kleinen Lautsprecher zu neutralisieren. Ich musste an die zungenschlagenden Kühe im Stall denken. Nach dem auffälligen Verhalten der Tiere gefragt, meinte der Jungbauer, dieses sei genetisch bedingt. Mehrere seiner Kühe mit diesem Verhalten stammen vom selben Stier. Zum Zungenschlagen von Rindern gibt es unterschiedliche Erklärungen. Manche vermuten eine genetische Disposition. Wahrscheinlicher ist, dass wir es mit einer haltungsbedingten Verhaltensstörung zu tun haben. Der Jungbauer, so erzählte eine seiner Schwestern, soll es mit den Melk- und Fütterungszeiten nicht sehr genau nehmen, manchmal auch mitten in den Nacht melken. Auffallend am Stall ist, dass seit seiner Errichtung in den frühen 1970er Jahren nicht das Geringste darin verändert wurde. Es gibt noch eine Schwemmemistung. Die damals übliche Aufstallung blieb bis heute unangetastet, ebenso die Ketten, die damals zumeist bereits nach wenigen Jahren durch Nylonbänder ersetzt wurden. Immer noch steht derselbe Steyrtraktor vor den Betonsilos. Wie damals werden diese auch heute noch befüllt. Der Vater, der seine Landwirtschaft nun seit vielen Jahren jeweils nur auf ein Jahr an seinen Sohn verpachtet, hatte mit seinem Vater dieselben Probleme. Auch er wollte weg, wollte alles anders machen. Leben in der Welt eines herrschsüchtigen Vaters (ich habe ihn nicht gesehen), in der Vergangenheit, mit kleinen Ausflüchten in diese oder jene Fantasien. Das ist insofern bedrückend, als der Jungbauer, als der Vater den Stall errichtete, noch gar nicht geboren war. Alles an den Entwicklungen in der Landwirtschaft innerhalb der letzten Jahrzehnte scheint hier spurlos vorübergegangen zu sein, sieht man einmal davon ab, dass die Milch heute gekühlt werden muss, da sie nicht mehr jeden Tag abgeholt wird. Als Gegensatz dazu das elterliche Haus, vor dem große Autos deutscher Feriengäste stehen. Im Haus ein feiner Geruch nach frisch gebackenem Brot, so wie es sich Feriengäste auf einem Bauernhof erwarten, Feriengäste, die bei Kerzenschein zu Abend essen, während sich nebenan der Sohn in der Knechtwohnung eingemauert hat.

V

Die Atemfrequenz einer Kuh beträgt zwischen 10 und 45 Atemzüge in der Minute. Ein Atemzug enthält drei bis vier Liter Luft. Bei jungen Tieren ist die Atemfrequenz höher, ebenso bei warmem Wetter und Hochträchtigkeit. Eine Kuh macht an einem Tag bis zu 20.000 Kaubewegungen, kaut eine zwischen 80 und 120 g schwere Wiederkauportion vierzig bis fünfzig Mal. Kühe verbringen vier bis sechs Stunden täglich mit Wiederkäuen. Die Übergänge von Rasten, Ruhen, Dösen und Schlafen sind fließend und nur schwer zu unterscheiden. Die gesamte Tiefschlafdauer der Kuh beträgt, verteilt auf mehrere Perioden, nur dreißig Minuten pro Tag. Dies weiß man freilich nur, stattet man eine Kuh mit Elektroden aus und studiert die Linien des Elektroenzephalogramms. In einem nächtlichen Kuhstall geht das Ruhen jeder einzelnen Kuh in einer allgemeinen Bewegung auf. Auf kurze Phasen von Unruhe folgen stets etwas längere Phasen von Ruhe. Ausatmen, Hochwürgen, Ausatmen, Wiederkäuen, Schlucken, Ausatmen, Hochwürgen und so fort.

VI

Zur Aufnahme fuhr der Tontechniker allein hin. Die Kühe waren sehr unruhig. Dabei befand sich niemand im Stall. Das Licht war gelöscht. Das Aufnahmegerät stand in einer angrenzenden Garage. Die nächtliche Aufnahme muss die Familie in Aufregung versetzt haben. Alle wollten mit dem Tontechniker sprechen. Ich musste an Pasolinis Theorema denken. Ich fürchtete mich vor den zungenschlagenden Kühen und all dem, was dabei für mich mitschwingt. Ich musste an meine eigene Kindheit denken. Auch mein Vater hat um 1970 einen solchen Stall errichtet. Auch da gab es einen befahrbaren Mittelgang, eine Schwemmemistung, Betonsilos. Als ich die Knechtwohnung sah, fiel mir ein Klosterhof aus derselben Zeit ein. Dort gab es eine recht ähnliche Knechtwohnung. Ich erinnere mich an den jungen Knecht. Dieser kaufte sich eine der damals teuersten Tonbandanlagen und stellte sie in „seine“ Knechtkammer. Aber das liegt nun bereits vierzig Jahre zurück. Der Jungbauer unserer Geschichte schien mir wie aus einer anderen Zeit zu kommen, aus einer Zeit, die ich längst vergangen glaubte. Mit einem Feld haben wir es auch dort zu tun, wo sich solche Beispiele in ähnlicher Form hundertfach wiederholen.

VII

Als ich mir die Aufnahmen anhörte, machte mich der Lärm in diesem Stall betroffen. Es sind zwar Atem- und Kaugeräusche zu hören, diese werden allerdings von schrillen Kettengeräuschen und anderem Lärm weitgehend überlagert. Für einen Ruheraum eignet sich dieses Klangmaterial nicht. Natürlich wäre es einfacher, wären keine klirrenden Ketten zu hören, gäbe es keine familiären Konflikte, keine zungenschlagenden Kühe. Verfügte man über genügend Geld, man könnte Aufnahmen machen, die sehr nahe an die nächtliche Klangwelt früherer Kuhställe kämen, und das mitten in der Stadt. Räume lassen sich schalltechnisch ebenso organisieren wie das von Kühen gewünschte Verhalten. Wir machen keine Werbespots für die Milchindustrie. Die Wirklichkeit, mag sie auch im Widerspruch zu den Intentionen stehen, ist wichtiger. Ein Rinderstall ist eben Teil eines Feldes, und zu diesem Feld zählen selbst Menschen, die den Stall gar nicht mehr betreten, auf diesen aber so oder so einwirken. Es wäre einfach, könnte man irgendwo hinfahren, einige Mikrophone aufstellen und sich dann vor ein Mischpult setzen. Allein, die Höflichkeit gebietet es, mit dem Besitzer zu sprechen. In unserem Beispiel war das nicht der Jungbauer, sondern der Altbauer. Man muss also in das Wohnhaus gehen, welches der Jungbauer seit langem nicht mehr oder möglichst wenig betritt. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, warum sich die Mutter so für die Anbindehaltung einsetzt. Laufställe seien doch keine richtige Rinderhaltung. Es ging um etwas ganz anderes. Einen Laufstall darf es nicht geben, hieße dies doch anzuerkennen, dass die Welt sich ändert, dass etwas geändert werden müsste, dass der Vater nicht einfach recht hat, weil er Vater und Besitzer ist.

VIII

Angesichts des Kettengeklirrs haben wir uns darüber unterhalten, ob sich die Unruhe der Menschen auf die Kühe in diesem Stall überträgt. Kühe wissen nicht um menschliche Konflikte, haben keine Vorstellung von den Problemen einer Hofübergabe. Und doch sind sie die Seismographen jener, die sie mehr oder weniger gut versorgen. Auf Unruhe reagieren sie mit Unruhe. So betrachtet ist im Zungenschlagen der Kühe mehr zu sehen als nur eine Verhaltensstörung. Sie bringen das zum Ausdruck, was zwischen Stall und Haus und Knechtwohnung unausgesprochen bleibt.

IX

Ein anderer Stall, auch Anbindehaltung. Ich entdeckte ihn auf einem meiner Spaziergänge. Obwohl es Tag war, ging von ihm eine beeindruckende Ruhe aus. Als ich versuchte, alle nur erdenklichen Nebengeräusche zu hören, die einer Aufnahme entgegensprächen, beobachtete ich durch die offen stehende Tür des Stalles den Bauern. Mit einer Mistgabel in der Hand ging er die Reihen ab, schabte da und dort Kot in den Mistgraben, legte Einstreu nach. Da es erst früher Nachmittag war, tat er also nichts anderes, als nach dem Rechten zu sehen. Die Kühe dösten weiter, wurden durch sein Erscheinen nicht im Geringsten in Unruhe versetzt.

X

Als wir Wochen später an einem Abend, das Licht war bereits gelöscht, die Mikrophone aufbauten, gerieten diese Kühe in eine ziemliche Unruhe. Der Stall war von einem einzigen Gemuhe erfüllt. Dieses Muhen galt einzig dem Ungewohnten, jener Störung, die wir hineintrugen. Die Aufnahmegeräte standen in einem betonierten Vorraum, der zur Lagerung von Kraftfutter dient. Als wir uns einige Stunden später mit dem Bauern in diesem Raum trafen und abwechselnd den Kopfhörer aufsetzten, waren wir gleichermaßen von den Ruhegeräuschen der Kühe beeindruckt. Mich durchströmte ein wahres Glücksgefühl. Freilich ist es auch eine Frage der Technik, aber selbst der Bauer hatte das Gefühl, diese Geräusche noch nie in dieser Form wahrgenommen zu haben. Das Beispiel zeigt auch, die Anbindehaltung von Rindern setzt einen wesentlich höheren Zeitaufwand voraus. Allgemein wäre anzumerken, die Landwirtschaft benötigt nicht weniger, sondern mehr Menschen.

Text / Konzept: Bernhard Kathan
Tontechnik: Martin Lauterer
2010

Nachtrag
Die Klanginstallation wurde in unterschiedlicher Weise realisiert, im HIDDEN MUSEUM als Außenrauminstallation, tontechnisch betrachtet mit bester Wirkung. Da es sich um einen semiprivaten Raum handelt, hatten wir es durchwegs mit geladenen Gästen, zumeist Kunstinteressierten zu tun. Auf Einladung des MUSEUMs IN BEWEGUNG war die Klanginstallation auch in St. Antönien (Prättigau) in einem LKW-Auflieger ("Tricklaster") zu hören, der auf einem öffentlichen Parkplatz in der Mitte des Bergdorfes abgestellt war. Die Akustik im langgestreckten Raum des Aufliegers war wesentlich schlechter wie manches auf Grund der bescheidenen finanziellen Mittel nicht optimal gelöst werden konnte. Das Heu, welches freundlicherweise von einem Bauern zur Verfügung gestellt wurde, hatte wenig mit luftigem Bergheu gemein. Der auseinandergezettete Heuballen ließ mehr an Einstreu als an Heu denken, ein Grund, warum sich anders als gedacht niemand wirklich niederlegen wollte. Das Publikum war sehr inhomogenen, reichte von Kunstinteressierten über Kinder, die sich neugierig (ob von Eltern geschickt oder aus eigenem Antrieb vermag ich nicht zu sagen) in den LKW drängten, bis hin zu älteren Menschen.

Die räumlichen Bedingungen waren weder im HIDDEN MUSEUM noch in St. Antönien ideal. Zumeist waren andere zugegen, was eine gewisse Selbstkontrolle zur Folge hat und es erschwert, sich den Geräuschen wirklich zu überlassen. In St. Antönien hätte man einen besseren Standort finden müssen, einen Standort, der den Eintretenden die Sicherheit geboten hätte, dass sich innerhalb von zehn Minuten oder mehr niemand dem LKW nähern kann. Wie könnte man sich in einem Raum, der jederzeit von anderen betreten werden kann, wirklich niederlegen? Im HIDDEN MUSEUM hätte ich abwesend sein, den Raum wirklich anderen überlassen sollen. Die eigene Anwesenheit hat zumeist sofort Fragen und Erklärungen zur Folge. Man spricht über Anbindehaltung, Aufstallungen, über das Wiederkäuen, den Rindermagen etc. Das ist zwar auch nicht schlecht, verhindert aber, dass die Besucher sich auf das einlassen, was sie hören. Erklärungen wirken wir Plomben gegen jede Form der Irritation. Letztlich müsste man konsequent an Erfahrungsräumen arbeiten.

Foto: Bernhard Kathan